Wahrheit

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Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und
die Wahrheit wird euch frei machen.

Joh 8,32 LUT

Wahrheit (von idg. *wēr- „Vertrauen, Treue, Zustimmung“; lat. veritas; griech. ἀλήθεια Aletheia, aus α privativum und λῆθος, P.P.P. von λανθάνω, „verbergen“, bedeutet also wörtlich: „das Unverborgene“) ist ein philosophischer Grundbegriff, der aber von verschiedenen Denkern in zahlreichen Wahrheitstheorien sehr unterschiedlich gefasst wurde. Gemeinhin spricht man dann von Wahrheit, wenn eine Aussage bzw. ein Urteil mit einer vorliegenden Tatsache, d. h. mit der Realität oder Wirklichkeit, übereinstimmt (→ Korrespondenztheorie). Andernfalls liegt eine Unwahrheit vor, die auf einem unwissentlich begangenen Irrtum oder einer bewusst geäußerten Lüge beruhen kann.

„Die Wahrheit ist aber nichts, worüber man Meinungen haben kann. Eine Wahrheit weiß man, oder man weiß sie nicht. Es kann niemand sagen, daß die drei Winkel im Dreieck 725 Grad haben statt 180.“ (Lit.:GA 93, S. 108)

Was ist Wahrheit?

Nikolai Nikolajewitsch Ge: Was ist Wahrheit – Quid est veritas? (1890); Pontius Pilatus zu Jesus (Joh 18,38 LUT).

Wahrheitsgefühl

„Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühles, das, im stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.“

Die Frage des Pilatus

Solange die Menschen noch von der alten Götterweisheit, die sie hellsichtig empfangen hatten, zehren konnten, und sei es auch nur durch Überlieferung, solange brauchten sie die Frage nach der Wahrheit nicht zu stellen. Paulus, als er noch Saulus war, vertraute noch ganz auf diese alte Offenbarung. Ein letzter Rest dieser - mittlerweile freilich substanzlos gewordenen - Gesinnung lebt noch in dem 1870 festgeschriebenen Dogma der Päpstlichen Unfehlbarkeit für alle ex cathedra verkündigten Glaubens- und Sittenlehren. Quelle der Wahrheit ist hier nicht der Mensch, aber ein allmächtiger Gott kann nach dem Anspruch dieses Dogmas die Unfehlbarkeit eines Menschen, nämlich des Papstes, bewirken.

Pilatus, als er den Christus verhörte, konnte sich der Wahrheit nicht mehr sicher sein:

„33 Pilatus ging nun wieder hinein in das Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der König der Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du dies von dir selbst aus, oder haben dir andere von mir gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich etwa ein Jude? Deine Nation und die Hohen Priester haben dich mir überliefert. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht überliefert würde, jetzt aber ist mein Reich nicht von hier. 37 Da sprach Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, dass ich ein König bin. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme. 38 Pilatus spricht zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er dies gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und spricht zu ihnen: Ich finde keinerlei Schuld an ihm.“

Johannesevangelium: 18,33-38 ELB

Durch Luzifer war der Mensch in die irdisch-sinnliche Welt versetzt worden. Dadurch kam er zugleich immer mehr in den Einflussbereich Ahrimans und verfiel dem Irrtum und der Sünde.

„Dadurch, daß der Mensch verfrüht herunterversetzt worden ist in die irdische Sphäre, daß ihn seine irdischen Interessen und Begierden heruntergedrängt haben, dadurch kam es anders, wie es sonst gekommen wäre in der Mitte der atlantischen Zeit.

Dadurch haben sich hineingemischt in das, was der Mensch hat sehen und begreifen können, die ahrimanischen Geister, diejenigen Geister, die eben auch mit dem Namen mephistophelische Geister bezeichnet werden können. Dadurch verfiel der Mensch in Irrtum, verfiel in das, was man eigentlich erst die bewußte Sünde nennen könnte. Also von der Mitte der atlantischen Zeit an wirkt auf den Menschen die Schar der ahrimanischen Geister ein. Wozu hat nun diese Schar der ahrimanischen Geister sozusagen den Menschen verführt? Sie hat ihn dazu verführt, daß er das, was in seiner Umgebung ist, für stofflich, für materiell hält, daß er nicht durch dieses Stoffliche hindurchsieht auf die wahren Untergründe des Stofflichen, auf das Geistige. Würde der Mensch in jedem Stein, in jeder Pflanze und in jedem Tier das Geistige sehen, er würde niemals verfallen sein in Irrtum und damit in das Böse, sondern der Mensch würde, wenn nur die fortschreitenden Geister auf ihn gewirkt hätten, bewahrt geblieben sein vor jenen Illusionen, denen er immer verfallen muß, wenn er nur auf die Aussage der Sinneswelt baut.“ (Lit.:GA 107, S. 244ff)

Erst nachdem der Mensch gelernt hatte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, der aber eben auch durch den Einfluss Ahrimans dem Irrtum unterliegen kann, stellt sich immer wieder die Frage, die auch Pontius Pilatus stellen musste: „Was ist Wahrheit?“

„Unter den hebräischen Menschen gab es Schriftgelehrte, die aus der Schrift wußten, was da noch aufbewahrt worden war von der alten Götterweisheit her. Aus diesen Schriftgelehrten heraus entstand das Urteil, das den Christus Jesus zum Tode verurteilt hat. Solch ein Mensch wie Paulus, als er noch Saulus war, sieht also hinauf zu der Urgötterweisheit. Aus der strömt herunter bis zu den Schriftgelehrten seiner Zeit dasjenige, was diese Götterweisheit dem Menschen geworden ist. Indem hervorragende Menschen sich hingegeben haben dem Schrifttum, konnte diese Götterweisheit nur dazu führen, daß gerechte Urteile gesprochen wurden. Ein Unschuldiger, der zum Kreuzestod verurteilt wird: unmöglich, unmöglich! wenn sich alles so vollzog, wie es sich vollzogen hat bei der Verurteilung des Christus Jesus. Nur der römische Landpfleger Pontius Pilatus, der war schon instinktiv hineinverstrickt in eine ganz andere Weltanschauung, der konnte das inhaltsvolle Wort aussprechen: Was ist Wahrheit? - Für Paulus, als er noch Saulus war, war keine Möglichkeit, auch nur daran zu denken, daß das, was nach gerechtem Urteile sich vollzogen hat, nicht hätte Wahrheit sein sollen.

Zu welcher Überzeugung mußte sich denn Paulus durchringen? Zu der Überzeugung, daß bei den Menschen Irrtum sein kann dasjenige, was einmal von den Göttern als Wahrheit gekommen ist, daß die Menschen es haben zum Irrtume machen können, zu solch starkem Irrtum, daß der Schuldloseste durch den Kreuzestod geht.

Um ganz klar zu werden, machen wir uns davon eine schematische Zeichnung:

GA 211, S 118
GA 211, S 118

Ursprüngliche Götterweisheit, sie strömt herunter bis zu der Weisheit der Schriftgelehrten, die die Zeitgenossen des Mysteriums von Golgatha innerhalb des Hebräertums waren (weiß). Da kann nur die Wahrheit drinnen sein, so mußte Saulus denken. Aber man mußte anders denken. Paulus, als er noch Saulus war, sagte sich: Ist das wirklich der Christus, der Messias, der durch den Kreuzestod gegangen ist, so muß da drinnen in dieser Strömung (rot) Irrtum sein. Da muß Irrtum zugemischt sein der Wahrheit, denn der Irrtum muß es sein, der den Christus ans Kreuz gebracht hat; das heißt, die einstige Götter Wahrheit muß in den Menschen zum Irrtum geworden sein.

Selbstverständlich konnte der Saulus sich nur überzeugen durch die Tatsache, daß das so ist. Nur der Christus selbst konnte ihn überzeugen, wenn er ihm erschien, wie das durch das Ereignis von Damaskus geschehen ist. Was bedeutete das aber für den Saulus? Das bedeutete, daß eben nicht mehr die alte Götterweisheit war, sondern daß in diese das Ahrimanische hereingeströmt war.

So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des Irrtums auf der Erde ist.“ (Lit.:GA 211, S. 117ff)

Pilatus, als gebildeter Römer und typischer Repräsentant der Verstandes- und Gemütsseelen-Kultur, kann sich nicht mehr auf eine von außen gegebene göttlich-geistige Offenbarung berufen kann, sondern muss sich selbst zur Wahrheit durchringen. Wahrheit ist fortan ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das nur individuell errungen werden kann. Er kann dabei aber auch dem Irrtum unterliegen. Das ist der Preis, den der Mensch notwendig für seine Freiheit zahlen muss. Die Antwort auf seine Frage kann sich also Pilatus nur selbst und auf eigene Verantwortung geben.

„Nehmen wir an, bei der Verurteilung des Christus Jesus wurde eine Frage an den Christus Jesus gestellt, zum Beispiel ob er ein König von Gott gesandt sei — oder was immer, und er antwortete dem Fragenden: «Du sagst es!» Nun wird jeder sagen müssen, wenn er ehrlich nachdenkt und nicht nach der Professorenmethode der Gegenwart die Evangelien erklären will: eigentlich kann man mit dieser Antwort des Christus Jesus «Du sagst es!» keinen rechten Sinn verbinden, weder einen Gefühlssinn noch einen Verstandessinn. Denn nehmen wir die Sache von der Gefühlsseite, so müssen wir fragen, warum redet er so unbestimmt, daß man gar nicht erkennen kann, was er damit andeuten will? «Du sagst es!» Will er sagen: «das ist richtig», so hat es gar keinen Sinn; denn die Worte des Fragenden wollen keine Behauptung aussprechen, sondern eine Frage. Wie kann also das eine sinnvolle Antwort sein? Und wenn man die Sache von der Verstandesseite aus nimmt — wie kann man denken, daß der, der da vorgestellt werden muß im Besitze umfassender Weisheit, eine solche Formulierung seiner Antworten wählt? Wenn aber diese Worte so hingestellt werden, wie sie in der Akasha-Chronik stehen, geben sie einen ganz anderen Sinn. Denn in der Akasha-Chronik steht nicht «Du sagst es», sondern dort heißt es: «Dies dürftest nur du als Antwort geben!», das heißt, wenn wir es richtig verstehen: Auf deine Frage müßte ich eine Antwort geben, die niemals der Mensch in bezug auf sich geben darf, sondern die nur der, welcher ihm gegenübersteht, als Antwort geben kann. Ob es wahr ist oder nicht wahr ist, darüber kann ich nicht sprechen; die Anerkennung dieser Wahrheit liegt nicht an mir, sondern an dir. Du mußt es sagen; dann hätte es einzig und allein eine Bedeutung!“ (Lit.:GA 131, S. 109)

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben

Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt,
ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.

Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn,
und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin.

Ich breite die Arme aus, wie ER getan,
ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn.

Christian Morgenstern[2]

Die Antwort auf die Frage des Pilatus nimmt der Christus schon während des Letzten Abendmahls in seinen Abschiedsreden voraus, wie sie im Johannesevangelium überliefert sind, wenn er sagt: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben». Christus selbst ist die lebendige Wahrheit, zu der er auch den Weg bereitet - und dieser Weg führt durch den Christus zum Vater, d.h. in das innerste Zentrum und die eigentliche Quelle des höchsten Göttlichen. Indem sich der Mensch aus freiem Entschluss auf ganz individuelle Weise mit der Christuskraft durchdringt, im Sinne des Paulinischen Wortes «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20 LUT), lebt in ihm die Wahrheit.

Hans Holbein der Jüngere: Christus im Elend, 1519

„1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! 2 In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? 3 Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin. 4 Und wo ich hingehe, den Weg wisst ihr. 5 Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? 6 Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. 7 Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Und von nun an kennt ihr ihn und habt ihn gesehen. 8 Spricht zu ihm Philippus: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns. 9 Jesus spricht zu ihm: So lange bin ich bei euch und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater! Wie sprichst du dann: Zeige uns den Vater? 10 Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir? Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke. 11 Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir; wenn nicht, so glaubt doch um der Werke willen. 12 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater. 13 Und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun, damit der Vater verherrlicht werde im Sohn. 14 Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun.“

Johannesevangelium: 14,1-14 LUT

Der Ausspruch des Christus «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben» appelliert an das Richtung gebende menschliche Ich, die leiblichen Wesensglieder, also den Astralleib, den Ätherleib und zuletzt auch den physischen Leib, nach und nach zu den höheren geistigen Wesengliedern zu verwandeln, zu Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch:

„Christus sagt (Joh 14,6 EU): «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» Wo ist dieser Weg, der zur höchsten Gottheit führt durch Christus? Das «Ich bin» arbeitet am Astralleib und bildet daraus das Geistselbst, es arbeitet am Ätherleib und bildet daraus den Lebensgeist, es arbeitet am physischen Leib und bildet daraus den Geistesmenschen. Wenn das Menschen-Ich an ihm arbeitet, so wird also das Geistselbst herausgearbeitet, und in ihm entsteht dann der Lebensgeist. So kommt der Mensch zum wahren Leben. In dem «Ich bin» liegt der Weg zur Wahrheit und zum wahren Leben, weil das «Ich bin» die niederen Leiber durcharbeitet und das wahre Leben in ihnen entstehen läßt. Wir können dies so darstellen:

Ich bin der Weg die Wahrheit und das Leben
Richtung Geistselbst Lebensgeist Geistesmensch

Das «Ich bin» zeigt die Richtung, die der Mensch einschlagen muß, um Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch zur Entfaltung zu bringen.“ (Lit.:GA 100, S. 274)

Für den Menschen zunächst noch unbewusst, entfaltet das Ich seine Richtungskräfte bereits in den ersten drei Kindheitsjahren:

„In den ersten Lebensjahren lernt der Mensch physisch gehen aus dem Geiste heraus; das heißt der Mensch weist sich seinen Weg für das Erdenleben aus dem Geiste heraus. Er lernt sprechen, das heißt die Wahrheit prägen aus dem Geiste heraus, — oder mit anderen Worten: Der Mensch entwickelt das Wesen der Wahrheit aus dem Laute heraus in den ersten drei Jahren seines Lebens. Und auch das Leben, das der Mensch auf der Erde als Ich-Wesen lebt, das bekommt sein Lebensorgan durch das, was sich in den ersten drei Jahren der Kindheit ausbildet. So also lernt der Mensch leiblich gehen, das heißt «den Weg» finden, er lernt die «Wahrheit» durch seinen Organismus darstellen, und er lernt das «Leben» aus dem Geiste heraus im Leibe zum Ausdrucke bringen. Keine bedeutungsvollere Umprägung des Wortes: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnt ihr nicht in die Reiche der Himmel kommen» scheint denkbar. Und als ein bedeutsames Wort muß es gelten, daß die Ich-Wesenheit des Christus so zum Ausdrucke kommt: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!» Wie die höheren Geisteskräfte den Kindheitsorganismus — diesem unbewußt — so gestalten, daß er leiblich wird der Ausdruck für den Weg, die Wahrheit und das Leben, so wird der Menschengeist allmählich dadurch, daß er sich mit dem Christus durchdringt, bewußt der Träger des Weges, der Wahrheit und des Lebens. Er macht sich dadurch selbst im Laufe des Erdenwerdens zu jener Kraft, die im Kindheitsalter in ihm waltet, ohne daß er der bewußte Träger ist.

Solche Worte, wie die von dem Weg, der Wahrheit und dem Leben, sind geeignet, die Türen der Ewigkeit zu öffnen. Sie tönen dem Menschen aus seinen Seelengründen, wenn die Selbsterkenntnis eine wahre, wesenhafte wird.“ (Lit.:GA 15, S. 26f)

Ecce homo

In dem Christus Jesus ist die Wahrheit erstmals und in vollem Umfang leibhaftig Mensch geworden. Mit vollem Recht spricht Pilatus daher, als er den gegeißelten, blutüberströmten, in den purpurnen Königsmantel gehüllten und mit der Dornenkrone gekrönten Jesus Christus dem Volk präsentiert, sein Ecce homo (griech. Ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος idoù ho ánthropos „Siehe, der Mensch“) (Joh 19,5 ELB).

Die Wahrheit erkennen heißt deshalb: Christus erkennen! Jenen Christus, dessen Wesen die reine Liebe ist, die sich frei verschenkt und darum auch Freiheit schenkt. Und wo immer ein Stück der Wahrheit erkannt wird, wird auch der Christus erkannt.

„Wenn wir von »Wahrheit« reden, meinen wir damit einen allgemeinen Sinnverhalt, nämlich die Tatsache, daß wir irgend etwas im Lichte der ewigen Wesenheit erkennen. Johannes aber sagt im Prolog: Das ist ein bloßer Zwischengedanke, der nur bedingt gilt. Im Letzten ist die Wahrheit Er, der Logos; und Erkennen bedeutet im Letzen, den Logos, Christus zu erkennen und alle Dinge in Ihm.“ (Lit.: Guardini, S. 103f)

Und weil der Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist, ist auch die Wahrheit göttlich und menschlich zugleich.

Wahrheitstheorien

Hauptartikel: Wahrheitstheorie

Im Lauf der Philosophiegeschichte wurden verschiedene Wahrheitstheorien entwickelt. Nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die wichtigsten Ansätze:

Position Wahrheitsdefinition Wahrheitsträger Wahrheitskriterium
Ontologisch-metaphysische Korrespondenztheorie „Veritas est adaequatio intellectus et rei“
Wahrheit ist die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache
Denken Sachen in der Welt
Dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie Übereinstimmung zwischen Bewusstsein und objektiver Realität Bewusstsein (orthodoxer Marxismus)
oder Aussage (moderner Marxismus)
Praxis[3]
Logisch-empiristische Bildtheorie Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts Satzstruktur Struktur der Sachverhalte
Semantische Theorie der Wahrheit „x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p“ (Für „p“ ist eine beliebige Aussage, für „x“ ein beliebiger Eigennahmen dieser Aussage einzusetzen.) Satz (der Objektsprache) Diskursuniversum (der Objektsprache)
Falsifikationismus Ein konkreter Allgemeinsatz ist so lange wahr, bis er widerlegt wird. Konkrete Allgemeinsätze Falsifizierbarkeit
Redundanztheorie Der Begriff der Wahrheit wird nur aus stilistischen Gründen verwendet, oder um der eigenen Behauptung Nachdruck zu verleihen. Sätze
Performative Theorie das, was man tut, wenn man sagt, eine Aussage sei wahr Handlung / Sprechakt / Selbstverpflichtung eigenes Verhalten
Kohärenztheorie Widerspruchsfreiheit / Ableitungsbeziehungen einer Aussage zum System akzeptierter Aussagen Aussage Kein Widerspruch von Aussage und bereits akzeptiertem Aussage-System
Konsensustheorie diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch, der mit einem konstativen Sprechakt verbunden ist Aussage/Proposition[4] begründeter Konsens unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation[4]

Die Wahrheit ist ein freies schöpferisches Erzeugnis des Menschen

„Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Johannes-Evangelium: 8,31-32 LUT

Rudolf Steiners Wahrheitsbegriff deckt sich in ihrem wesentlichen Kern mit keiner der genannten Wahrheitstheorien, sondern ist auf die schöpferische Freiheit des individuellen Menschen gegründet.

Für Fichte, an den Rudolf Steiner in seiner Dissertation anknüpft, muss die Wahrheit „thätig und mit Freiheit hervorgebracht werden, durch Anstrengung und eigne Kraftanwendung“[5] und besteht letztlich darin, mit sich selbst übereinstimmend zu denken.

„Die Frage ist ja gar nicht, ob wir mit andern, sondern ob wir mit uns selbst übereinstimmend denken. Ist das letztere, so können wir des erstern ohne unser Zuthun, und ohne erst die Stimmen zu sammeln, bey allen denen gewiß seyn, die mit sich selbst in Übereinstimmung stehen; denn das Wesen der Vernunft ist in allen vernünftigen Wesen Eins, und eben dasselbe. Wie andre denken, wissen wir nicht, und wir können davon nicht ausgehen. Wie wir denken sollen, wenn wir vernünftig denken wollen, können wir finden; und so, wie wir denken sollen, sollen alle vernünftige Wesen denken. Alle Untersuchung muß von innen heraus, nicht von aussen herein, geschehen. Ich soll nicht denken, wie andre denken; sondern wie ich denken soll, so, soll ich annehmen, denken auch andre. – Mit denen übereinzustimmend zu seyn, die es mit sich selbst nicht sind, wäre das wohl ein würdiges Ziel für ein vernünftiges Wesen?“

Johann Gottlieb Fichte: Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit[6]

Wahrheit ist ein freies Erzeugnis des Menschengeistes

Wahrheit ist nach Rudolf Steiner nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas frei und individuell durch das Ich zu Schaffendes. Aufgabe der Erkenntnis sei es nicht, etwas anderwärts schon Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die, ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergäbe. Diesen Standpunkt hat Steiner bereits in seinem philosophischen Grundlagenwerk «Wahrheit und Wissenschaft» (1892) vertreten:

„Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.“ (Lit.:GA 3, S. 11f)

Rudolf Steiner sieht sich damit im Einklang mit Goethe:

„Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei verschiedenen Menschen. Für diejenigen, welche nicht an die objektive Natur der Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr, dem Menschen das Vermögen abzusprechen, in das Wesen der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen der Dinge sein, was dem einen so, dem andern anders erscheint. Für denjenigen, der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt aus der Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, dass die Natur ihren reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann. Dem einzelnen Menschen erscheint die Wahrheit in einem individuellen Kleide. Sie passt sich der Eigenart seiner Persönlichkeit an. Besonders für die höchsten, dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigen, intimsten Erlebnisse auf die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste seiner Persönlichkeit. Es gibt auch allgemeingültige Wahrheiten, die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu geben. Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der bei allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goethes Meinung. Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner Oberfläche zeigen kann. «Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht», sagt Goethe. Er schätzt keine Theorie, die ein für allemal abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die der Geist des einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die Anschauungen zusammenfasst.“ (Lit.:GA 6, S. 65f)

Die „eine einzige Wahrheit“ kann sich nur auf das Vergangene, Gewordene, Tote beziehen - und versagt gegenüber dem Lebendigen.

„Dasjenige, was in dem gewöhnlichen Sinne des physischen Planes als wahr gilt, das kann sich im Grunde genommen, wenn wir unter Wahrheit verstehen, die Übereinstimmung mit dem, was schon ist, nur auf das Vergangene, das heißt auf das Notwendige beziehen. Was im lebendigen Entstehen ist, das müssen wir immer produzieren. Darinnen müssen wir leben. Darinnen müssen wir uns gerade aus dem Notwendigen herausfließende, lebendige Begriffe aneignen gegenüber dem Lebendigen. Da können wir nicht auf etwas, womit der Begriff übereinstimmt, hinschauen, sondern nur in dem Begriff selber leben.“ (Lit.:GA 163, S. 88)

Ganz deutlich betonte Rudolf Steiner diesen schöpferischen Charakter des Erkennens auch in dem Ausblick, mit dem seine 1900 veröffentlichen „Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert“ ausklingen, die später zu „Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt“ (GA 18) erweitert wurden:

„Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.“ (Lit.: Rudolf Steiner: Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1900, S. 188)

Schon in den «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften» hatte Rudolf Steiner geschrieben, dass der Mensch zwangsläufig einen offenbaren oder verhüllten Anthropomorphismus in seine Erkenntnistätigkeit hineinträgt, ja, dass dadurch, wenn es in richtiger Weise geschieht, überhaupt erst Erkenntnis möglich wird. Er entfernt sich dadurch keineswegs von der Wirklichkeit, die grundsätzlich nur in einem Subjekt und Objekt übergreifenden Prozess zu erreichen ist:

„Der Mensch muß die Dinge aus seinem Geiste sprechen lassen, wenn er ihr Wesen erkennen will. Alles, was er über dieses Wesen zu sagen hat, ist den geistigen Erlebnissen seines Innern entlehnt. Nur von sich aus kann der Mensch die Welt beurteilen. Er muß anthropomorphisch denken. In die einfachste Erscheinung, z. B. in den Stoß zweier Körper bringt man einen Anthropomorphismus hinein, wenn man sich darüber ausspricht. Das Urteil: «Der eine Körper stößt den andern», ist bereits anthropomorphisch. Denn man muß, wenn man über die bloße Beobachtung des Vorganges hinauskommen will, das Erlebnis auf ihn übertragen, das unser eigener Körper hat, wenn er einen Körper der Außenwelt in Bewegung versetzt. Alle physikalischen Erklärungen sind versteckte Anthropomorphismen. Man vermenschlicht die Natur, wenn man sie erklärt, man legt die inneren Erlebnisse des Menschen in sie hinein. Aber diese subjektiven Erlebnisse sind das innere Wesen der Dinge. Und man kann daher nicht sagen, daß der Mensch die objektive Wahrheit, das «An sich» der Dinge nicht erkenne, weil er sich nur subjektive Vorstellungen über sie machen kann.[7] Von einer andern als einer subjektiven menschlichen Wahrheit kann gar nicht die Rede sein. Denn Wahrheit ist Hineinlegen subjektiver Erlebnisse in den objektiven Erscheinungszusammenhang. Diese subjektiven Erlebnisse können sogar einen ganz individuellen Charakter annehmen. Sie sind dennoch der Ausdruck des inneren Wesens der Dinge. Man kann in die Dinge nur hineinlegen, was man selbst in sich erlebt hat. Demnach wird auch jeder Mensch, gemäß seinen individuellen Erlebnissen etwas in gewissem Sinne anderes in die Dinge hineinlegen. Wie ich mir gewisse Vorgänge der Natur deute, ist für einen andern, der nicht das gleiche innerlich erlebt hat, nicht ganz zu verstehen. Es handelt sich aber gar nicht darum, daß alle Menschen das gleiche über die Dinge denken, sondern nur darum, daß sie, wenn sie über die Dinge denken, im Elemente der Wahrheit leben. Man kann deshalb die Gedanken eines andern nicht als solche betrachten und sie annehmen oder ablehnen, sondern man soll sie als die Verkünder seiner Individualität ansehen. «Diejenigen, welche widersprechen und streiten, sollten mitunter bedenken, daß nicht jede Sprache jedem verständlich sei» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 355). Eine Philosophie kann niemals eine allgemeingültige Wahrheit überliefern, sondern sie schildert die inneren Erlebnisse des Philosophen, durch die er die äußeren Erscheinungen deutet.

Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluß des äußeren Objektiven und des inneren Subjektiven zustande. Weder durch einseitiges Beobachten, noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Die objektiven Dinge sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Wer ausschließlich die sinnliche Erfahrung anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist» (Natw. Schr., 4. Bd., 2. Abt., S. 503). «Alles Faktische ist schon Theorie», d. h. es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Ideelles, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen läßt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt erhält, oder Verstandeshypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker sowohl wie der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges, wie auch die Hypothesen über ein solches ab, und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht.“ (Lit.:GA 1, S. 335ff)

Hier macht Steiner auch deutlich, dass die verschiedenen Perspektiven, durch die sich die Wahrheit jeweils in ganz individueller Form zeigt, durch die Verschiedenheit der Verstandeswelten bedingt ist. Der Verstand zerschneidet gleichsam die Wiklichkeit auf ganz individuelle Weise in Begriffe. Die Vernunft fügt sie (im Idealfall) wieder zu den der Sache angemessenen Ideen zusammen:

„Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinander zu halten; und die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, dass der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist ersichtlich, dass die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern, dass ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, dass meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen sind.

Zeichnung aus GA 1, S. 173
Zeichnung aus GA 1, S. 173

Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt (Figur 1). Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3.

Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen haben.“ (Lit.:GA 1, S. 172f)

In seinen «Goethe-Studien» schreibt Steiner:

„Was aus dem menschlichen Geiste entspringt, wenn dieser sich beobachtend und denkend der Außenwelt gegenüberstellt, ist die Wahrheit. Der Mensch kann keine andere Erkenntnis verlangen als eine solche, die er selbst hervorbringt. Wer hinter den Dingen noch etwas sucht, das deren eigentliches Wesen bedeuten soll, der hat sich nicht zum Bewußtsein gebracht, daß alle Fragen nach dem Wesen der Dinge nur aus einem menschlichen Bedürfnisse entspringen: das, was man wahrnimmt, auch mit dem Gedanken zu durchdringen. Die Dinge sprechen zu uns, und unser Inneres spricht, wenn wir die Dinge beobachten. Diese zwei Sprachen stammen aus demselben Urwesen, und der Mensch ist berufen, deren gegenseitiges Verständnis zu bewirken. Darin besteht das, was man Erkenntnis nennt. Und dies und nichts anderes sucht der, der die Bedürfnisse der menschlichen Natur versteht. Wer zu diesem Verständnisse nicht gelangt, dem bleiben die Dinge der Außenwelt fremdartig. Er hört aus seinem Innern das Wesen der Dinge nicht zu sich sprechen. Deshalb vermutet er, daß dieses Wesen hinter den Dingen verborgen sei. Er glaubt an eine Außenwelt noch hinter der Wahrnehmungswelt. Aber die Dinge sind uns nur so lange fremd, solange wir sie bloß beobachten. Für den Menschen besteht nur so lange der Gegensatz von objektiver äußerer Wahrnehmung und subjektiver innerer Gedankenwelt, als er die Zusammengehörigkeit dieser Welten nicht erkennt. Die menschliche Innenwelt gehört als ein Glied zum Weltprozeß wie jeder andere Vorgang.

Diese Gedanken werden nicht widerlegt durch die Tatsache, daß verschiedene Menschen sich verschiedene Vorstellungen von den Dingen machen. Auch nicht dadurch, daß die Organisationen der Menschen verschieden sind, so daß man nicht weiß, ob eine und dieselbe Farbe von verschiedenen Menschen in der ganz gleichen Weise gesehen wird. Denn nicht darauf kommt es an, ob sich die Menschen über eine und dieselbe Sache genau das gleiche Urteil bilden, sondern darauf, ob die Sprache, die das Innere des Menschen spricht, eben die Sprache ist, die das Wesen der Dinge ausdrückt. Die einzelnen Urteile sind nach der Organisation des Menschen und nach dem Standpunkte, von dem aus er die Dinge betrachtet, verschieden; aber alle Urteile entspringen dem gleichen Elemente und führen in das Wesen der Dinge. Dieses kann in verschiedenen Gedankennuancen zum Ausdruck kommen; aber es bleibt deshalb doch das Wesen der Dinge. Der Mensch ist das Organ, durch das die Natur ihre Geheimnisse enthüllt. In der subjektiven Persönlichkeit erscheint der tiefste Gehalt der Welt.“ (Lit.:GA 30, S. 203f)

Weiter heißt es:

„Wenn ein Ding durch das Organ des menschlichen Geistes seine Wesenheit ausspricht, so kommt die volle Wirklichkeit nur durch den Zusammenfluß von Beobachtung und Denken zustande. Weder durch einseitiges Beobachten noch durch einseitiges Denken erkennt der Mensch die Wirklichkeit. Diese ist nicht als etwas Fertiges in der objektiven Welt vorhanden, sondern wird erst durch den menschlichen Geist in Verbindung mit den Dingen hervorgebracht. Wer ausschließlich die Erfahrung anpreist, dem muß man mit Goethe erwidern, «daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist». «Alles Faktische ist schon Theorie» (Sprüche in Prosa), das heißt, es offenbart sich im menschlichen Geiste ein Gesetzliches, wenn er ein Faktisches betrachtet. Diese Weltauffassung, die in den Ideen die Wesenheit der Dinge erkennt und die Erkenntnis auffaßt als ein Einleben in das Wesen der Dinge, ist nicht Mystik. Sie hat aber mit der Mystik das gemein, daß sie die objektive Wahrheit nicht als etwas in der Außenwelt Vorhandenes betrachtet, sondern als etwas, das sich im Innern des Menschen wirklich ergreifen laßt. Die entgegengesetzte Weltanschauung versetzt die Gründe der Dinge hinter die Erscheinungen, in ein der menschlichen Erfahrung jenseitiges Gebiet. Sie kann nun entweder sich einem blinden Glauben an diese Gründe hingeben, der von einer positiven Offenbarungsreligion seinen Inhalt enthält, oder Verstandes-Hypothesen und Theorien darüber aufstellen, wie dieses jenseitige Gebiet der Wirklichkeit beschaffen ist. Der Mystiker wie auch der Bekenner der Goetheschen Weltanschauung lehnen sowohl den Glauben an ein Jenseitiges wie auch die Hypothesen über ein solches ab und halten sich an das wirkliche Geistige, das sich in dem Menschen selbst ausspricht.“ (Lit.:GA 30, S. 204f)

Wahrheitssinn

Jeder Mensch verfügt über einen Wahrheitssinn, mit dem er die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse auffassen und mit unbefangener Logik auch folgerichtig verstehen und prüfen kann.

„Jede Seele ist in sich selber veranlagt, wenn sie sich auch noch nicht dem gekennzeichneten einsamen Ringen hingegeben hat, durch eine unbefangene Logik und durch einen gesunden Wahrheitssinn in sich aufzunehmen, was von der Geisteswissenschaft mitgeteilt wird. Wenn auch ganz gewiß zugegeben werden muß, daß im weitesten Umkreis, in dem heute dieses oder jenes von der Geisteswissenschaft getrieben wird, bei der Aufnahme der Mitteilungen der Geistesforschung nicht überall dieser gesunde Wahrheitssinn und diese gesunde Logik herrschen, so ist das ein Mangel einer jeden Geistesbewegung. Im Prinzip ist es aber durchaus richtig, was gesagt ist. Ja, im Prinzip sollte sogar beachtet werden, daß es zu Irrtümern über Irrtümern führen muß, wenn leichten Herzens und mit einem blinden Glauben das entgegengenommen wird, was so oft heute als Geisteswissenschaft an die Menschheit herangebracht wird. Wer wirklich auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, fühlt sich in strenger Art verpflichtet, logisch und vernunftgemäß das mitzuteilen, was er zu sagen hat, so daß es wirklich von einem gesunden Wahrheitssinn und von aller Logik geprüft werden kann.“ (Lit.:GA 60, S. 18f)

Subjekt und Objekt

Johann Wolfgang Goethe
Vermächtnis

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebendgen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn,

Sofort nun wende dich nach innen:
Das Zentrum findest du da drinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig
Und wandle sicher wie geschmeidig,
Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen;
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendige
Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.

Und wie von alters her, im stillen,
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf. [8]

Tatsächlich lässt sich der Begriff der Wahrheit nur im Subjekt und Objekt übergreifenden, individuellen Bezug auf die Wirklichkeit sinnvoll formulieren, womit aber nicht notwendigerweise ein willkürlicher Relativismus begründet wird. Vielmehr geht es darum, den subjektiven Standpunkt, von dem aus man die objektive Welt betrachtet, ganz bewusst in die Wahrheitsfindung miteinzubeziehen. Das betonte auch der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel in seinem Buch «Der Blick von nirgendwo»:

„Wie ist die subjektive Perspektive einer einzelnen und besonderen Person in der Welt mit einer objektiven Auffassung von ebendieser Welt zu vermitteln, welche die Person und ihren Srnndpunkt einschließt? Vor dieses Problem sieht jedes Wesen sich gestellt, das den Impetus und das Vermögen besitzt, seine je eigene Perspektive zu transzendieren und das Weltgeschehen als ein Ganzes zu begreifen...

Die Schwierigkeit einer Vermittlung der beiden Standpunkte stellt sich im konkreten Leben wie im Denken. Sie erweist sich als die Schlüsselfrage für die Moral, die Erkenntnis, die Freiheit, die Subjektivität und die Beziehung des Psychischen zur materiellen Welt.“ (Lit.: Nagel, S. 11)

Die Problematik, dass sich das beobachtete Objekt nicht von den subjektiven Voraussetzungen der Beobachtung trennen lässt, drängte sich insbesondere in der modernen Quantenphysik auf. Der Quantenchemiker Hans Primas schreibt dazu:

„In der von René Descartes (1596 - 1650) begründeten Philosophie zerlegt das Subjekt die Welt in einfache Sachverhalte und betrachtet die objektive Welt einfach als Summe dieser elementaren Sachverhalte. Dagegen steht in der Quantenmechanik so etwas wie ein «Ding an sich» nicht mehr zur Diskussion. Ein Subjekt ist ein Subjekt, weil es in Relation zu einem Objekt steht. Ein Objekt ist ein Objekt, weil es in Relation zu einem Subjekt steht. Das bisher übliche Kompartimentalisierungsdenken muß aufgegeben werden. Die Quantenmechanik beschreibt die materielle Welt primär als ein unteilbares Ganzes; das Heraustrennen einzelner Objekte bedarf einer Rechtfertigung, welche prinzipiell außerhalb der Prinzipien der Quantenmechanik liegt.

In jeder ganzheitlichen Theorie kann man über ein Phänomen in Klarheit und Deutlichkeit nur sprechen, wenn man zugleich den Kontext angibt, von dem aus es bestimmt ist. Isolierte «Fakten» beweisen wenig, sie erlangen ihren Beweiswert erst durch die Angabe des Kontexts, in dem sie beobachtet wurden. Jeder Kontext hat seine implizierten Vorgaben, die wir als Bezugspunkte zur Beschreibung der Natur auswahlen. Entscheidet man sich für andere Vorgaben, so wählt man einen anderen Kontext mit anderer Perspektive, so daß die Natur anders gesehen wird.“ (Lit.: Primas, S. 114f.)

Ähnlich dachte schon Johann Wolfgang von Goethe:

„In monumentaler Weise hat Goethe den Gesichtspunkt der höchsten Erkenntnis in den Worten angedeutet:

«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»[9]

Jeder hat seine eigene Wahrheit: weil jeder ein individuelles, besonderes Wesen neben und mit anderen ist. Diese anderen Wesen wirken auf ihn durch seine Organe. Von dem individuellen Standpunkte aus, auf den er gestellt ist, und je nach der Beschaffenheit seines Wahrnehmungsvermögens bildet er sich im Verkehr mit den Dingen seine eigene Wahrheit. Er gewinnt sein Verhältnis zu den Dingen. Tritt er dann in die Selbsterkenntnis ein, lernt er sein Verhältnis zu sich selbst kennen, dann löst sich seine besondere Wahrheit in die allgemeine Wahrheit auf; diese allgemeine Wahrheit ist in allen dieselbige.

Das Verständnis für die Aufhebung des Individuellen, des einzelnen Ich zum All-Ich in der Persönlichkeit betrachten tiefere Naturen als das im Innern des Menschen sich offenbarende Geheimnis, als das Ur-Mysterium des Lebens. Auch dafür hat Goethe einen treffenden Ausspruch gefunden: «Und so lang du das nicht hast,dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.»

Nicht eine gedankliche Wiederholung, sondern ein reeller Teil des Weltprozesses ist das, was sich im menschlichen Innenleben abspielt. Die Welt wäre nicht, was sie ist, wenn sich das zu ihr gehörige Glied in der menschlichen Seele nicht abspielte. Und nennt man das höchste, das dem Menschen erreichbar ist, das Göttliche, dann muß man sagen, daß dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist, um bildlich im Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern daß dieses Göttliche im Menschen erweckt wird. Dafür hat Angelus Silesius die rechten Worte gefunden: «Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.» «Gott mag nicht ohne mich ein einzig's Würmlein machen: erhalt' ich's nicht mit ihm, so muß es stracks zerkrachen.» Eine solche Behauptung kann nur der machen, welcher voraussetzt, daß im Menschen etwas zum Vorschein kommt, ohne welches ein äußeres Wesen nicht existieren kann. Wäre alles, was zum «Würmlein» gehört, auch ohne den Menschen da, dann könnte man unmöglich davon sprechen, daß es «zerkrachen» müßte, wenn der Mensch es nicht erhielte.

Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes.“ (Lit.: GA 7, S. 33f)

Oder wie es Johannes Scottus Eriugena mit dem Hinweis auf Dionysius Areopagita ausdrückt:

„Denn die Gedanken der Dinge sind wahrhaft die Dinge selbst, wie der heilige Dionysius sagt: „die Erkenntnis des Seienden ist das Seiende selbst;“ aber ihre uranfänglichen Ursachen und Gründe werden durch Denktätigkeit, nicht durch die Dinge selbst zur Vereinigung geführt.“

Johannes Scottus Eriugena: Über die Einteilung der Natur[10]

Die Subjekt-Objekt-Spaltung, ohne die unser Ich-Bewusstsein nicht möglich wäre, durch die sich aber die Wahrheit zunächst unter dem Schleier der Objekte verhüllt, wird durch das Ich auf jeweils individuelle Weise hervorgerufen und kann auch nur durch das individuelle Ich wieder enthüllt werden. Indem im Erkenntnisakt die Wahrheit aufleuchtet, wird die durch unser Ich-Bewusstsein aufgerissene Kluft zwischen Ich und Welt wieder überwunden.

Mit dem an Sinne gebundenen Verstand stehen wir den Dingen gegenüber, wir sind von ihnen getrennt. Wir sehen sie nur von außen und sie bleiben uns dadurch letztlich fremd. So ist es nicht in der wahren Erkenntnis, wie auch die Gnostiker betonen. Hier ist die Trennung aufgehoben. Wir werden selbst, was wir erkennen - und darum ist diese Subjekt und Objekt übergreifende Erkenntnis zugleich immer auch wahre Selbsterkenntnis. Im apokryphen valentinianischen Philippusevangelium heißt es entsprechend:

„Niemand kann etwas Unvergängliches wahrnehmen, außer er wird selbst unvergänglich.

Es ist mit der Wahrheit nicht so wie auf der Welt, wo der Mensch die Sonne sieht, ohne selbst Sonne zu sein, wo er den Himmel sieht und die Erde und alles Übrige, ohne selbst Himmel, Erde und dergleichen zu sein. Sondern im Reich der Wahrheit siehst du etwas von ihr und wirst selbst zu ihr. Du siehst den Geist und wirst selbst zu Geist. Du siehst Christus: du wirst Christus. Du siehst den Vater: du wirst zum Vater. Hier auf dieser Welt also siehst du alle Dinge, siehst aber dich selbst nicht. In der anderen Welt jedoch siehst du dich selbst. Denn was du dort siehst, das wirst du selbst.“

Philippusevangelium: Spruch 44 [11]

Oder wie es der österreichische Arbeiterdichter Alfons Petzold poetisch ausdrückte:

ICH BIN DIE WELT

Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.

Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.

Alfons Petzold: Pfad aus der Dämmerung, Wien 1947

Die lebendige Wahrheit lebt im Ätherleib

Mit dem an das Werkzeug des physischen Gehirns gebundenen Verstandesdenken lassen sich nur tote Wahrheiten erfassen, die sich auf das bereits Gewordene beziehen, das bereits mehr oder weniger fertig in der Welt vorhanden ist. Zwar lassen sich auf diese Weise mannigfaltigste gesetzmäßige Beziehungen zwischen den einzelnen Erscheinungen der gewordenen Welt erhellen und in logisch zusammenhängender Weise darstellen, was durchaus zur Erkenntnis der physischen Welt notwendig ist, doch bleibt die Erkenntnis dennoch unvollständig, solange das heute fertig Gewordene nicht in seinem ursprünglichen Werden, aus dem es einst hervorgegangen ist, erfasst wird. Zwar lassen sich mit dem Verstandesdenken auch Veränderungen des bereits Gewordenen, das durchaus nicht starr und unveränderlich gedacht werden muss, beschreiben, in dem sie auf das gesetzmäßige Zusammenwirken einzelner Teilelemente des Gewordenen bezogen werden, doch ist damit das eigentliche lebendige Werden noch nicht erfasst. Man bleibt immer noch bei der bloßen Kombination fertiger toter Elemente stehen. Wahres Werden ist erst dort gegeben, wo etwas völlig Neues, zuvor noch nicht Vorhandenes und auch nicht aus bereits Vorhandenem Ableitbares gleichsam aus dem Nichts entsteht. Solange das lebendige Werden nicht begriffen wird, bleibt auch das Gewordene seinem eigentlichen Ursprung nach unverständlich, so wie der Leichnam unverständlich bleibt, solange er nicht als das Ergebnis eines ehemals Lebendigen erkannt wird. Die volle Wahrheit, die das lebendige Werden mit umfasst, kann erst durch die lebendige Tätigkeit des Ätherleibs ergriffen werden:

„Indem die Wahrheit in Form der Gedanken im Menschen lebt, lebt sie im ätherischen Leib. Wahrheit erfaßt unmittelbar den Ätherteil des Kopfes und überträgt sich da natürlich als Wahrheit auf den physischen Teil des Kopfes.“ (Lit.: GA 170, S. 72)

„Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib losbekommt vom physischen Leibe. Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine Denken. Derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, sondern ein von sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Denken. Aber derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon hellsehend, denn der reine Gedanke kann nur im Ätherleibe gefaßt werden.“ (Lit.: GA 176, S. 116)

„Weil der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht so untertaucht in seinen Ätherleib, kommt ihm die Wahrheit als etwas Fertiges vor. Das ist gerade das Bestürzende, das Überraschende der Initiation, daß man beginnt, die Wahrheit, wie sie da hineinpulst in den Ätherleib, als etwas ebenso Freies zu empfinden, wie man sonst das Hereinpulsieren der Moralität empfindet oder der Schönheit in den astralischen Leib. Das ist dieses Bestürzende, Überraschende aus dem Grunde, weil es den Menschen, der irgendeine Initiation durchgemacht hat, in ein viel freieres Verhältnis zur Wahrheit bringt, und dadurch in ein viel verantwortungsvolleres Verhältnis zur Wahrheit. Tritt die Wahrheit ganz unbewußt in uns herein, dann ist sie fertig, und dann sagen wir einfach mit der gewöhnlichen Logik: das ist wahr, das ist unwahr. Dann hat man ein viel geringeres Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit, als wenn man weiß, daß die Wahrheit geradeso im Grunde abhängig ist von tiefliegenden Sympathie- und Antipathiegefühlen wie die Moralität und wie die Schönheit, so daß man ein gewisses freies Verhältnis zur Wahrheit hat. Hier liegt ein subjektives Mysterium vor, das sich darin äußert, daß manche, die nicht in richtiger, würdiger Weise sich dem Erlebnis der Initiation nähern, an ihrem Wahrheitsgefühl nicht so gewinnen, daß sie ein größeres Verantwortlichkeitsgefühl, das sie gegenüber der aufgezwungenen Wahrheit haben, verlieren und in ein gewisses unwahres Element hineinkommen.“ (Lit.: GA 170, S. 72f)

Der Ursprung der Wahrheit auf der alten Sonne

Wahrheit, Schönheit und Güte sind die drei großen Tugenden des Eingeweihten, der in dieser Beziehung nur den anderen Menschen beispielgebend voranschreitet, damit sie sich diese Tugenden auch einmal im vollen Umfang erwerben. Die Anlage zu diesen Tugenden haben wir bereits in der Vergangenheit zu suchen, allerdings sind sie sehr unterschiedlichen Alters. Da die Wahrheit im Ätherleib lebt, müssen wir ihren Ursprung dort suchen, wo der Ätherleib des Menschen entstanden ist. Die erste Anlage des menschlichen Ätherleibs wurde auf der alten Sonne als Gabe der Geister der Weisheit gebildet. Damals wurde auch die Wahrheit veranlagt und sie ist damit die älteste der drei genannten Tugenden; die Schönheit geht auf das alte Mondendasein zurück, wo sich zugleich die Wahrheit weiter bis zur Weisheit geläutert hat, und der Sinn für das Gute wird erst auf der Erde entwickelt:

„So steht der Mensch zum Wahren, Schönen, Guten. Im Wahren öffnet er seinen Ätherleib, zunächst den Ätherteil des Kopfes, unmittelbar dem Kosmos. Im Schönen öffnet er seinen astralischen Leib unmittelbar dem Kosmos. In der Moralität öffnet er unmittelbar sein Ich dem Kosmos. Im Wahren - wir werden diese Dinge morgen weiter ausführen und dann auch die Gesetze des Lebens zwischen Geburt und Tod und auch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt anführen -, im Wahren haben wir etwas, was am längsten schon vorbereitet ist für den Menschen. Im Schönen haben wir etwas, was verhältnismäßig kürzer vorbereitet ist; und im Moralischen haben wir etwas, was erst jetzt auf der Erde seinen Anfang nimmt. Was in der Wahrheit lebt, die sich zur Weisheit läutert, nimmt eigentlich schon während der Sonnenentwickelung seinen ersten Anfang, hat dann in einer gewissen Weise seinen Höhepunkt in der Mondenentwickelung, lebt sich weiter ein in der Erdenentwickelung, und wird im wesentlichen schon vollendet sein bei dem, was wir als die Jupiterentwickelung kennen. Da wird das menschliche Wesen mit Bezug auf den Inhalt der Weisheit einen gewissen vollen Abschluß erlangt haben. Schönheit - was eine sehr innerliche Sache für den Menschen ist - nimmt ihren Anfang während der Mondenentwickelung, setzt sich während der Erdenentwickelung fort, wird den Abschluß erlangen während der Venusentwickelung, was wir die Venusentwickelung nennen.“ (Lit.:GA 170, S. 74)

„Wenn wir den Menschen so betrachten, wie er heute auf der Erde lebt, so steckt ja, man könnte sagen, samenhaft in ihm schon das, was während der Jupiter-, während der Venus-, während der Vulkanperiode sich entwickeln wird. Aber ebenso ist der Mensch ein Ergebnis der Saturn-, Sonnen-, Monden-, Erdensphäre. Ich sagte gestern: Das Weisheitliche, das Wahrheitsmäßige ist schon auf der Sonne veranlagt und wird auf dem Jupiter abgeschlossen sein. Wollen wir uns das auch einmal graphisch darstellen.

Zeichnung aus GA 170, S 88
Zeichnung aus GA 170, S 88

Für die Keimanlage auf der Sonne wird auf dem Jupiter ein gewisser Abschluß erreicht sein; so daß wir also sagen können: Von der Sonne zum Jupiter ist die eigentliche Entwickelung der Wahrheit; sie wird auf dem Jupiter ganz innerlich geworden sein; dann wird sie eben ganz Weisheit sein: Wahrheit wird Weisheit!

Auf dem Mond beginnt dann dasjenige, was die ästhetische Sphäre enthält. Das wird abgeschlossen sein auf der Venus. Wir können das etwa so zeichnen: Mond, abgeschlossen Venus; wir haben also hier die Entwickelung der Schönheit. Sie sehen, das greift über.

Eigentlich ruht das alles in unseren Untergründen, im Unterbewußten, was in diesen zwei Strömungen, und auch noch in der dritten enthalten ist; denn während der Erdenentwickelung beginnt nun das, was wir nennen können die Moralitätssphäre. Sie erreicht ihren Abschluß auf dem Vulkan. Wir haben also eine dritte Strömung, wiederum übergreifend: die Strömung der Moralität. Dazu haben wir noch eine vierte Strömung, die abgeschlossen sein wird, wenn einmal die Erde am Ziel ihrer Entwicklung angelangt sein wird. Mit der Erde beginnt die Moralität. Aber sie schließt eine höhere Ordnung wiederum ab, eine Ordnung, die schon begonnen hat am Saturn; so daß wir nun eine Ordnung, eine Strömung haben vom Saturn zur Erde, und diese wird nun genannt: Gerechtigkeit, in dem Sinne, wie ich früher das Wort erklärt habe. Sie wissen, daß auf dem Saturn die Sinne zuerst veranlagt wurden. Diese Sinne würden den Menschen nach allen Richtungen zerstreuen. Sie wissen, zwölf Sinne unterscheiden wir - der Sinn würde, indem er sich entwickelt durch Sonne, Mond und Erde, den Menschen zur Orientierung, zur Gerechtigkeit tragen, wo auch die moralische Gerechtigkeit dann, wenn sie von der Moralnatur der Erde erfaßt wird, erst eingeschlossen wird; moralische Gerechtigkeit ist erst auf der Erde vorhanden. Was da innerlich wirkt dem Peripherischen der Sinne gegenüber als Zentralisches, das ist die Sphäre oder Strömung der Gerechtigkeit.“ (Lit.:GA 170, S. 88f)

Auf der alten Sonne konnte die Wahrheit vom Menschen noch nicht individuell erfasst werden, ebensowenig auf dem alten Mond die Weisheit, die sich dort entwickelt hat. Das konnte erst auf der Erde beginnen, seit der Mensch hier sein Ich entwickelt. Seit dem tritt zur göttlichen Weisheit die individuelle menschliche hinzu.

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweis

  1. Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 18, Berlin 1960 ff, S. 564 Betrachtungen im Sinne der Wanderer. In: Zeno.org.
  2. Christian Morgenstern: Wir fanden einen Pfad, Piper, München 1914, S. 52
  3. Artikel „Wahrheit“. In: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. 11. Aufl., Leipzig 1975.
  4. 4,0 4,1 Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Helmut Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Neske, Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 249: „Nur Aussagen können wahr oder falsch sein.“
  5. Johann Gottlieb Fichte: Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit. In: Johann Gottlieb Fichte: Werke. Bd. 8, S. 351
  6. Johann Gottlieb Fichte: Über Belebung und Erhöhung des reinen Interesses für Wahrheit
  7. Goethes Anschauungen stehen in dem denkbar schärfsten Gegensatz zur Kantschen Philosophie. Diese geht von der Auffassung aus, daß die Vorstellungswelt von den Gesetzen des menschlichen Geistes beherrscht werde und deshalb alles, was ihr von außen entgegengebracht wird, in ihr nur als subjektiver Abglanz vorhanden sein könne. Der Mensch nehme nicht das «An sich» der Dinge wahr, sondern die Erscheinung, die dadurch entsteht, daß die Dinge ihn affizieren und er diese Affektionen nach den Gesetzen seines Verstandes und seiner Vernunft verbindet. Daß durch diese Vernunft das Wesen der Dinge spricht, davon haben Kant und die Kantianer keine Ahnung. Deshalb konnte die Kantsche Philosophie für Goethe nie etwas bedeuten. Wenn er sich einzelne ihrer Sätze aneignete, so gab er ihnen einen völlig anderen Sinn, als sie innerhalb der Lehre ihres Urhebers haben. Es ist durch eine Notiz, die erst nach Eröffnung des Weimarischen Goethe-Archivs bekannt geworden ist, klar, daß Goethe den Gegensatz seiner Weltauffassung und der Kantschen sehr wohl durchschaute. Für ihn liegt der Grundfehler Kants darin, daß dieser «das subjektive Erkenntnisvermögen nun selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz richtig sondert». Subjektiv und objektiv treten zusammen, wenn der Mensch das, was die Außenwelt ausspricht, und das, was sein Inneres vernehmen läßt, zum einigen Wesen der Dinge verbindet. Dann hört aber der Gegensatz von subjektiv und objektiv ganz auf; er verschwindet in der geeinten Wirklichkeit. Ich habe darauf schon hingedeutet in dieser Schrift S. 218 ff. Gegen meine damaligen Ausführungen polemisiert nun K. Vorländer im 1. Heft der «Kantstudien». Er findet, daß meine Anschauung über den Gegensatz von Goethescher und Kantscher Weltauffassung «mindestens stark einseitig und mit klaren Selbstzeugnissen Goethes in Widerspruch» sei und sich «aus dem völligen Mißverständnis der transzendentalen Methode» Kants von meiner Seite erkläre. Vorländer hat keine Ahnung von der Weltanschauung, in der Goethe lebte. Mit ihm zu polemisieren würde mir gar nichts nützen, denn wir sprechen verschiedene Sprachen. Wie klar sein Denken ist, zeigt sich darin, daß er bei meinen Sätzen nie weiß, was gemeint ist. Ich mache z. B. eine Bemerkung zu dem Goetheschen Satze: «Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nützen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist . . . Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt, sie suchen und untersuchen, was ist, und nicht was behagt.» Meine Bemerkung lautet: «Hier zeigt sich, wie Goethes Weltanschauung gerade der entgegengesetzte Pol der Kantschen ist. Für Kant gibt es überhaupt keine Ansicht über die Dinge, wie sie an sich sind, sondern nur wie sie in bezug auf uns erscheinen. Diese Ansicht läßt Goethe nur als ganz untergeordnete Art gelten, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen.» Dazu sagt Vorländer: «Diese (Worte Goethes) wollen weiter nichts als einleitend den trivialen Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Wahren auseinandersetzen. Der Forscher soll suchen, <was ist und nicht was behagt>. Wer, wie Steiner, die letztere allerdings sehr untergeordnete Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, als diejenige Kants zu bezeichnen wagt, dem ist zu raten, daß er sich erst die Grundbegriffe der Kantschen Lehre, z. B. den Unterschied von subjektiver und objektiver Empfindung, etwa aus § 3 der Kr. d. U. klarmache.» Nun habe ich durchaus nicht, wie aus meinem Satze klar hervorgeht, gesagt, daß jene Art, sich zu den Dingen in ein Verhältnis zu setzen, die Kants ist, sondern daß Goethe die Kantsche Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt nicht entsprechend dem Verhältnis findet, in dem der Mensch zu den Dingen steht, wenn er erkennen will, wie sie an sich sind. Goethe ist der Ansicht, daß die Kantsche Definition nicht dem menschlichen Erkennen, sondern nur dem Verhältnisse entspricht, in das sich der Mensch zu den Dingen setzt, wenn er sie in bezug auf sein Gefallen und Mißfallen betrachtet. Wer einen Satz in einer solchen Weise mißverstehen kann wie Vorländer, der mag es sich ersparen, andern Leuten Ratschläge zu geben über ihre philosophische Ausbildung, und lieber erst sich die Fähigkeit aneignen, einen Satz richtig lesen zu lernen. Goethesche Zitate aufsuchen und sie historisch zusammenstellen kann jeder; sie im Sinne der Goetheschen Weltanschauung deuten, kann jedenfalls Vorländer nicht.
  8. Goethe: Gedichte - Ausgabe letzter Hand 1827, Goethe-BA Bd. 1, 541 [1]
  9. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, 4. Band, 2. Heft (1823). In: Zeno.org.
  10. Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 133f [2]
  11. Dietzfelbringer, S. 107