Erkenntnis

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Willst du dich selbst erkennen, so suche in den Weltenweiten dich selbst;
willst du die Welt erkennen, so dringe in deine eigenen Tiefen.

Rudolf Steiner[1]

Die Erkenntnis (griech. γνῶσις, gnōsis, „[Er-]Kenntnis“; hebr. יָדַע Jada, „Wissen, Kenntnis, Erkenntnis“ oder דעת, Da'at, „Wissen“) ist das Ergebnis unserer Bewusstseinstätigkeit, durch die wir eine klare Einsicht in die Wirklichkeit zu gewinnen suchen. Sie setzt eine willentlich herbeigeführte Beziehung des erkennenden Subjekts zu dem zu erkennenden Objekt voraus. Es liegt an der besonderen geistigen Organisation des Menschen, dass ihm diese Erkenntnis nicht, wie höheren geistigen Wesenheiten, unmittelbar gegeben ist, sondern von ihm tätig erstrebt werden muss. Jeder echte Erkenntnisakt ist damit zugleich ein geistiger Entwicklungsschritt. Die eigenständig individuell errungene Erkennnis unterscheidet sich daher signifikant von der mehr oder weniger passiv erworbenen Kenntnis überlieferten Wissens.

Die «materielle Erkenntnis» als Grundlage

Die im zeitgenössischen akademischen Wissenschaftsbetrieb praktisch ausschließlich gepflegte «materielle Erkenntnis» bzw. «sinnliche Erkenntnis» stellt nach Rudolf Steiner nur die unterste von insgesamt vier Erkenntnisstufen dar. Die höheren Stufen der Erkenntnis, die Steiner ausführlich beschrieben hat und auch wie man sie durch gezielte geistige Übung erlangen kann, bezeichnet er als Imagination, Inspiration und Intuition. Die Basis dafür hat Steiner bereits in seinen philosophischen Grundlagenwerken geschaffen, namentlich in seiner «Philosophie der Freiheit» und der dort beschriebenen „Beobachtung des Denkens“, das den Ausgangspunkt einer rein geistigen Erkenntnis bildet, aus der er die Inhalte der von ihm später begründeten Anthroposophie schöpfen konnte.

Die exakte «materielle Erkenntnis» ist deshalb keineswegs gering zu schätzen. In ihr sind - allerdings zunächst völlig unbewusst - die höheren Erkenntnisstufen mit enthalten. Sie bildet nicht nur den einzig sicheren Ausgangspunkt aller Erkenntnis, sondern auch deren notwendigen Endpunkt, insofern alle höheren Erkenntnisse in die Gedankenformen der «gewöhnlichen Erkenntnis» gegossen werden müssen, um überhaupt allgemeinverständlich kommuniziert werden zu können. Gewonnen können die höheren Erkenntnisse nur durch die höheren Erkennnisstufen werden. Liegen sie einmal vor, können sie aber jederzeit durch die gewöhnliche materielle Erkenntnisform klar und logisch einwandfrei verstanden werden, sofern man sich nicht durch unsachliche Vorurteile selbst dieser Möglichkeit beraubt. Und auch für das eigene geistige Forschen sind die derart verständlich gemachten höheren Erkenntnisse die sicherste Basis, die den Erkenntnissuchenden vor Irrtümern und Illusionen am besten bewahrt.

Beobachtung und Denken

Die Wirklichkeit offenbart sich dem Menschen von zwei Seiten, die ihm einerseits durch Beobachtung, anderseits durch das Denken zugänglich sind. Durch die Beobachtung erscheint uns die Welt als Wahrnehmung, durch das Denken bilden wir uns den ihr entsprechenden Begriff. In der Wirklichkeit selbst sind Wahrnehmung und Begriff niemals getrennt. Die Wahrnehmungswelt tritt niemals ohne die ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten auf. Nur für den Menschen erscheinen sie zunächst auf getrennten Wegen.

„Wäre in dem Weltinhalte von vornherein der Gedankeninhalt mit dem Gegebenen vereinigt; dann gäbe es kein Erkennen. Denn es könnte nirgends das Bedürfnis entstehen, über das Gegebene hinauszugehen. Würden wir aber mit dem Denken und in demselben allen Inhalt der Welt erzeugen, dann gäbe es ebenso wenig ein Erkennen. Denn was wir selbst produzieren, brauchen wir nicht zu erkennen. Das Erkennen beruht also darauf, dass uns der Weltinhalt ursprünglich in einer Form gegeben ist, die unvollständig ist, die ihn nicht ganz enthält, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet, noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt. Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den übrigen Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhaltes, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.“ (Lit.:GA 3, S. 70)

Die Grenze zwischen dem Gegebenen und dem Erkannten ist dabei nicht von vornherein und allgemein menschlich fertig gegeben, sondern sie muss künstlich immer wieder individuell neu gezogen werden.

„Die Grenze zwischen Gegebenem und Erkanntem wird überhaupt mit keinem Augenblicke der menschlichen Entwicklung zusammenfallen, sondern sie muß künstlich gezogen werden. Dies aber kann auf jeder Entwicklungsstufe geschehen, wenn wir nur den Schnitt zwischen dem, was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns herantritt, und dem, was durch letzteres erst daraus gemacht wird, richtig führen.“ (Lit.:GA 3, S. 48f)

Wilfried Gabriel erläutert dazu weiter:

„Der Schnitt zwischen dem, was als Gegebenes bzw. Selbst-Hervorgebrachtes erscheint, ist also relativ und hängt von dem Grad des methodischen Bewusstseins und dem Definitionsbereich des jeweiligen Kontextes ab. Was hier als gegebene Einzelheit erscheint, kann anderswo als komplexes, theoriebeladenes Gebilde aus Wahrnehmungen und Begriffen analysiert werden.

Steiners zweiter Schritt, die radikale Analyse des Wahrnehmungsfeldes, zeigt weiterhin, dass jede Gestalt in unserem Bewusstseinshorizont künstlich in zahllose Einzelheiten dekonstruiert werden kann, wenn man die begrifflichen Bestimmungen zurückhält... Eine vollständige Dekonstruktion der Wirklichkeit würde sich ohne begriffliche Anteile und Zusammenhänge als »zusammenhangloses Aggregat« bzw. chaotische Mannigfaltigkeit zeigen...“ (Lit.: W. Gabriel, in: P. Heusser, J. Weinzirl, 2013, S. 233)

Der österreichische Physiker Wolfgang Pauli wies in diesem Zusammenhang auch auf die Komplementarität von Subjekt und Objekt hin:

„Der Begriff des Bewußtseins verlangt eben einen Schnitt zwischen Subjekt und Objekt, dessen E x i s t e n z eine logische Notwendigkeit ist, während wiederum die L a g e des Schnittes bis zu einem gewissen Grade willkürlich ist. Die Nichtbeachtung dieses Sachverhaltes gibt Anlaß zu zwei verschiedenen Arten metaphysisdier Extrapolation, die selbst als zueinander komplementär bezeichnet werden können. Die eine ist die des materiellen oder allgemeiner physikalischen Objektes, dessen Beschaffenheit unabhängig sein soll von der Art, in welcher es beobachtet wird. Wir haben gesehen, daß die moderne Physik, durch Tatsachen gezwungen, diese Abstraktion als zu eng aufgeben mußte. Die komplementäre Extrapolation ist die der Hindu-Metaphysik vom reinen Subjekt des Erkennens, dem kein Objekt mehr gegenübersteht. Persönlich habe ich keinen Zweifel, daß audi diese Idee als unhaltbare Extrapolation erkannt werden muß.“

Wolfgang Pauli: Physik und Erkennnistheorie, S. 16[2]

Wahrheit

Hauptartikel: Wahrheit
Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst
und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit.
Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben,
und es ist doch immer dieselbige.
Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen[3]

Die Wahrheit, die durch den Erkenntnisprozess zur Erscheinung gebracht wird, ist in diesem Sinn nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern sie wird frei und individuell durch das Ich des Menschen schöpferisch hervorgebracht:

„Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.“ (Lit.:GA 3, S. 11f)

Steiner macht deutlich, dass die verschiedenen Perspektiven, durch die sich die Wahrheit jeweils in ganz individueller Form zeigt, durch die Verschiedenheit der Verstandeswelten bedingt ist. Der Verstand zerschneidet gleichsam die Wiklichkeit auf ganz individuelle Weise in Begriffe. Die Vernunft fügt sie (im Idealfall) wieder zu den der Sache angemessenen Ideen zusammen:

„Alle Begriffe, die der Verstand schafft: Ursache und Wirkung, Substanz und Eigenschaft, Leib und Seele, Idee und Wirklichkeit, Gott und Welt usw. sind nur da, um die einheitliche Wirklichkeit künstlich auseinander zu halten; und die Vernunft hat, ohne den damit geschaffenen Inhalt zu verwischen, ohne die Klarheit des Verstandes mystisch zu verdunkeln, in der Vielheit die innere Einheit aufzusuchen. Sie kommt damit auf das zurück, wovon sich der Verstand entfernt hat, auf die einheitliche Wirklichkeit. Will man eine genaue Nomenklatur haben, so nenne man die Verstandsgebilde Begriffe, die Vernunftschöpfungen Ideen. Und man sieht, dass der Weg der Wissenschaft ist: sich durch den Begriff zur Idee zu erheben. Und hier ist der Ort, wo sich uns in der klarsten Weise das subjektive und das objektive Element unseres Erkennens auseinanderlegen. Es ist ersichtlich, dass die Trennung nur subjektiven Bestand hat, nur durch unsern Verstand geschaffen ist. Es kann mich nicht hindern, dass ich ein und dieselbe objektive Einheit in Gedankengebilde zerlege, die von denen meines Mitmenschen verschieden sind; das hindert nicht, dass meine Vernunft in der Verbindung wieder zu derselben objektiven Einheit gelangt, von der wir ja beide ausgegangen sind.

Zeichnung aus GA 1, S. 173
Zeichnung aus GA 1, S. 173

Das einheitliche Wirklichkeitsgebilde sei sinnbildlich dargestellt (Figur 1). Ich trenne es verstandesgemäß so, wie Fig. 2; ein anderer anders, wie Fig. 3.

Wir fassen es vernunftgemäß zusammen und erhalten dasselbe Gebilde. Damit wird es uns erklärlich, wie die Menschen so verschiedene Begriffe, so verschiedene Anschauungen von der Wirklichkeit haben können, trotzdem diese doch nur eine sein kann. Die Verschiedenheit liegt in der Verschiedenheit unserer Verstandeswelten. Damit verbreitet sich für uns ein Licht über die Entwicklung verschiedener wissenschaftlicher Standpunkte. Wir begreifen, woher die vielfachen philosophischen Standpunkte kommen, und haben nicht nötig, ausschließlich einer die Palme der Wahrheit zuzuerkennen. Wir wissen auch, welchen Standpunkt wir selbst gegenüber der Vielheit menschlicher Anschauungen einzunehmen haben.“ (Lit.:GA 1, S. 172f)

Die vier Elemente der sinnlichen Erkenntnis

In seiner Schrift «Die Stufen der höheren Erkenntnis» unterscheidet Rudolf Steiner vier Elemente der sinnlichen Erkenntnis:

  1. Gegenstand,
  2. Bild (Vorstellung),
  3. Begriff
  4. Ich

„Beim gewöhnlichen sinnlichen Erkennen kommen vier Elemente in Betracht: 1. der Gegenstand, welcher auf die Sinne einen Eindruck macht; 2. das Bild, das sich der Mensch von diesem Gegenstande macht; 3. der Begriff, durch den der Mensch zu einer geistigen Erfassung einer Sache oder eines Vorganges kommt; 4. das «Ich», welches sich auf Grund des Eindruckes vom Gegenstande Bild und Begriff bildet. Bevor sich der Mensch ein Bild - eine «Vorstellung» macht, ist ein Gegenstand da, welcher ihn dazu veranlaßt. Diesen bildet er nicht selbst, er nimmt ihn wahr. Und auf Grund dieses Gegenstandes entsteht das Bild. Solange man ein Ding anblickt, hat man es mit diesem selbst zu tun. In dem Augenblicke, wo man von dem Dinge hinwegtritt, besitzt man nur noch das Bild. Den Gegenstand verläßt man, das Bild bleibt in der Erinnerung «haften». Aber man kann nicht dabei stehenbleiben, sich bloß «Bilder» zu machen. Man muß zu «Begriffen» kommen. Die Unterscheidung von «Bild» und «Begriff» ist unbedingt notwendig, wenn man sich hier ganz klarwerden will. Man stelle sich einmal vor, man sehe einen Gegenstand, welcher kreisförmig ist. Dann drehe man sich um, und man behalte das Bild des Kreises im Gedächtnisse. Da hat man noch nicht den «Begriff» des Kreises. Dieser ergibt sich erst, wenn man sich sagt: «Ein Kreis ist eine Figur, bei der alle Punkte von einem Mittelpunkte gleich weit entfernt sind.» Erst wenn man sich von einer Sache einen «Begriff» gemacht hat, ist man zum Verständnisse derselben gekommen. Es gibt viele Kreise: kleine, große, rote, blaue usw.; aber es gibt nur einen Begriff «Kreis». - Auf alles dieses soll im weiteren noch näher eingegangen werden; vorläufig soll nur skizziert werden, was zur Charakteristik der vier ersten Erkenntnisstufen notwendig ist. - Das vierte Element, das bei der materiellen Erkenntnis in Betracht kommt, ist das «Ich». In demselben kommt eine Einheit der Bilder und Begriffe zustande. Dieses «Ich» bewahrt in seinem Gedächtnisse die Bilder. Wäre das nicht der Fall, so entstände kein fortlaufendes inneres Leben. Die Bilder der Dinge blieben nur so lange vorhanden, als diese Dinge selbst auf die Seele wirken. Das innere Leben aber hängt davon ab, daß Wahrnehmung an Wahrnehmung gereiht wird. Das «Ich» orientiert sich «heute» in der Welt, weil ihm bei gewissen Gegenständen die Bilder der gleichen Gegenstände von «gestern» auftauchen. Man vergegenwärtige sich nur, wie unmöglich das Seelenleben wäre, wenn man nur so lange ein Bild eines Dinges hätte, als dieses selbst vor einem steht. - Auch bezüglich der Begriffe bildet das «Ich» die Einheit. Es verbindet seine Begriffe und verschafft sich auf diese Art einen Überblick, das heißt ein Verständnis der Welt. Diese Verbindung der Begriffe geschieht im «Urteilen». Ein Wesen, das nur lose Begriffe hätte, könnte sich in der Welt nicht zurechtfinden. Alle Tätigkeit des Menschen beruht auf seiner Fähigkeit, Begriffe zu verbinden, das heißt auf seinem «Urteilen».“ (Lit.:GA 12, S. 16f)

Der Erkenntnisakt

Im Erkenntnisakt überwindet der Mensch diese durch seine Organistation bedingte künstliche Trennung, indem er die Wahrnehmungswelt begrifflich durchdringt. Damit dringt er zur vollen Wirklichkeit vor. Von prinzipiellen Erkenntnisgrenzen des Menschen kann in diesem Sinn nicht gesprochen werden. Wird die künstliche aufgerissene Kluft zwischen Beobachtung und Denken mit einem Schlag überwunden und führt so zu einer unmittelbaren Einsicht, so spricht man von intuitiver Erkenntnis. Als anschauende Urteilskraft im Sinne Goethes oder als intellektuelle Anschauung, wie sie etwa von Fichte und Schelling aufgefasst wurde, bildet sie die Grundlage einer rein empirischen, sinnlich-übersinnlichen Erkenntnis, auf der Goetheanismus und Anthroposophie - als dessen Erweiterung auf nur rein geistig erfahrbare Bereiche - gleichermaßen aufbauen. Wird die Erkenntnis hingegen nur mittelbar durch eine Kette logischer Schlussfolgerungen gewonnen, spricht man von diskursiver Erkenntnis. Kant hatte dem Menschen nur letztere Erkenntnisform zugestanden und damit die akademischen Wissenschaften bis zum heutigen Tag nachhaltig geprägt.

Intuitive und diskursive Erkenntnis schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander. Einerseits bleibt die diskursive Erkennnis ohne ein gewisses Mindestmaß an Intuition rein formal und wirklichkeitsfremd; diskursive Erkenntnisschritte können aber durch meditative Vertiefung die bewusste intuitive Erkenntnis vorbereiten. Begriffe als solche sind intuitiv gegeben, auch wenn dies oft zu selbstverständlich und darum nur unterbewusst erlebt wird, während im Bewusstsein nur das Wort erscheint, das auf den Begriff hinweist. Daher sagt Rudolf Steiner mit Recht: "Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe." (Lit.: GA 4, S. 57)

„Im Gegensatz zum Wahrnehmungsinhalte, der uns von außen gegeben ist, erscheint der Gedankeninhalt im Innern. Die Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind die Quellen unserer Erkenntnis. Die Form, in der er zunächst auftritt, wollen wir als Intuition bezeichnen. Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist. Intuition und Beobachtung sind die Quellen unserer Erkenntnis.“ (Lit.:GA 4, S. 95)

Anderseits muss jede intuitive Erkenntnis in logisch nachvollziehbare Einzelschritte gegliedert werden, um überhaupt kommunizierbar zu sein.

„Wir haben festgestellt, dass die Elemente zur Erklärung der Wirklichkeit den beiden Sphären: dem Wahrnehmen und dem Denken zu entnehmen sind. Unsere Organisation bedingt es, wie wir gesehen haben, dass uns die volle, totale Wirklichkeit, einschließlich unseres eigenen Subjektes, zunächst als Zweiheit erscheint. Das Erkennen überwindet diese Zweiheit, indem es aus den beiden Elementen der Wirklichkeit: der Wahrnehmung und dem durch das Denken erarbeiteten Begriff das ganze Ding zusammenfügt. Nennen wir die Weise, in der uns die Welt entgegentritt, bevor sie durch das Erkennen ihre rechte Gestalt gewonnen hat, die Welt der Erscheinung im Gegensatz zu der aus Wahrnehmung und Begriff einheitlich zusammengesetzten Wesenheit. Dann können wir sagen: Die Welt ist uns als Zweiheit (dualistisch) gegeben, und das Erkennen verarbeitet sie zur Einheit (monistisch). Eine Philosophie, welche von diesem Grundprinzip ausgeht, kann als monistische Philosophie oder Monismus bezeichnet werden. Ihr steht gegenüber die Zweiweltentheorie oder der Dualismus. Der letztere nimmt nicht etwa zwei bloß durch unsere Organisation auseinandergehaltene Seiten der einheitlichen Wirklichkeit an, sondern zwei voneinander absolut verschiedene Welten. Er sucht dann Erklärungsprinzipien für die eine Welt in der andern.

Der Dualismus beruht auf einer falschen Auffassung dessen, was wir Erkenntnis nennen. Er trennt das gesamte Sein in zwei Gebiete, von denen jedes seine eigenen Gesetze hat, und lässt diese Gebiete einander äußerlich gegenüberstehen Einem solchen Dualismus entspringt die durch Kant in die Wissenschaft eingeführte und bis heute nicht wieder herausgebrachte Unterscheidung von Wahrnehmungsobjekt und «Ding an sich». Unseren Ausführungen gemäß liegt es in der Natur unserer geistigen Organisation, dass ein besonderes Ding nur als Wahrnehmung gegeben sein kann. Das Denken überwindet dann die Besonderung, indem es jeder Wahrnehmung ihre gesetzmäßige Stelle im Weltganzen anweist. Solange die gesonderten Teile des Weltganzen als Wahrnehmungen bestimmt werden, folgen wir einfach in der Aussonderung einem Gesetze unserer Subjektivität. Betrachten wir aber die Summe aller Wahrnehmungen als den einen Teil und stellen diesem dann einen zweiten in den «Dingen an sich» gegenüber, so philosophieren wir ins Blaue hinein. Wir haben es dann mit einem bloßen Begriffsspiel zu tun. Wir konstruieren einen künstlichen Gegensatz, können aber für das zweite Glied desselben keinen Inhalt gewinnen, denn ein solcher kann für ein besonderes Ding nur aus der Wahrnehmung geschöpft werden.

Jede Art des Seins, das außerhalb des Gebietes von Wahrnehmung und Begriff angenommen wird, ist in die Sphäre der unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In diese Kategorie gehört das «Ding an sich». Es ist nur ganz natürlich, dass der dualistische Denker den Zusammenhang des hypothetisch angenommenen Weltprinzips und des erfahrungsmäßig Gegebenen nicht finden kann. Für das hypothetische Weltprinzip lässt sich nur ein Inhalt gewinnen, wenn man ihn aus der Erfahrungswelt entlehnt und sich über diese Tatsache hinwegtäuscht. Sonst bleibt es ein inhaltsleerer Begriff, ein Unbegriff, der nur die Form des Begriffes hat. Der dualistische Denker behauptet dann gewöhnlich: der Inhalt dieses Begriffes sei unserer Erkenntnis unzugänglich; wir könnten nur wissen, dass ein solcher Inhalt vorhanden ist, nicht was vorhanden ist. In beiden Fällen ist die Überwindung des Dualismus unmöglich. Bringt man ein paar abstrakte Elemente der Erfahrungswelt in den Begriff des Dinges an sich hinein, dann bleibt es doch unmöglich, das reiche konkrete Leben der Erfahrung auf ein paar Eigenschaften zurückzuführen, die selbst nur aus dieser Wahrnehmung entnommen sind. Du Bois-Reymond denkt, dass die unwahrnehmbaren Atome der Materie durch ihre Lage und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, um dann zu dem Schlusse zu kommen: Wir können niemals zu einer befriedigenden Erklärung darüber kommen, wie Materie und Bewegung Empfindung und Gefühl erzeugen, denn «es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammenwirken Bewusstsein entstehen könne». Diese Schlussfolgerung ist charakteristisch für die ganze Denkrichtung. Aus der reichen Welt der Wahrnehmungen wird abgesondert: Lage und Bewegung. Diese werden auf die erdachte Welt der Atome übertragen. Dann tritt die Verwunderung darüber ein, dass man aus diesem selbstgemachten und aus der Wahrnehmungswelt entlehnten Prinzip das konkrete Leben nicht herauswickeln kann.

Dass der Dualist, der mit einem vollständig inhaltleeren Begriff vom An-sich arbeitet, zu keiner Welterklärung kommen kann, folgt schon aus der oben angegebenen Definition seines Prinzips. In jedem Falle sieht sich der Dualist gezwungen, unserem Erkenntnisvermögen unübersteigliche Schranken zu setzen. Der Anhänger einer monistischen Weltanschauung weiß, dass alles, was er zur Erklärung einer ihm gegebenen Erscheinung der Welt braucht, im Bereiche der letztern liegen müsse. Was ihn hindert, dazu zu gelangen, können nur zufällige zeitliche oder räumliche Schranken oder Mängel seiner Organisation sein. Und zwar nicht der menschlichen Organisation im allgemeinen, sondern nur seiner besonderen individuellen.

Es folgt aus dem Begriffe des Erkennens, wie wir ihn bestimmt haben, dass von Erkenntnisgrenzen nicht gesprochen werden kann. Das Erkennen ist keine allgemeine Weltangelegenheit, sondern ein Geschäft, das der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. Die Dinge verlangen keine Erklärung. Sie existieren und wirken aufeinander nach den Gesetzen, die durch das Denken auffindbar sind. Sie existieren in unzertrennlicher Einheit mit diesen Gesetzen. Da tritt ihnen unsere Ichheit gegenüber und erfasst von ihnen zunächst nur das, was wir als Wahrnehmung bezeichnet haben. Aber in dem Innern dieser Ichheit findet sich die Kraft, um auch den andern Teil der Wirklichkeit zu finden. Erst wenn die Ichheit die beiden Elemente der Wirklichkeit, die in der Welt unzertrennlich verbunden sind, auch für sich vereinigt hat, dann ist die Erkenntnisbefriedigung eingetreten: das Ich ist wieder bei der Wirklichkeit angelangt. Die Vorbedingungen zum Entstehen des Erkennens sind also durch und für das Ich. Das letztere gibt sich selbst die Fragen des Erkennens auf. Und zwar entnimmt es sie aus dem in sich vollständig klaren und durchsichtigen Elemente des Denkens. Stellen wir uns Fragen, die wir nicht beantworten können, so kann der Inhalt der Frage nicht in allen seinen Teilen klar und deutlich sein. Nicht die Welt stellt an uns die Fragen, sondern wir selbst stellen sie.“ (Lit.:GA 4, S. 112ff)

Erkenntnis als Entwicklungsprozess

Wornach soll man am Ende trachten?
Die Welt zu kennen und sie nicht verachten.

Johann Wolfgang Goethe[4]

Vor allem aber geht es bei der Erkenntnis nicht primär darum, dass wir durch die Erkenntnis eine objektive Außenwelt subjektiv in uns abbilden - das ist nur ein Nebeneffekt. Im Kern geht es darum, dass wir uns durch die Erkenntnis geistig weiterentwickeln und dadurch zugleich beitragen, da wir unmittelbar Teil der Wirklichkeit sind, die Welt weiterzuentwickeln.

„Das Erkenntnisproblem wurde immer in Anlehnung an den Kantianismus so aufgeworfen, daß man sich sagte: Wie kommt der Mensch dazu, in dieser Innenwelt ein Abbild der äußeren Welt zu erblicken? - Aber das Erkennen ist zunächst gar nicht dazu da, um Abbilder der äußeren Welt zu schaffen, sondern um uns zu entwickeln, und es ist ein Nebenprozeß, daß wir die Außenwelt abbilden. Wir lassen in der Außenwelt zusammenfließen in einem Nebenprozeß, was wir erst durch unsere Geburt abgespalten haben, und es ist geradeso bei dem modernen Erkenntnisproblem, wie wenn jemand Weizen oder andere Feldprodukte hat und, wenn er das Wesen des Wachstumsprinzips im Weizen untersuchen will, den Weizen auf seinen Nahrungsmitteleffekt untersucht. Gewiß kann man Nahrungsmittelchemiker werden, aber das, was im Weizen wirkt von der Ähre bis zur Wurzel und wieder weiter, das wird nicht durch Nahrungsmittelchemie erkannt. Die erörtert nur irgend etwas, was hinzukommt zu der geradlinig sich fortbewegenden Entwickelungsströmung, die in der Weizenpflanze liegt.

So gibt es eine Entwickelungsströmung des geistigen Lebens in uns, die uns erkraftet, die mit unserem Wesen etwas zu tun hat, wie die Entwickelung der Pflanze von der Wurzel durch den Stamm, durch das Blatt zur Blüte und zur Frucht, und von da wiederum zum Keime und zur Wurzel wird. Und wie das, daß wir das essen, wahrhaftig nicht bei der Wesenserklärung des Pflanzenwachstums eine Rolle spielen soll, so darf auch nicht die Frage nach dem Erkenntniswerte dessen, was in uns als Entwickelungsimpuls lebt, die Grundlage für eine Erkenntnistheorie sein, sondern es muß klar sein, daß das, was wir im äußeren Leben Erkenntnis nennen, ein Nebeneffekt ist der Arbeit des Ideellen in unserer Menschenwesenheit. Da kommen wir zu dem Realen desjenigen, was ideell ist. Es arbeitet in uns. Und nur dadurch ist der falsche Nominalismus, ist der Kantianismus entstanden, daß man die Erkenntnisfrage so aufgeworfen hat, wie man die Frage nach dem Wesen des Weizens von der Nahrungsmittelchemie aus aufwerfen würde.“ (Lit.:GA 74, S. 101f)

Ähnlich heißt es in Rudolf Steiners erstem Mysteriendrama «Die Pforte der Einweihung»:

„So wenig die Samenkräfte die Pflanze erst lehren, wie sie wachsen soll, sondern sich als lebendig Wesen in ihr erweisen, so lehren unsere Ideen nicht: sie ergießen sich, Leben entzündend, Leben spendend in unser Wesen.“ (Lit.:GA 14, S. 19)

Wir sind durch unser Erkennen, in dem die Ideen aufleuchten, Teil des fortlaufenden Schöpfungsprozesses. Mehr noch, sind wir heute, nachdem der Schöpfungsprozess in der Natur als solcher beinahe erloschen ist, der wesentliche, der entscheidende Teil dieser Entwicklung - wie bescheiden und klein dabei unser Beitrag auch immer sein mag. Für Hochmut ist dabei kein Platz; was unser Ich zu leisten vermag, ist noch gering - aber durch unser Ich wirkt im Erkenntnisakt potentiell die ganze geistige Welt und der Christus als der tätige schöpferische Quelle. Im Erkennen, wenn wir es in dieser Weise auffassen und vollziehen, vereinigen wir uns mit dem Christus ganz im Sinne des Paulus-Wortes: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20 LUT). Das ist ein beiderseitiger Akt vollkommener Freiheit, durch den sich der Christus freiwillig in unser Wesen ergießt, um das, was wir frei geschaffen haben, so zu verwirklichen, dass es welttragende geistige Substanz wird. Jeder solcher Erkenntnisakt ist damit eine reale Erneuerung des Mysteriums von Golgatha. Daher konnte Rudolf Steiner schon in seinen «Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften» zurecht sagen:

„Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.“ (Lit.:GA 1, S. 126)

Die Stufen der höheren Erkenntnis

Die akademisch betriebenen Wissenschaften, egal ob es sich dabei um die Naturwissenschaften oder Geisteswissenschaften handelt, stützen sich heute praktisch ausschließlich auf die von Rudolf Steiner so bezeichnete „materielle Erkenntnis“, die sich auf die sinnliche Beobachtung bzw. auf sinnlich fassbare Dokumente gründet, die durch die Tätigkeit des Verstandes und mit Hilfe des in der Vergangenheit gesammelten Wissens in eine gedanklich überschaubare Ordnung gebracht wird. Dabei spielt die Bildung von Hypothesen und gegebenenfalls deren Falsifikation durch empirische Überprüfung eine wesentliche Rolle. Eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis der geistigen Welt ist auf dieser Grundlage nicht möglich und bleibt auf mehr oder weniger gut begründete Spekulationen beschränkt. Der Mensch sieht sich damit zwangsläufig vor unübersteigbare Erkenntnisgrenzen gestellt, wie sie prominent Immanuel Kant beschrieben hat.

Wirkliche geistige Erkenntnis gründet sich auf höhere Erkenntnisformen, die Rudolf Steiner als Imagination, Inspiration und Intuition umfassend charakterisiert hat. In der von ihm exakt beschriebenen Form dürfen sie nicht mit dem verwechselt werden, was man landläufig unter diesen Begriffen versteht, die den Ansprüchen einer exakten wissenschaftlichen Erkenntnis nicht genügen.

Insgesamt unterscheidet Steiner also folgende vier Erkenntnisstufen:

  1. die auf die Sinne und den Verstand gegründete sinnlich-materielle Erkenntnis, die sich auf den physischen Leib stützt,
  2. die Imagination, die sich des Ätherleibs bedient,
  3. die Inspiration, die auf der Tätigkeit des Astralleibs beruht,
  4. die Intuition, die vollbewusst im und und durch das Ich erlebt wird.

Die drei höheren Erkenntnisformen sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern schwingen auch schon in den oben genannten vier Elementen der materiellen Erkenntnis unbewusst mit. Es bedarf allerdings einer intensiven geistigen Schulung durch Meditation und Konzentration, um sie ins Bewusstsein zu heben. So steht im Hintergrund der Vorstellungsbildung die Imagination, hinter der Begriffsbildung die Inspiration und hinter dem im gewöhnlichen Bewusstsein erfahrenen Ich das wirkliche Ich, die geistige Individualität des Menschen, die nur der Intuition zugänglich ist - worauf schon Fichte mit seinem Begriff der „Tathandlung“ hingedeutet hat.

„Das «materielle Erkennen» beruht darauf, daß der Mensch durch seine Sinne einen Eindruck von Dingen und Vorgängen der Außenwelt erhält. Er hat die Fähigkeit des Empfindens oder die Sensibilität. Der «von außen» empfangene Eindruck wird auch Sensation genannt. Daher kommen bei der «materiellen Erkenntnis» die vier Elemente in Betracht: Sensation, Bild, Begriff, Ich. - Bei der nächsthöheren Stufe des Erkennens fällt nun der Eindruck auf die äußeren Sinne, die «Sensation», weg. Ein äußerer Sinnesgegenstand ist nicht mehr vorhanden. Es bleiben also von den Elementen, an welche der Mensch von der gewöhnlichen Erkenntnis her gewöhnt ist, nur die drei: Bild, Begriff und Ich.

Das gewöhnliche Erkennen bildet bei einem gesunden Menschen kein Bild und keinen Begriff, wenn ein äußerer Sinnesgegenstand nicht vorhanden ist. Das «Ich» bleibt dann untätig. Wer sich Bilder formt, denen Sinnesgegenstände entsprechen sollen, wo in Wahrheit keine sind, lebt in Phantastik. - Nun aber erwirbt sich der Geheimschüler eben die Fähigkeit, Bilder zu formen, auch wo keine Sinnesgegenstände vorhanden sind. Es muß dann bei ihm an die Stelle des «äußeren Gegenstandes» ein anderer treten. Er muß Bilder haben können, auch wenn kein Gegenstand seine Sinne berührt. An die Stelle der «Sensation» muß etwas anderes treten. Dies ist die Imagination. Bei dem Geheimschüler auf dieser Stufe treten Bilder auf genau so, wie wenn ein Sinnesgegenstand auf ihn einen Eindruck machen würde; sie sind so lebhaft und wahr wie die Sinnesbilder, nur kommen sie nicht vom «Materiellen», sondern vom «Seelischen» und «Geistigen». Die Sinne bleiben dabei vollständig untätig. - Es ist einleuchtend, daß sich der Mensch diese Fähigkeit, inhaltvolle Bilder zu haben ohne Sinneseindrücke, erst erwerben muß. Es geschieht dies durch die Meditation, durch die Übungen, welche in den Darstellungen des Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben worden sind. Der auf die Sinnenwelt beschränkte Mensch lebt nur in dem Umkreis einer Bilderwelt, welche erst durch die Sinne in ihn Einlaß gefunden haben. Der imaginative Mensch hat eine solche Bilderwelt, die von einer höheren Welt ihren Zufluß erhält. Es gehört eine sehr sorgfältige Schulung dazu, innerhalb dieser höheren Bilderwelt Täuschung von Wirklichkeit zu unterscheiden. Nur zu leicht sagt sich der Mensch, wenn solche Bilder zunächst vor seine Seele hintreten: «Ach, das sind ja nur Einbildungen, bloße Ausflüsse meines Vorstellungslebens.» Das ist nur zu begreiflich. Denn der Mensch ist zunächst ja daran gewöhnt, nur dasjenige «wirklich» zu nennen, was, ohne sein Zutun, ihm durch die feste Grundlage seiner Sinneswahrnehmung gegeben ist. Und er muß sich erst hineinfinden, Dinge für «wirkliche» zu nehmen, die von ganz anderer Seite veranlaßt werden. Und er kann auch darinnen nicht vorsichtig genug sein, wenn er nicht zum Phantasten werden will. Die Entscheidung darüber, was auf höherem Gebiete «wirklich» ist, was nur «Illusion», die kann nur von der Erfahrung kommen. Und man muß sich diese Erfahrung in einem stillen, geduldigen Innenleben aneignen. Zunächst muß man durchaus darauf gefaßt sein, daß einem die «Illusion» böse Streiche spielt. Überall lauern die Möglichkeiten, daß Bilder auftauchen, die nur auf Täuschungen der äußeren Sinne, des abnormen Lebens beruhen. Alle solche Möglichkeiten müssen zuerst hinweggeräumt werden. Man muß zuerst die Quellen der Phantastik ganz verstopfen, dann kann man erst zu der Imagination kommen. Ist man so weit, dann wird man allerdings sich klar darüber, daß die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur so wirklich ist wie die sinnliche, sondern daß sie eine viel wirklichere ist.

Bei der dritten Stufe der Erkenntnis bleiben nun auch die Bilder weg. Der Mensch hat es nur noch mit «Begriff» und «Ich» zu tun. Hat er auf der zweiten Stufe noch eine Bilderwelt um sich, die erinnert an die Augenblicke, wo das lebhafte Gedächtnis sich die Eindrücke der Außenwelt vor die Seele zaubert, ohne selbst solche Eindrücke zu haben: auf der dritten Stufe sind auch solche Bilder nicht mehr vorhanden. Der Mensch lebt ganz in einer rein geistigen Welt. Wer nur gewöhnt ist, sich an die Sinne zu halten, wird versucht sein, zu glauben, daß diese Welt eine blasse, gespenstige sei. Das ist sie aber ganz und gar nicht. Auch die Bilderwelt der zweiten Stufe hat nichts Blasses, Schattenhaftes. So sind ja allerdings die Bilder zumeist, die im Gedächtnisse haften bleiben, wenn die äußeren Dinge weg sind. Aber die Bilder der Imagination sind von einer Lebhaftigkeit und Inhaltsfülle, mit der sich nicht nur die schattenhaften Erinnerungsbilder der Sinnenwelt nicht vergleichen lassen, sondern sogar nicht einmal die ganze bunte, wechselreiche Sinnenwelt selbst. Auch diese ist gegen das Reich der Imagination nur ein Schatten. - Und nun gar die Welt der dritten Erkenntnisstufe! Von ihrem Reichtum und ihrer Fülle gibt nichts in der Sinnenwelt eine Vorstellung. Was für die erste Stufe die Sensation, für die zweite die Imagination, das ist für sie die «Inspiration». Die Inspiration gibt die Eindrücke, und das «Ich» formt die Begriffe. Will man durchaus mit dieser Welt etwas Sinnliches vergleichen, so kann nur die Tonwelt des Hörens zu einem solchen Vergleiche herangezogen werden. Aber nicht mit Tönen wie in der sinnlichen Musik hat man es zu tun, sondern mit einem rein «geistigen Tönen». Man beginnt zu «hören», was im Innern der Dinge vorgeht. Der Stein, die Pflanze usw. werden zu «geistigen Worten». Die Welt beginnt der Seele gegenüber ihr Wesen wirklich selbst auszusprechen. Es klingt grotesk, aber es ist wörtlich wahr: auf dieser Stufe des Erkennens «hört man geistig das Gras wachsen». Man vernimmt die Form des Kristalles als Klang; die sich öffnende Blüte «spricht» da zum Menschen. Der Inspirierte vermag das innere Wesen der Dinge zu künden; alle Dinge werden in neuer Art vor seiner Seele auferstehen. Er spricht eine Sprache, die aus einer anderen Welt stammt und welche doch erst die alltägliche Welt begreiflich macht.

Auf der vierten Erkenntnisstufe endlich hört auch die Inspiration auf. Von den Elementen, die man vom alltäglichen Erkennen her gewohnt ist zu betrachten, ist nur noch das «Ich» dasjenige, welches in Betracht kommt. Der Geheimschüler merkt an einer ganz bestimmten inneren Erfahrung, daß er bis zu dieser Stufe aufgestiegen ist. Diese Erfahrung drückt sich darin aus, daß er das Gefühl hat: er stehe jetzt nicht mehr außer den Dingen und Vorgängen, welche er erkennt, sondern innerhalb derselben. Bilder sind nicht der Gegenstand; sie drücken ihn bloß aus. Auch was die Inspiration gibt, ist nicht der Gegenstand. Sie spricht ihn nur aus. Das aber, was jetzt in der Seele lebt, ist wirklich der Gegenstand selbst. Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen. Das Leben der Dinge in der Seele ist nun die Intuition. Es ist eben ganz wörtlich zu nehmen, wenn man von der Intuition sagt: man kriecht durch sie in alle Dinge hinein. - Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch nur eine Intuition, das ist diejenige des «Ich» selber. Denn das «Ich» kann auf keine Weise von außen wahrgenommen werden, es kann nur im Innern erlebt werden. Eine einfache Erwägung kann das klarmachen. Es ist dies eine Erwägung, die allerdings von den Psychologen nicht mit der wünschenswerten Schärfe gemacht wird. So unscheinbar sie aber ist: für den, der sie ganz versteht, ist sie von der allerweittragendsten Bedeutung. Sie ist die folgende: Ein jedes Ding der Außenwelt kann von allen Menschen mit demselben Namen genannt werden. Der Tisch kann von allen mit «Tisch», die Tulpe von allen mit «Tulpe», der Herr Müller von allen mit «Herr Müller» angesprochen werden. Aber es gibt ein Wort, das jeder nur zu sich selbst sprechen kann. Dies ist das Wort «Ich». Kein anderer kann zu mir «Ich» sagen, für jeden anderen bin ich ein «Du». Ebenso ist jeder andere für mich ein «Du». Nur er selbst kann zu sich «Ich» sagen. Das rührt davon her, daß man nicht außer, sondern in dem «Ich» lebt. Und so lebt man durch die intuitive Erkenntnis in allen Dingen. Die Wahrnehmung des eigenen «Ich» ist das Vorbild für alle intuitive Erkenntnis. Um so in die Dinge hineinzukommen, muß man allerdings erst aus sich selbst heraustreten. Man muß «selbstlos» werden, um mit dem «Selbst», dem «Ich», einer anderen Wesenheit zu verschmelzen.

Meditation und Konzentration sind die sicheren Mittel, um zu dieser Stufe, ebenso wie zu den früheren, hinanzusteigen.“ (Lit.:GA 12, S. 18ff)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. (Lit.:GA 83, S. 164)
  2. Wolfgang Pauli: Physik und Erkennnistheorie, Springer Fachmedien, Wiesbaden 1984, ISBN 978-3-528-08563-6, eBook ISBN 978-3-322-88799-3
  3. Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen, 4. Band, 2. Heft (1823). In: Zeno.org.
  4. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte. Ausgabe letzter Hand. 1827. Zahme Xenien I, 1820 (vgl. Goethe-BA Bd. 1, S. 640)