Substanz

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Substanz (lat. substantia „das, woraus etwas besteht“, aus substare „darunter stehen“; griech. ὑπόστασις hypostasis, ὑποκείμενον hypokeimenon, οὐσία ousia) ist im philosophischen Sinn „das, was im eigentlichen Sinne seiend ist“, etwas, „was durch und in sich selbst ist, nicht durch ein anderes oder an bzw. in einem anderen“, das, „was an sich ist und durch sich begriffen wird“[1] - oder anders ausgedrückt: die Substanz ist das eigentliche Wesen eines Dinges und macht es zu einer eigenständigen Entität.

Abweichend davon wird der Begriff „Substanz“ umgangssprachlich vornehmlich für chemische Stoffe verwendet - in der Chemie selbst aber nur für feste Stoffe. Beide Bedeutungen - die philosophische und die physikalisch-chemische - gehen auf Aristoteles zurück, der neben den einzelnen physischen Substanzen (ousia) eine allen gemeinsame Urmaterie (materia prima) annahm. Im erweiterten Sinn wird in der Anthroposophie auch von ätherischen, astralischen bzw. seelischen und geistigen Substanzen gesprochen.

Erste und zweite Substanz

Aristoteles-Büste

In der Kategorienlehre, die zu den frühen Schriften von Aristoteles zählt, bezeichnet ousía als erste Substanz das selbstständige individuelle Einzelding, das hypokeimenon, das Zugrundeliegende, d.h. das Subjekt oder Substrat (z.B. „Sokrates“) gegenüber seinen zufälligen Eigenschaften und Merkmalen, den Akzidenzien (z.B. „weiß“). Zweite Substanz (οὐσία δευτέρα ousía deutéra) nennt Aristoteles hingegen das Allgemeine, also die Art oder Gattung, unter das diese Einzeldinge fallen („Mensch“ bzw. „Geschöpf“ oder „Lebewesen“).

„Von den Dingen sind die hauptsächlichsten, und die welche auch zuerst und am meisten als Dinge gelten, diejenigen, welche weder von einem Unterliegenden ausgesagt werden, noch in einem Unterliegenden sind; wie z.B. dieser Mensch, oder dieses Pferd. Dinge zweiter Ordnung heissen die, in deren Arten die sogenannten Dinge erster Ordnung enthalten sind und zwar heissen so sowohl diese Arten wie die Gattungen dieser Arten. So ist z.B. dieser Mensch im Menschen, als seiner Art enthalten und die Gattung zu dieser Art ist das Geschöpf [...]

Ganz passend werden nach den Dingen erster Ordnung von allen übrigen Kategorien nur die Arten und Gattungen Dinge zweiter Ordnung genannt; denn sie allein von den Kategorien offenbaren das, was die Dinge erster Ordnung sind; denn wenn Jemand von diesem bestimmten Menschen angeben will, was er ist, so wird er es in treffenderer Weise thun, wenn er dessen Art als dessen Gattung angiebt und er wird es deutlicher thun, wenn er ihn als einen Menschen, als wenn er ihn als ein Geschöpf bezeichnet. Wenn er ihn aber nach einer andern Kategorie bezeichnet, so wird er nicht gehörig angegeben haben, was dieser Mensch ist; z.B. wenn er von ihm angäbe, dass er weiss sei, oder dass er laufe, oder sonst etwas der Art. Deshalb werden mit Recht nur diese allein von den andern Kategorien Dinge genannt. Ferner werden die Dinge erster Ordnung hauptsächlich deshalb Dinge genannt, weil sie das Unterliegende für alle andern Kategorien abgeben, und so wie sich die Dinge erster Ordnung zu allem Anderen verhalten, so verhalten sich die Arten und Gattungen zu allen übrigen Kategorien; denn alle diese übrigen werden von ihnen ausgesagt. Denn wenn man diesen bestimmten Menschen einen sprachgelehrten nennt, so wird man auch den Menschen und das Geschöpf sprachgelehrt nennen. Gleiches gilt für die andern Kategorien.“

Aristoteles: Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen 5[2]

In der später entstandenen Metaphysik treten in den Kategorien die Einzeldinge zwar weiterhin als Substanzen auf, die zweiten Substanzen jedoch nicht mehr. Im Zentrum stehen nun die Fragen „Was ist im höchsten Maße wirklich?“ bzw. „Was ist die ousía der Einzeldinge?“ Aristoteles' Antwort lautet in Metaphysik Zeta: die Form, das eidos.

Der Substanzbegriff in der christlichen Theologie

Symbol der verschiedenen Aspekte der Trinität (blau: Dreifaltigkeit, türkis: Dreieinigkeit, grün: Monotheismus)

Gemäß der christlichen Theologie ist die sich in den drei göttlichen Personen (Hypostasen) offenbarende Trinität die eigentliche Ursubstanz allen Seins.

Wenn man etwa in der Scholastik von „stofflichen Substanzen“ sprach, meinte man nicht etwa, dass der Stoff die Substanz sei, sondern vielmehr, dass diese - als das eigentliche geistige Wesen des Stoffes - erst von ihrer sinnlich erfahrbaren stofflichen Grundlage durch die Vernunfttätigkeit losgelöst werden müsse, um erkannt zu werden. Heute wird der Begriff Substanz aber allgemein im genau gegenteiligen Sinn als materielle Substanz verstanden, d.h. als der Stoff selbst, der die einzig wirkliche Grundlage der ganzen Welt darstellen soll, während alles Seelische und Geistige nur als abgeleitetes Epiphänomen an der entsprechend organisierten Materie erscheinen soll und ohne materieller Grundlage nicht bestehen könne. Für eine tiefergehende geistige Betrachtung ist diese Ansicht nicht haltbar, und ihr gemäß muß man nicht nur von eigenständigen seelischen und geistigen Substanzen sprechen, sondern diesen sogar noch einen wesentlich höheren Wirklichkeitscharakter zumessen als der physischen Substanz. Denn das eigentlich wirkende Prinzip in der ganzen Welt ist der Geist.

Der mittelalterlichen Scholastik gilt Gott selbst als die einfachste, grundlegendste, aber zugleich am schwersten unmittelbar zu erkennende Ursubstanz alles Seins. So schreibt Thomas von Aquin:

"Von den Substanzen aber sind einige einfach und einige zusammengesetzt, und in beiden ist Wesen, aber in den einfachen in wahrerer und vorzüglicherer Weise, insofern sie auch vorzüglicheres Sein haben: sie sind nämlich die Ursache dessen, was zusammengesetzt ist, wenigstens die erste einfache Substanz, die Gott ist. Aber weil die Wesen jener (einfachen) Substanzen für uns verborgener sind, daher muß man mit den Wesen der zusammengesetzten Substanzen beginnen, damit das Verfahren vom Leichteren her angemessener wird." (Lit.: Thomas v. Aquin, Kapitel 1)

Gemäß dieser Erkenntnis wurzelt die Wirklichkeit in der einen göttlichen Ursubstanz, die sich weiter in eine geordnete Hierarchie individueller Geistwesen gliedert, die durch ihr tätiges Zusammenwirken die Erscheinungen der äußeren Schöpfung hervorbringen, die in abnehmendem Grad die wesenhafte Ursubstanz als mehr oder minder wesenloses Abbild widerspiegeln. Die als völlig wesenlos erscheinende Materie steht dabei auf der untersten Sprosse dieser Sufenleiter und erweist sich dadurch als reine Potentialität.

Geist und Substanz

Der Phönix in Flammen, Detail aus dem Aberdeen Bestiary (12. Jahrhundert), als Symbol für den Geist, der sich immer wieder neu aus sich selbst heraus erschafft.

Geist ist nur das, was sich selbst aus dem Nichts erschafft, von nichts anderem geschaffen wurde und sich ausschließlich durch sich selbst erhält. Das Geistige entspricht am unmittelbarsten dem, was unter dem philosophischen Begriff Substanz verstanden werden kann. Die Substanz ist kein passiv vorfindbares Sein, sondern höchste Aktivität, durch die sie sich beständig selbst neu verwirklich und in diesem Sinn reinste und höchste Wirklichkeit ist. Alles Seelische hat demgegenüber schon einen geringeren Wirklichkeitscharakter, da das Seelische nicht durch sich selbst entstehen kann, sondern durch den schöpferischen Geist geschaffen wird. Am fernsten der geistigen Quelle der Wirklichkeit steht die materielle Substanz, die im Grunde überhaupt nicht durch sich selbst bestehen kann, sondern ein bloßes Feld von Möglichkeiten darstellt, eine reine Potentialität, die von ätherischen, seelischen und geistigen Kräften in die Erscheinung gerufen wird, wie es der Quantenphysiker und Träger des alternativen Nobelpreises (1987) Hans-Peter Dürr vor einigen Jahren in einem Interview recht plakativ ausgedrückt hat:

«In der schwerer begreifbaren Tiefe sind in der Welt des Kleinsten die "Dinge" überberhaupt keine Dinge - deshalb will die Revolution nicht in die Köpfe: "Es gibt keine Dinge, es gibt nur Form und Gestaltveränderung: Die Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt, sondern aus reinen Gestaltwesen und Potentialitäten. Das ist wie beim Geist", schließt Dürr etwas riskant: "Im Grunde gibt es nur Geist, aber er verkalkt, und wir nehmen nur den Kalk wahr, als Materie."» (Lit.: Dürr 1998)

Anthroposophie geht insofern über die metaphysische Spekulation der Scholastik hinaus, als sie die wahre Natur der seelischen und geistigen Welt nicht intellektuell erschließen will, oder sich nur auf die verstandesmäßige Interpretation der traditionell überlieferten Offenbarungsberichte stützt, sondern Wege zeigt, wie das menschliche Bewusstsein so gestärkt werden kann, dass es, ohne in mediumistische Trance zu verfallen, schrittweise der unmittelbaren Wahrnehmung der seelischen und geistigen Weltbereiche fähig wird und dabei die klare Besonnenheit des Denkens nicht verliert. Sie führt uns so nach und nach an die unmittelbare geistige Begegnung mit individuellen Geistwesen heran, wodurch wir allmählich von der Betrachtung der bloßen Erscheinung zur Erkenntnis der Wirklichkeit aufrücken können.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. „Substantia est quod in se est et per se concipitur“ Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften, Erster Band, Weismannsche Buchhandlung, Berlin 1875, S. 139 google archive.org
  2. Aristoteles: Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen. In: Zeno.org.