Wissen

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Höchstes Wissen ist, nichts zu wissen.

Wissen (auch Episteme, von griech. ἐπιστήμη, epistéme „Wissen, Wissenschaft, Erkenntnis“; lat. cognitio; eng. knowledge; ahd. wizzan, mhd. wizzen, abgeleitet von der idg. Wurzel *weid- = "sehen", von der sich auch griech. ἰδέα, idea = Vorstellung, Urbild, Idee, lat. videre = "sehen" und skrt. veda = "Wissen" herleiten) oder Kenntnis im weitesten Sinn ist die Summe der zu einem bestimmten Zeitpunkt als gesichert angenommenen Erkenntnisse einer Person oder eines Kollektivs. Die damit verbundene Gewissheit ist daher für manche Erkenntnistheoretiker ein Kennzeichen echten Wissens. Es bezeichnet in diesem Sinn zugleich das (vorläufig) abschließende Ergebnis eines auf Fakten gestützten Erkenntnisprozesses, das in Form weitgehend fertiger Gedanken übermittelt werden kann. Die so mehr oder weniger passiv aufgenommene bloße Kenntnis unterscheidet sich damit signifikant von der aktiv aus eigener Einsicht errungenen Er-kenntnis selbst dann noch, wenn sich deren Ergebnis weitgehend mit der überlieferten Kenntnis deckt.

Grundlagen

Phantasie ist wichtiger als Wissen.
Wissen ist begrenzt. Phantasie
umfasst die ganze Welt.

Albert Einstein[2]

Wer über ein umfangreiches Wissen, also über Gelehrsamkeit verfügt, wurde früher auch als Gelehrter bzw. wenn er praktisch das gesamte Wissen seiner Zeit umspannte als Universalgelehrter oder Universalwissenschaftler bezeichnet - Ausdrücke, die heute kaum mehr gebräuchlich sind. Privatgelehrte betreiben ihre Forschungen nicht im institutionalisierten Rahmen von Universitäten oder sonstigen Forschungseinrichtungen. Je nach Umfang und sachlicher Tiefe des Wissens kann man zwischen einem möglichst allseitigen Orientierungswissen und einem tiefergehenden spezifischen Fachwissen unterscheiden. Die Wissenschaften gliedern sich immer stärker in einzelne Fachgebiete und Fachbereiche bzw. Fachrichtungen, die über ein umfangreiches, aber eng begrenztes Fachwissen verfügen. Ein Ausgleich für die zunehmende Spezialisierung der einzelnen Wissensgebiete wird in den interdisziplinären Wissenschaften gesucht. Zum Verständnis eines spezifischen Problems ist über das bloße Fachwissen hinaus immer auch ein entsprechendes Hintergrundwissen notwendig, ohne welches die Bedeutung des Detailwissens nur unzureichend erfasst werden kann. Die Grundlage dafür ist ein weitgefächertes Allgemeinwissen bzw. eine möglichst umfassende Allgemeinbildung. Auch in der elektronischen Datenverarbeitung und insbesondere in der künstlichen Intelligenz wird das im Fokus stehende Vordergrundwissen im weiteren Rahmen eines entsprechenden Hintergrundwissens verarbeitet. Diesbezüglich ist der Mensch der Maschine in den meisten Fällen noch immer weit überlegen, auch wenn die Maschine in Sekundenschnelle auf das gesamte über das Internet abrufbare Wissen zugreifen kann. Ihr fehlt dazu die intuitive nicht regelbasierte bewusste Einsicht, über die der Mensch verfügt.

Wissen beruht, wie oben bereits angedeutet, nicht notwendig auf eigener tieferer Einsicht, sondern wird häufig auf bloße Autorität hin mehr oder weniger gedächtnismäßig erlernt. Aufgrund der seit Mitte des 20. Jahrhunderts rapide fortschreitenden Wissensexplosion bzw. Informationsexplosion ist dies heute bereits der Regelfall. Die ebenfalls rasch voranschreitende Spezialisierung führt überdies dazu, dass man de facto immer mehr über über weniger weiß. Der große ganzheitliche Überblick geht verloren. Dabei wird unterschieden zwischen aktivem Wissen, das dauerhaft und ständig abrufbar ist („abrufbares Wissen“), und passivem Wissen, über das man zwar implizit verfügt, aber nicht erklären oder sagen kann, wenn man danach gefragt wird, es jedoch wiedererkennt, wenn man es hört oder sieht.

Wissen und Können

Wissen bedingt nicht notwendigerweise ein entsprechendes Können, wie es etwa im guten Handwerk, in der Kunst oder im Sport unabdingbar ist.

Michael Polanyi (1891-1976) ging davon aus, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“[3]. Er unterschied zwischen dem kommunizierbaren expliziten Wissen (eng. knowledge) und dem intuitiven, erfahrungsgebundenen, weder verbalisierbaren noch formalisierbaren impliziten Wissen (auch stilles Wissen, eng. tacit knowing), das vielmehr auf einem bestimmten erübten Können beruht[4]. Polanyi zieht daraus bedeutsame wissenschaftstheoretische Konsequenzen: Explizites Wissen, wie es in den Wissenschaften gesucht wird, sei überhaupt nur auf der Grundlage eines entsprechend umfangreichen impliziten Wissens möglich und daher niemals vollständig objektivierbar. Das streng rationale Konzept des Positivismus müsse daher notwendig scheitern. In die gleiche Richtung zielt die Unterscheidung von deklarativem Wissen, das sich an Fakten orientiert und sich in klaren Aussagesätzen formulieren lässt, und dem auf die geschickte Ausführung von eingeübten Handlungsabläufen gerichteten prozeduralem Wissen (z.B. Fahradfahren, ein Musikinstrument spielen, handwerkliche Geschicklichkeit).

Wissen wird in diesem Sinn erst zur Fähigkeit, wenn es in den Leib hinein vergessen wird. Karl Bühler (1879-1963) sprach von einem „leiblich eingebundenem Handeln“, einem „Vollzugswissen“, für das er den Begriff Empraxis prägte. Rudolf Steiner gibt dafür etwa folgendes Beispiel:

„Man erinnert sich nicht aller Erlebnisse, die man in der Kindheit durchgemacht hat, während man sich die Kunst des Lesens und des Schreibens angeeignet hat. Aber man könnte nicht lesen und schreiben, wenn man diese Erlebnisse nicht gehabt hätte und ihre Früchte nicht bewahrt geblieben wären in Form von Fähigkeiten.“ (Lit.:GA 9, S. 67)

Wissen ist zumeist auch, insofern man der eigenen Erkenntnisfähigkeit oder der vermittelnden Autorität vertraut, mit dem subjektiven Empfinden der Gewissheit verbunden, was freilich noch nicht garantiert, dass unser Wissen ein wahres Abbild der Wirklichkeit in unserem Bewusstsein ist. Erkenntnistheoretisch wird Wissen seit Platon traditionell als „wahre und gerechtfertigte Meinung“ (eng. justified true belief) definiert. Die Menge des erworbenen Wissens ist kein Gradmesser für die Intelligenz; diese besteht vielmehr u. a. darin, das erworbene Wissen auch wirklich zu verstehen und in einer gegebenen Situation zielführend anwenden zu können.

Wirkliches Wissen, das über eine bloß „gerechtfertigte Meinung“ hinausgeht, entsteht erst, wenn es aktuell im gegebenen Augenblick intuitiv aus der geistigen Wirklichkeit geschöpft wird, wobei alles erlernte Wissen in diesem Moment vollkommen zu schweigen hat.

Philosophie und Anthroposophie

Schon Platon definierte das Wissen in seinem Dialog Theaitetos als wahre, gerechtfertigte Meinung[5] und unterschied verschiedene Stufen der Gewissheit von der bloßen Meinung (griech. δὀξα, dóxa) bis hin zur festen Überzeugung.

Für Max Scheler ist Wissen die Teilhabe am Sosein, d.h. am Wesen eines Seienden. Voraussetzung dafür ist die Liebe, als die das eigene Sein transzendentierende Teilnahme am Wesen des anderen.

Anthroposophie vermittelt mehr als bloßes Wissen:

"Und indem Sie ... Geisteswissenschaft treiben, lernen Sie nicht nur etwas wissen, sondern Sie wachsen hinein, etwas zu werden, was Sie sonst nicht sein würden. Das ist der Unterschied zwischen der Geisteswissenschaft und anderen Weltanschauungen. Alle anderen Weltanschauungen beziehen sich auf das Wissen, Anthroposophie bezieht sich auf das Sein des Menschen." (Lit.: GA 107, S. 258)

Kopfwissen und Herzwissen

Siehe auch: Kopfwissen und Herzwissen

„Es ist wirklich so, daß der Mensch während seiner Jugendzeit gewisse Begriffe, gewisse Vorstellungen aufnimmt, die er lernt; aber er lernt sie eben da nur. Sie sind dann Kopfwissen. Das übrige Leben, das langsamer verläuft, ist dazu bestimmt, das Kopfwissen umzuwandeln allmählich in Herzwissen - ich nenne jetzt den andern Menschen nicht den Kopfmenschen, ich nenne ihn den Herzensmenschen -, umzuwandeln das Kopfwissen in Herzenswissen, in Wissen, an dem der ganze Mensch beteiligt ist, nicht nur der Kopf. Um das Kopfwissen in Herzenswissen umzuwandeln, brauchen wir viel länger, als um uns das Kopfwissen anzueignen. Um uns das Kopfwissen anzueignen - wenn es schon ein ganz besonders gescheites Wissen ist, braucht man heute die Zeit bis in die Zwanziger jähre hinein. Nicht wahr, dann wird man ein ganz gescheiter Mensch, akademisch ganz gescheiter Mensch, aber um dieses Wissen wirklich mit dem ganzen Menschen zu vereinigen, muß man beweglich bleiben sein Leben hindurch. Und man braucht, um das Kopfwissen in Herzenswissen umzuwandeln, eben um so viel länger, als man länger lebt als bis zum siebenundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Jahre. Insofern ist man auch als Mensch eine Zwienatur. Man eignet sich rasch das Kopfwissen an und kann es dann umwandeln im Laufe des Lebens in Herzenswissen.

Zu wissen, was das eigentlich bedeutet, ist nicht ganz leicht. Und ich darf, wir sind ja unter uns, für diese Sache vielleicht eine Erfahrung des Geistesforschers anführen, durch die leichter über diese Dinge etwas gewußt werden kann als durch andere geistesforscherische Arbeiten. Man kann, wenn man sich bekannt macht mit der Sprache, welche die Menschenseelen sprechen, die durch den Tod hindurchgegangen sind, die in der geistigen Welt leben nach dem Tode, man kann, wenn man die Sprache der Toten, der sogenannten Toten einigermaßen versteht, dann die Erfahrung machen, daß die Toten sich über manche Dinge, die im Zusammenhange mit dem Menschenleben stehen, in ganz besonderer Weise ausdrücken. Die Toten haben heute schon eine Sprache, die wir Lebenden noch nicht ganz gut verstehen können. Es gehen die Verständnisse der Toten und der Lebenden heute ziemlich weit auseinander. Der Tote hat durchaus ein Bewußtsein davon, daß der Mensch sich als Kopfmensch rasch entwickelt, als Herzensmensch langsam entwickelt. Und der Tote sagt, wenn er ausdrücken will, was da eigentlich geschieht, wenn sich allmählich das rasch erworbene Kopfwissen in das langsamer verlaufende Herzenswissen einlebt: Das bloße Weisheitswissen wird umgewandelt durch die aus dem Menschen aufsteigende Herzenswärme oder Liebe. Weisheit wird im Menschen von der Liebe befruchtet. - So sagt der Tote.

Und das ist in der Tat ein tiefes, bedeutsames Lebensgesetz. Man kann das Kopfwissen rasch erwerben, man kann ungeheuer viel wissen gerade in unserer Zeit, denn die Naturwissenschaft - nicht die Naturwissenschafter, aber die Naturwissenschaft - ist in unserer Zeit recht sehr fortgeschritten und hat reichen Inhalt. Aber dieser Inhalt ist so, daß er nicht umgewandelt ist in Herzenswissen, daß das Kopfwissen überall geblieben ist; weil die Menschen - ich habe schon gestern darauf aufmerksam gemacht - das andere, was dann anrückt im Leben nach dem siebenundzwanzigsten Jahre, nicht mehr beachten, weil die Menschen nicht verstehen, alt zu werden, beziehungsweise könnte ich auch sagen: jung zu bleiben, indem sie alt werden.

Weil die Menschen die innerliche Lebendigkeit sich nicht erhalten, da erkaltet ihr Herz; es strömt die Herzenswärme nicht nach dem Kopfe hinauf, es befruchtet die Liebe, die aus dem übrigen Organismus kommt, den Kopf nicht. Das Kopfwissen bleibt kalte Theorie. Aber es braucht nicht kalte Theorie zu bleiben, es kann alles Kopfwissen umgewandelt werden in Herzenswissen. Und das ist gerade die Aufgabe der Zukunft, daß das Kopfwissen allmählich in Herzenswissen umgewandelt wird. Da wird ein wirkliches Wunder geschehen, wenn das Kopfwissen in Herzenswissen umgewandelt wird.

Man hat vollständig Recht, wenn man heute nach allen Noten die materialistische Naturwissenschaft oder namentlich die materialistische Naturphilosophie abkanzelt. Man hat vollständig Recht, aber trotzdem ist noch etwas anderes wahr: diese Naturwissenschaft, die in Haeckel, in Spencer, in Huxley und so weiter bloßes Kopfwissen geblieben ist und daher Materialismus ist, die wird, wenn sie Herzenswissenschaft werden wird, wenn sie aufgenommen werden wird vom ganzen Menschen, wenn die Menschheit verstehen wird, älter zu werden oder jünger zu werden im Ältersein, wie ich das gestern gemeint habe, dann wird diese, gerade diese Wissenschaft der Gegenwart der reinste Spiritualismus werden, die reinste Bekräftigung für den Geist und sein Dasein werden. Es gibt keine bessere Grundlage als die Naturwissenschaft der Gegenwart, wenn sie sich umwandelt in dasjenige, was dem Kopf des Menschen zufließen kann aus dem übrigen Organismus, aber jetzt aus dem geistigen Teil des übrigen Organismus. Das Wunder wird sich vollziehen, indem die Menschen lernen werden, die Verjüngung ihres Ätherleibes auch zu fühlen, so daß die materialistische Naturwissenschaft der Gegenwart Spiritualismus werden wird. Sie wird um so eher Spiritualismus werden, je mehr Leute sich finden werden, ihr ihren gegenwärtigen Materialismus, ihre materialistische Torheit vorzuhalten.“ (Lit.:GA 180, S. 237ff)

Siehe auch

Weblinks

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. „Summa scientia nihil scire“ (Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459, Siebenter Tag)
  2. „Imagination is more important than knowledge. Knowledge is limited. Imagination encircles the world.“
    What Life Means to Einstein, Interview mit Albert Einstein in: The Saturday Evening Post, October 26, 1929
  3. Polanyi 2016, S. 14
  4. vgl. Polanyi 2016
  5. Platon: Theaitetos. 201d-206b [1]