Neurodidaktik

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Neurodidaktik ist eine zusammenfassende Bezeichnung für verschiedene didaktische und pädagogische Konzepte, die sich auf die Erkenntnisse der Neurowissenschaften stützen und zumeist davon ausgehen, dass sämtliche seelischen und geistigen Leistungen des Menschen, inklusive seiner Lernfähigkeit, ausschließlich auf der Tätigkeit des Gehirns bzw. des zentralen Nervensystems beruhen. Der Begriff wurde 1993 von dem deutschen Mathematikdidaktiker Gerhard Preiß (1935-2017) eigeführt[1].

Kritik

Viele Psychologen und Pädagogen kritisieren die neurodidaktischen Konzepte teils als im Kern zu wenig neu, teils auch als viel zu praxisfern, um für den Unterricht tauglich zu sein. Namhafte Hirnforscher wie etwa Gerhard Roth weisen überdies darauf hin, dass die neurowissenschaftlichen Untersuchungsmethoden noch viel zu grob seien, um konkrete wissenschaftliche Aussagen über komplexere Lernvorgänge zu ermöglichen. Auffallend sei auch die Beliebigkeit, mit der weitreichende Schlüsse aus neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen würden. Jochen Paulus meint in einem Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT lapidar: „Der Versuch, aus der Hirnforschung Handreichungen zur Kindererziehung, gar eine eigene Neurodidaktik abzuleiten, ist im besten Falle kühn, im schlimmsten Falle schädlich.“[2]

Über die Defizite neurowissenschaftlichen Argumentierens über Pädagogik bemerkt die Erziehungswissenschaftlerin Nicole Vidal (Nicole Becker):

„Der Diskurs um die Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Schulpädagogik weist eine ungewöhnliche Struktur auf: Im Gegensatz zu üblichen Medienberichten über wissenschaftliche Erkenntnisse, geht es in diesem Diskurs nicht darum, Erkenntnisse der Neurowissenschaft für ein breites Publikum aufzubereiten, sondern hier berichten Journalisten oder Neurowissenschaftler selbst über die Implikationen ihrer Erkenntnisse für die Pädagogik. Der Fokus vieler Überschriften richtet sich daher auf Pädagogik ... und nicht auf die Neurowissenschaften. Den Neurowissenschaften wird meistens ein zentraler Platz im Untertitel zugewiesen, der eine „Belegfunktion" für die im Titel formulierte Aussage zu haben scheint. Für diese Präsentation bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an: Einerseits könnte es bedeuten, dass hier eine Bemühung um den Beginn eines interdisziplinären Dialoges stattfindet, durch den eine ,einzelwissenschaftliche Borniertheit' durchbrochen werden soll ... Andererseits - und das liegt aus mehreren Gründen näher - soll damit der Eindruck erweckt werden, als könnten die Neurowissenschaften die Sache der Pädagogik selbst in die Hand nehmen, weil sie im Gegensatz zu dieser wissenschaftlichen Kriterien folgen. Die Kooperationsbereitschaft auf Seiten der Neurowissenschaftler erscheint angesichts der Tatsache, dass die Pädagogik - und mit ihr alle Akteure aus Wissenschaft und Praxis - mit Negativzuschreibungen nur so überhäuft werden, fraglich. Spitzer zielt eine „feindliche Übernahme" der Lehr-Lern-Forschung durch die Neurowissenschaften an (vgl. Koch 2004[3]) und auch Scheich (2003)[4] glaubt, dass weder in der erziehungswissenschaftlichen Forschung, noch innerhalb der pädagogischen Praxis wesentliche Verbesserungen zu erwarten seien, wenn die Hirnforschung dort nicht zur Bezugswissenschaft erklärt werde. So könnten beispielsweise allein die Neurowissenschaften eine Evaluation bisheriger Lehr-Lern-Konzeptionen vornehmen. Gemäßigtere Positionen stellen auf neurowissenschaftlicher Seite die Ausnahme dar (vgl. Hüther 2003[5]) und auch kritische Auseinandersetzungen von journalistischer Seite sind selten (vgl. Paulus 2003; FAZ 15.08.2004[2]).“ (Lit.: Becker, S. 91f)

Aus waldorfpädagogisch-anthroposophischer Sicht erscheinen die neurodidaktischen Konzepte als verfehlt, da erstens nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Leib die physische Grundlage des Seelenlebens sei, und zweites in der Pädagogik nicht nur der Leib, sondern der ganze, aus Leib, Seele und Geist bestehende Mensch zu berücksichtigt werden müsse, einschließlich seiner spezifischen Entwicklungsbedingungen, die ja normalerweise völlig außer Acht gelassen werden.

Siehe auch

Literatur

  • Gerhard Preiß: Ein System zur Simulation natürlicher Neuronennetze mit Beiträgen zum Aufbau einer Neurodidaktik. In: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, Jg. 24, H. 3, 1992, S. 95–115.
  • Gerhard Preiß (Hrsg.): Neurodidaktik. Theoretische und praktische Beiträge. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Freiburg 10. Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1996. ISBN 3-8255-0124-8
  • Gerhard Preiß: Beiträge einer Neurodidaktik zum Mathematikunterricht an Sonderschulen. In: Gerhard Eberle/Reimer Kornmann (Hrsg.): Lernschwierigkeiten und Vermittlungsprobleme im Mathematikunterricht an Grund- und Sonderschulen. Weinheim, Deutscher Studienverlag, 1996, S. 39–63.
  • Margret Arnold: Aspekte einer modernen Neurodidaktik: Emotionen und Kognitionen im Lernprozess, Ernst Vögel Verlag 2002, ISBN 978-3896501318
  • Gerhard Friedrich, Gehrad Preiß: Neurodidaktik. Bausteine für eine Brückenbildung zwischen Hirnforschung und Didaktik. In: Pädagogische Rundschau, Jg. 57, H. 2, 2003, S. 181–199.
  • Manfred Spitzer: Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag 2006, ISBN 978-3827417237
  • Ulrich Hermann (Hrsg.): Neurodidaktik: Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen, 2. Auflage, Beltz-Verlag 2009, ISBN 978-3407255112
  • Nicole Becker: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik, Verlag Julius Klinkhardt 2011, ISBN 978-3781514362 pdf (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIP) in Kooperation mit klinkhardt.de)

Weblinks

Einzelnachweise

  1.  Gerhard Preiß: Neurodidaktik. Ein notwendiger Beitrag zur Didaktik des Jahres 2000. Kurzfassung eines Vortrags am 12.10.1992 in Trossingen zur Hauptschulwoche Baden-Württemberg „Hauptschule schafft Zukunft“. In: Lehren & Lernen. 19, Nr. H. 6, 1993, S. 40–45.
  2. 2,0 2,1 Paulus, J. (2003): Lernrezepte aus dem Hirnlabor. Die Zeit Nr. 38. Online unter: https://www.zeit.de/2003/38/B-Neurodidaktik [Stand: 02.07.2018]
  3. Julia Koch: Feindliche Übernahme. Der Spiegel Nr. 31 am 26.07.2004, S. 118-199. Online unter http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/lernen-feindliche-uebernahme-a-310457.html [Stand: 02.07.2018]
  4. Henning Scheich: Lernen unter der Dopamindusche. Was uns Versuche an Mäusen über die Mechanismen des menschlichen Gehirns verraten. Die Zeit Nr. 39. Online unter: https://www.zeit.de/2003/39/Neurodidaktik_2 [Stand: 02.07.2018]
  5. Hüther, G. (2003): Bittere Erfahrung. Frankfurter Rundschau am 07.10.2003, S. 31