Numen

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Numen (lat. numen „Wink, Geheiß, Wille, göttlicher Wille“) ist ein Fachbegriff der Religionswissenschaft, der von Rudolf Otto eingeführt wurde. Er bezeichnet die Anwesenheit eines absolut transzendenten, „gestaltlos Göttlichen“. Das Numinose bezieht sich auf das Gefühl der Ehrfurcht, des Ehrfurchtgebietenden oder des Heiligen in Bezug auf eine übernatürliche oder spirituelle Präsenz. Dieser Begriff wird oft verwendet, um das Unerklärliche oder Übernatürliche zu beschreiben, das in verschiedenen Formen der Spiritualität und Religion vorkommt. Es kann auch auf Erfahrungen außerhalb der religiösen oder spirituellen Sphäre angewendet werden, wie zum Beispiel auf Kunstwerke oder Naturphänomene, die ein ähnliches Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht hervorrufen.

Römischer Kult

In der älteren römischen Religion bezeichnet Numen mehr das Wirken und den Willen einer Gottheit als diese selbst. Dieses Numen konnte Naturerscheinungen wie einem Fluss, einem Baum oder einem Stein innewohnen (siehe auch Animismus). Personifizierte Gottheiten gab es in dieser ursprünglichen römischen Religion nicht.[1] Erst ab der Kaiserzeit konnte das Wort auch synonym für „Gottheit“ gebraucht werden. Im römischen Kaiserkult wurde das numen Augusti verehrt, das nicht der Person des amtierenden Kaisers galt, sondern dem im Kaiser inhärenten Wirken der Götter.[2]

Moderne Terminologie

Religionswissenschaft

Rudolf Otto (1869–1937) entlehnte den Begriff Numen bzw. das Numinose aus dem Lateinischen, um das Göttliche, das Wunder des Seins zu beschreiben, losgelöst von allen Assoziationen, die von Wörtern der „natürlichen“ Sprache ausgehen. Für ihn ist das Numen außerhalb der menschlichen Realität und steht für die Sphäre des Heiligen. Es kann deshalb weder bewiesen noch widerlegt werden. Es lässt sich nur durch dessen Erfahrung wahrnehmen, und zwar entweder als mysterium tremendum (Schauder, Furcht) oder mysterium fascinans (Anziehung).

C. S. Lewis, der einer der einflussreichsten christlichen Apologeten des 20. Jahrhunderts war und heute vor allem für seine mittlerweile auch verfilmte Kinderbuchserie Die Chroniken von Narnia bekannt ist, bezieht sich in vielen seiner Schriften auf den Begriff des Numinosen, insbesondere in seinem Buch Das Problem des Schmerzes, wo er schreibt:

„In allen entwickelten Religionen finden wir drei Stränge oder Elemente, und im Christentum ein weiteres. Das erste dieser Elemente ist das, was Professor Otto die Erfahrung des Numinosen nennt. Diejenigen, die diesen Begriff noch nicht kennen, können ihn mit dem folgenden Kunstgriff kennen lernen. Angenommen, man würde Ihnen sagen, dass sich im Nebenzimmer ein Tiger befindet: Sie wüssten, dass Sie in Gefahr sind, und würden wahrscheinlich Angst empfinden. Wenn man Ihnen aber sagen würde: "Im Zimmer nebenan ist ein Gespenst", und Sie würden es glauben, würden Sie in der Tat das empfinden, was man oft als Angst bezeichnet, aber von einer anderen Art. Sie würde nicht auf dem Wissen um die Gefahr beruhen, denn niemand hat in erster Linie Angst davor, was ein Gespenst ihm antun könnte, sondern vor der bloßen Tatsache, dass es ein Gespenst ist. Es ist eher "unheimlich" als gefährlich, und die besondere Art der Angst, die es auslöst, kann man als Furcht bezeichnen. Mit dem Unheimlichen ist man am Rande des Numinosen angelangt. Nehmen wir nun an, man würde Ihnen einfach sagen: "Es ist ein mächtiger Geist im Raum", und Sie würden es glauben. Ihre Gefühle wären dann noch weniger wie die bloße Angst vor der Gefahr: aber die Beunruhigung wäre tiefgreifend. Sie würden Verwunderung und ein gewisses Zurückschrecken empfinden - ein Gefühl der Unzulänglichkeit, um mit einem solchen Besucher fertig zu werden, und der Niederwerfung vor ihm - ein Gefühl, das in Shakespeares Worten ausgedrückt werden könnte: "Unter ihm beugt sich mein Genius scheu"[3]. Dieses Gefühl kann als Ehrfurcht bezeichnet werden und das Objekt, das es hervorruft, als das Numinose.“

C. S. Lewis: The Problem of Pain, S. 6-7[4]

In der Religionswissenschaft bezeichnet Numen eine Macht oder Kraft, die auf die Natur und den Menschen einwirkt, so wie Schicksal, Fruchtbarkeit, Wachstum, Macht, Tod. Wird diese Kraft personalisiert, spricht man von einer Gottheit, einem Dämon oder einem sonstigen Geistwesen. Diese sind dennoch nicht identisch mit der Kraft, sondern lediglich deren Vertreter, Träger oder Beherrscher und zum Teil selbst ihnen unterworfen. Während der Mensch den numinosen Kräften ausgeliefert ist, vermag er durch Verehrung jener mehr oder weniger personalisierten Wesen einen indirekten Einfluss auf die numinosen Kräfte zu gewinnen.

Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James untersuchte in seinem Werk „The Varieties of Religious Experience“ verschiedene Formen der religiösen Erfahrung, einschließlich des Numinosen. Er beschrieb es als eine Erfahrung von Ehrfurcht und Überwältigung, die eine tiefgreifende Wirkung auf das menschliche Leben haben kann.

Der rumänische Religionshistoriker und Philosoph Mircea Eliade untersuchte das Phänomen der religiösen Erfahrung in verschiedenen Kulturen und betrachtete das Numinose als einen zentralen Aspekt dieser Erfahrung. Sein Werk „Das Heilige und das Profane“ ist ein bekanntes Beispiel dafür.

Der deutsche Theologe und Philosoph Paul Tillich betrachtete das Numinose als eine Erfahrung des „unbedingten Seins“, das in jeder Form von Existenz und Realität präsent ist. Sein Werk „Dynamik des Glaubens“ beschäftigt sich ausführlich mit diesem Thema.

Ethnologie und Volkskunde

Ähnlich wird Numen in der Ethnologie gebraucht. Hier bezeichnet es die magische Kraft, die in einem Objekt, Tier oder Menschen sitzen soll. Dieses Konzept entspricht unter anderem dem polynesischen Mana, dem Orenda der Irokesen oder dem Manitu der Algonkinvölker.

In der volkskundlichen Erzählforschung findet der Begriff vorzugsweise Verwendung im Zusammenhang mit Sagen, ebenso in der Phänomenologie der Märchen.[5]

Psychologie

In der Tiefenpsychologie wurde der Begriff durch Carl Gustav Jung in die analytische Psychologie eingeführt, da nach Jung Archetypen dem Bewusstsein als numinos erscheinen. Unabhängig davon wird der Begriff auch vom Neopsychoanalytiker Erik H. Erikson verwendet, der den Terminus im Zusammenhang mit dem frühkindlichen Ritualismus verwendet.

Literatur

Weblinks

 Wiktionary: Numinosum – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Michael Grant: Mythen der Griechen und Römer, 1962/2004, S. 441 f.
  2. Duncan Fishwick: Numen Augusti. In: Britannia 20 (1989), S. 231–234.
  3. William Shakespeare. Macbeth 3. Akt, 1. Szene zeno.org
  4. „In all developed religion we find three strands or elements, and in Christianity one more. The first of these is what Professor Otto calls the experience of the Numinous. Those who have not met this term may be introduced to it by the following device. Suppose you were told there was a tiger in the next room: you would know that you were in danger and would probably feel fear. But if you were told ‘There is a ghost in the next room’, and believed it, you would feel, indeed, what is often called fear, but of a different kind. It would not be based on the knowledge of danger, for no one is primarily afraid of what a ghost may do to him, but of the mere fact that it is a ghost. It is ‘uncanny’ rather than dangerous, and the special kind of fear it excites may be called Dread. With the Uncanny one has reached the fringes of the Numinous. Now suppose that you were told simply ‘There is a mighty spirit in the room’, and believed it. Your feelings would then be even less like the mere fear of danger: but the disturbance would be profound. You would feel wonder and a certain shrinking—a sense of inadequacy to cope with such a visitant and of prostration before it—an emotion which might be expressed in Shakespeare’s words ‘Under it my genius is rebuked’. This feeling may be described as awe, and the object which excites it as the Numinous.“
    C. S. Lewis: The Problem of Pain, Grapevine India Publishers 2022, ISBN 978-9356612365; eBook HarperOne 2009 ASIN B002BD2USY
  5. LÜTHI, Max (1974) Das europäische Volksmärchen. UTB 321 Francke
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