Neugier

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Neugier, hinter die Dinge zu schauen. Flammarions Holzstich, Paris 1888

Neugier (auch Neugierde) ist das als ein Reiz auftretende Verlangen, Neues zu erfahren und insbesondere, Verborgenes kennenzulernen.[1]

Abgrenzungen

Neugier kann ausgerichtet sein auf permanent wechselnde Ereignisse, um dadurch eine Lust an Sensationen befriedigen zu können. Bei dieser Begriffsvariante sind emotionale und motivierende Anteile hoch.

Ist die Neugier auf ein Interesse an Wissen ausgerichtet, stehen forschungs- oder verstandesmäßige Anteile im Vordergrund. Diese Form der Neugier wird auch Wissbegierde genannt (historisch Philomathie von gr. philomathía).

Krankhafte Neugier wird Skopophilie genannt.[2]

Wirkung auf den Astralleib

„Bei Neugier entstehen Falten im Astralleib, die ihn schlaff, widerstandslos machen. Diese Schlaffheit kann sich bis ins Physische fortsetzen.“ (Lit.:GA 266a, S. 432)

Kulturgeschichte

Seit jeher machen Menschen die Erfahrung, dass die Erkundung von Neuem oft mit Gefahren verbunden ist, aber auch Chancen eröffnet. Angst ist dabei nicht in jedem Fall ein dämpfender Faktor für die Neugier, sondern kann sie auch beflügeln, – etwa als Suche nach dem „ultimativen Kick“ in der heutigen Freizeitgesellschaft.

Für Herodot war die Neugier nach historischen Zusammenhängen das Hauptmotiv dafür, Geschichtsschreiber zu werden. Für die ionischen Naturphilosophen war sie der Antrieb, „hinter die Dinge“ schauen zu wollen, ebenso für Platon, für den das „Staunen“ (griechisch „thaumazein“) den Anfang aller Philosophie darstellte. Zitat:

„Das Staunen ist die Einstellung eines Mannes, der die Weisheit wahrhaft liebt, ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“

Platon: Theaitetos 155 D

Der Ägyptologe Jan Assmann charakterisiert die kulturelle Begegnung des antiken Griechenland mit Ägypten als eine einseitige Neugier: In einer Rezension seiner Studie Weisheit und Mysterium heißt es dazu:

„An den Beispielen erkennt man schon, dass unterschiedlicher zwei benachbarte Kulturen kaum sein können. Doch zogen sie einander an. Ob es um Theologie und Priestertum ging, um die Verfasstheit von Staat und Gesellschaft, um den Umgang mit Vergangenheit und Geschichte, um das Medium der Schrift oder um das Verhältnis zu Tod und Ewigkeit: Assmann zeigt, dass Griechen und Ägypter sich austauschten, einander umwarben, missverstanden, sich voneinander abgrenzten.“[3]

Augustinus verortet das Zentrum der Neugier in den Augen. Das Sehen habe stärker als andere Sinne die Tendenz, in die Ferne zu schweifen. Es gehe über den Körper und die unmittelbare Umgebung des jeweiligen Menschen hinaus, könne aber genauso ein Vorausschauen und Zurückblicken sein und damit die Gegenwart transzendieren. Doch letzten Endes bleibt für ihn die Neugier ein Laster:

„Und die Neu-Gier tarnt sich als Wissensdrang, obwohl doch höchste Erkenntnis um alles bei Dir ist. Habsucht will viel besitzen; aber Du hast allen Reichtum um dich versammelt.“[4]

Im Mittelalter zählt Thomas v. Aquin die Neugier (curiositas) zu den Lastern, die er der Tugend der Wissbegier (studiositas) gegenüberstellt.[5]

Neugier und Gefahr, Paulinchen aus Struwwelpeter

In der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurde die Neugier hauptsächlich als eine weibliche Eigenschaft angesehen. In dem Buch Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann wird die Neugier in der Geschichte von Paulinchen dargestellt, die den Titel trägt Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug.[6] Ihr Experiment mit den Streichhölzern endet tragisch. Auch das dem Bestseller folgende Buch Struwwelliese geht in diese Richtung. Was damals teilweise geächtet wurde, gilt heute oft als zeitgemäß: Eine Befriedigung der Neugier im Abenteuertourismus oder in Gestalt sogenannter „Grenzgänger“.

Gegenwart

Der Autor, Kolumnist und Essayist Harald Martenstein schrieb 2012:

„jede halbwegs interessante Person und jede alltägliche Handlung [ist] heute ein Gegenstand nahezu ununterbrochener Beobachtung […], nicht zuletzt wegen der Leserreporter, aber auch wegen der tausend Möglichkeiten des Internets und wegen der Handykameras. Vor allem aber deshalb, weil der Mensch ein neugieriges Wesen ist und weil die Neugierde, wie jedes Bedürfnis, sich in einer Warengesellschaft ökonomisch nutzen lässt. […] Vor der Tugendwacht ist niemand sicher, nicht der Jugendliche mit alterstypischem Erfahrungshunger, nicht der Ehemann auf Abwegen, auch nicht die junge Mutter.“[7]

Psychologie

In der Persönlichkeitspsychologie gilt (intellektuelle) Neugier als wichtiger Teilaspekt der Persönlichkeitseigenschaft Offenheit (openness). Sie ist eingebettet in das breitere Konzept der Offenheit für vielfältige Erfahrungen (openness to experience) und korreliert moderat mit Intelligenz und Kreativität.[8]

Im Zusammenhang mit Neugier wird in der Psychologie häufig Berlyne zitiert, der (tier-)experimentelle Studien durchgeführt hat. Ein Ergebnis bezog sich auf die Frage, welche situativen Bedingungen eine Neugier hervorrufen könne. Berlyne fand dafür die vier Aspekte[9]

Außerdem unterscheidet Berlyne einerseits zwischen spezifischer und diversiver Neugier, andererseits zwischen perzeptueller und epistemischer Neugier. Nach Berlynes Aktivationstheorie wird dabei spezifisches Neugierverhalten eher dann gezeigt, wenn ein Organismus vielen Umweltreizen ausgesetzt ist. Man widmet sich hierbei einzelnen Aspekten der Umwelt, um sie zu erkunden und damit das subjektive Reizniveau zu senken. Finden sich zu wenig Reize in der Umwelt, zeigt ein Organismus diverses Reizverhalten, er sucht also nach neuen Reizen in der Umwelt, um Langeweile abzubauen. Ein mittleres Reiz- oder Aktivationsniveau empfindet man hingegen als angenehm.[10]

Eine Studie von 2015 zeigt, dass Menschen, um Unklarheiten zu beseitigen, gewillt sind, Neues zu erforschen, auch wenn es negative Konsequenzen haben kann.[11]

Siehe auch

Literatur

  • D. E. Berlyne: Conflict, arousal, and curiosity. McGraw-Hill, New York NY u. a. 1960 (Deutsch: Konflikt, Erregung, Neugier. Zur Psychologie der kognitiven Motivation. Klett, Stuttgart 1974, ISBN 3-12-920610-8).
  • Donata Elschenbroich (Hrsg.): Anleitung zur Neugier. Grundlagen japanischer Erziehung (= Edition Suhrkamp 1934 = NF Bd. 934). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-11934-6.
  • Neil Kenny: The Uses of Curiosity in Early Modern France and Germany. Oxford University Press, Oxford u. a. 2004, ISBN 0-19-927136-4.
  • Carolin Duttlinger, Johannes Birgfeld (Hrsg.): Curiosity in German Literature and Culture from 1700 to the Present (= Oxford German Studies. Vol. 38, Nr. 2, ISSN 0078-7191). Maney, London 2009.
  • Rudolf Steiner: Aus den Inhalten der esoterischen Stunden, Band I: 1904 – 1909, GA 266/1 (1995), ISBN 3-7274-2661-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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Weblinks

 Wikiquote: Neugier – Zitate
 Wiktionary: Neugier – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Wiktionary: Neugierde – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Johannes Hoffmeister: Wörterbuch philosophische der Begriffe. Meiner, Hamburg 1955, Lemma Neugier.
  2. Skopophilie = krankhafte Neugier, Duden.
  3. Einseitige Neugier. In: Berliner Zeitung vom 20. September 2000
  4. Augustinus: Bekenntnisse (Confessiones), 397-401. Zweites Buch: Über die Laster.
  5. Summa theologiae, Teil II-II, Qu. 166, Art. 1-2
  6. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter. 56. Auflage. CBJ, München 1968, nicht paginiert.
  7. zeit.de 16. Juni 2012: Der Terror der Tugend. - Du sollst nicht rauchen. Du sollst keine Geheimnisse haben. Du sollst tun, was alle tun. Und denk daran: Du wirst beobachtet! Wie der Glaube an das aufgezwungene Gute mithilfe von Gesetzen, Verordnungen und medialer Überwachung eine moderne Diktatur erschafft.
  8. Robert R. McCrae: Openness to Experience: Expanding the boundaries of Factor V. In: European Journal of Personality. 8(1994)4, S. 251–272.
  9. D. E. Berlyne: Konflikt, Erregung, Neugier. Zur Psychologie der kognitiven Motivation. Klett, Stuttgart 1960 u. 1974.
  10. Klaus Rothermund, Andreas Motivation und Emotion. VS Verlag, 2011.
  11. Christopher K. Hsee, Bowen Ruan: The Pandora Effect. The Power and Peril of Curiosity, Psychological Science, 21. März 2016, doi:10.1177/0956797616631733


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