Lebenssinn

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Der Lebenssinn ist einer der zwölf physischen Sinne, von denen Rudolf Steiner in seiner Sinneslehre gesprochen hat. Durch den Lebenssinn nehmen wir unsere allgemeine innere körperliche Verfassung wahr. Die Wahrnehmung der inneren Organtätigkeit, die normalerweise weitgehend unbewusst bleibt, wird heute in der Medizin als Viszerozeption (von lat. viscera „Eingeweide“ und recipere „aufnehmen“) bezeichnet. Sie wird durch entsprechende Viszerozeptoren vermittelt, die für Reize aus aus dem Eingeweidesystem und aus dem Brustraum empfänglich sind. Auf diese Weise werden etwa Hunger, Durst, Harndrang oder Eingeweideschmerzen wahrgenommen. Auch das sogenannte „intuitive“ Bauchgefühl hängt damit zusammen.

Da Störungen der Leibestätigkeit sich oft auch in mehr oder weniger spezifischen Schmerzerlebnissen ausdrücken, kann man auch vom Schmerzsinn sprechen. Gewebeschädigungen und Verletzungen durch mechanische, thermische und chemische Einwirkungen werden durch die freien sensorischen Nervenendigungen entsprechender Nozizeptoren (von lat. nocere, „schaden“) registriert, die in fast jedem Gewebe des menschlichen Körpers vorhanden sind.

Zönästhesie

In der Medizin werden dumpfe, oft schwer lokalisierbare Körperwahrnehmungen als Zönästhesie (von griech. κοινος koinos „allgemein“ und αἴσθησις aísthēsis „Wahrnehmung, Empfindung“) oder Gürtelgefühl bezeichnet. Gebräuchliche synonyme Bezeichnungen sind auch: Lebensgefühl, Leibempfindung, Leibgefühl, Vitalgefühl oder Gemeinempfindung. Grundsätzlich geht es dabei um eine mehr oder weniger allgemeine Empfindung oder Wahrnehmung des eigenen Leibes und dessen Befindlichkeit. Typische Wahrnehmungen in diesem Bereich sind Hunger, Durst, Übelkeit, Brechreiz, Harndrang, sexuelle Erregung usw. Bei verschiedenen psychischen Störungen können auch Zönästhesien auch als Halluzinationen auftreten.

Der Begriff „Coenästhesie“ wurde 1794 von dem Hallenser Psychiater Johann Christian Reil (1759–1813) und seinem Doktoranden Hübner geprägt[1] und später von René A. Spitz (1887–1974) aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie vor allem in Hinblick auf die Mutter-Kind-Beziehung beleuchtet[2][3]. Auch der französischen Psychiater Ernest Dupré (1862–1921) gebrauchte häufig diesen Ausdruck[4].

Carl Gustav Jung sah in der Zönästhesie einen höheren Vorstellungskomplex, der mit der Wahrnehmung des eigenen Ichs zusammenhängt[5]. Tatsächlich bildet der Lebenssinn eine wesentliche Grundlage für das Ich-Gefühl.

Die Funktion des Lebenssinns aus geisteswissenschaftlicher Sicht

Beim gesunden Menschen vermittelt der Lebenssinn dem Menschen ein inneres Empfinden von Behaglichkeit:

„Im Ganzen lebt sich beim gesunden Menschen der Lebenssinn als Behaglichkeit aus. Jenes Durchdrungensein von Behaglichkeit, erhöht nach einer würzigen Mahlzeit, etwas herabgestimmt beim Hunger, dieses allgemeine innerlich Sich-Fühlen, das ist die in die Seele hineingestrahlte Wirkung des Lebenssinnes.“ (Lit.:GA 199, S. 54)

Bedeutsam ist auch, dass sich der Mensch durch die dumpfe Wahrnehmung des Lebenssinns als ein den Raum erfüllendes, leibliches Selbst empfindet. Verstärkt tritt diese normalerweise sehr unterschwellige Empfindung bei Mattigkeit, Ermüdung, allgemeinem Unwohlsein und Krankheit auf, also bei Störungen der regulären Lebensprozesse. Ein verstärktes Bewusstsein tritt auf, wenn der Ätherleib nicht wie gewohnt ausreichend in den physischen Leib eingreifen kann und seine Tätigkeit daher vermehrt in den Astralleib zurückgespiegelt wird.

„Der Mensch bemerkt das Dasein dieses Sinnes eigentlich nur dann recht, wenn durch ihn etwas wahrgenommen wird, was in der Leiblichkeit die Ordnung durchbricht. Der Mensch fühlt Mattigkeit, Ermüdung in sich. Er hört nicht die Ermüdung, die Mattigkeit; er riecht sie nicht; aber er nimmt sie in demselben Sinne wahr, wie er einen Geruch, einen Ton wahrnimmt. Solche Wahrnehmung, die sich auf die eigene Leiblichkeit bezieht, soll dem Lebenssinn zugeschrieben werden. Sie ist im Grunde beim wachenden Menschen immer vorhanden, wenn sie auch nur bei einer Störung recht bemerkbar wird. Durch sie empfindet sich der Mensch als ein den Raum erfüllendes, leibliches Selbst.“ (Lit.:GA 45, S. 22f)

Auch der Neurowissenschaftler Antonio Damasio sieht in diesem leiblich empfundenen Selbst, das er als „Protoselbst“ bezeichnet, die Grundlage des Selbstbewusstseins, ja des Bewusstseins überhaupt. Diese primäre Selbstempfindung spiegelt sich durch entsprechende Akivitäten im oberen Hirnstamm wider. Dann entwickelt sich „das von Handlungen getriebene Kern-Selbst und schließlich das autobiografische Selbst, das auch soziale und spirituelle Dimensionen einschließt[6]. Das „Kern-Selbst“ stützt sich offenbar hauptsächlich auf den Eigenbewegungssinn. Auch der Gleichgewichtssinn ist bedeutsam.

Ursprünglich war der Lebenssinn dazu bestimmt, dass sich unser Astralleib innerlich wahrnimmt, erlebt an unserem Lebensorganismus. Durch den luziferischen Impuls wurde das dazu umgestaltet, dass wir unsere innere Leibesverfassung als Wohlgefühl oder Missgefühl erleben.

„Das, was Organ des Lebenssinns ist, wodurch wir unsere inneren Gebilde, unsere innere Verfassung erlebend wahrnehmen, das ist nun umgestaltet worden durch einen luziferischen Einfluß; denn ursprünglich waren wir in dieser Beziehung nur bestimmt, daß sich unser astralischer Leib innerlich wahrnimmt, erlebt an unserem Lebensorganismus. Nun ist aber hineingemischt worden die Fähigkeit, die innere Leibesverfassung, die innere Verfassung als Wohlgefühl oder Mißgefühl zu erleben. Das ist luziferischer Impuls, der dort hineingemischt ist. Wie das Ich zusammengespannt wird mit dem Tasten, so wird der astralische Leib mit dem Wohl- oder Mißgefühl unserer Lebensverfassung zusammengespannt.“ (Lit.:GA 170, S. 251f)

Die Tätigkeit des Lebenssinns beruht wesentlich darauf, dass der mit dem physischen Leib zusammenwirkende Ätherleib wie ein Schwamm von dem höchsten Wesensglied des Menschen, dem Geistesmenschen (Atma), durchdrungen wird.

„Worauf beruht eigentlich im wahren Geiste des Wortes dieser Lebenssinn? - Da müssen wir ziemlich tief hinuntersteigen in die unterbewußten Untergründe des menschlichen Organismus, wenn wir uns ein Bild von dem machen wollen, woraus das entspringt, was Lebenssinn genannt wird. Wir können hier natürlich alles nur skizzieren. Zunächst ist vorhanden ein eigenartiges Zusammenwirken des physischen Leibes mit dem Ätherleib. Diese Tatsache ergibt sich, wenn man mit geisteswissenschaftlicher Forschung versucht festzustellen, was dem Lebenssinn zugrunde liegt. Es ist wirklich so, daß das unterste Glied der menschlichen Wesenheit, der physische Leib, und der Lebensleib in ein ganz bestimmtes Verhältnis treten zueinander. Das geschieht dadurch, daß im Ätherleibe etwas anderes auftritt und sich in ihn hineinsetzt, ihn sozusagen durchtränkt. Der Ätherleib wird durchzogen und durchflössen von etwas anderem. Dieses andere ist etwas, was der Mensch im Grunde genommen heute bewußterweise in sich noch gar nicht kennt. Die Geisteswissenschaft jedoch kann uns sagen, was dadrinnen im Ätherleibe wirkt und ihn durchtränkt wie Wasser einen Schwamm, bildlich gesprochen. Wenn man dies geisteswissenschaftlich untersucht, so findet man, daß es gleich ist dem, was der Mensch einstmals in ferner Zukunft als den Geistesmenschen oder das Atma entwickeln wird. Heute hat er dieses Atma noch nicht von sich selber aus in sich; es muß ihm noch aus der umliegenden geistigen Welt sozusagen erst verliehen werden. Es wird ihm verliehen, ohne daß er bewußten Anteil daran nehmen kann. Später, in einer fernen Zukunft, wird er es in sich selbst entwickelt haben. Der Geistesmensch oder Atma ist es also, was da den Ätherleib durchdringt und durchsetzt. Was tut nun dieses Atma im Ätherleib? Heute ist der Mensch noch nicht in der Lage, einen Geistesmenschen oder Atma in sich zu haben, denn in der gegenwärtigen Zeit ist dies noch eine übermenschliche Wesenheit in dem Menschen. Dieses Übermenschliche, das Atma, drückt sich dadurch aus, daß es den Ätherleib zusammenzieht, ja zusammenkrampft. Wenn wir dafür ein Bild aus der äußeren Sinnes weit gebrauchen wollen, so könnten wir es etwa vergleichen mit der frostigen Wirkung der Kälte. Was einst das höchste Glied des Menschen sein wird, wozu er heute noch nicht reif ist, das krampft ihn zusammen. Die Folge davon, daß eben der Ätherleib sich zusammenkrampft, ist, daß der Astralleib des Menschen, das Astralische, wie ausgepreßt wird, und in dem Maße, wie der Ätherleib zusammengepreßt wird, wird auch der physische Leib gespannt. Es treten in ihm frostige Spannungen auf. Es ist also so, wie wenn Sie einen Schwamm ausdrücken. Der astralische Leib macht sich sozusagen Luft, wird herausgepreßt, herausgedrückt. Die Vorgänge im astralischen Leibe sind nun Gefühlserlebnisse, Erlebnisse der Lust und Unlust, der Freude und des Schmerzes und so weiter. Dieser Vorgang des Herausgedrücktwerdens ist es, was sich als Lebensgefühl in uns kundgibt, als Freiheitsgefühl zum Beispiel, als Kraftgefühl, als Gefühl von Mattigkeit.“ (Lit.:GA 115, S. 35f)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1.  Jürgen Court, Arno Müller: Jahrbuch 2014 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Sportwissenschaft e.V.. LIT Verlag Münster, 2016, ISBN 9783643132451, S. 71 (eingeschränkte Vorschau in der Google Buchsuche).
  2. Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6; S. 94 (Stichwort: „coenaesthetisch“)
  3. René A. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Klett, Stuttgart 1974
  4. Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 3. Auflage, Urban & Schwarzenberg, München 1984 (Stichworte: „Zönästhesie“, S. 626; „Vitale Leibempfindungen“, „Vitalgefühle“, S. 606)
  5. Carl Gustav Jung: Experimentelle Untersuchungen, Gesammelte Werke, Band 2, Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, ISBN 3-530-40077-7; Kap. XVIII. Ein kurzer Überblick über die Komplexlehre, § 1352, S. 625
  6. Damasio, S. 17