Kleiner Hüter der Schwelle

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The Dweller on the Threshold (ca. 1895). Gemälde von Reginald W. Machell (1854–1927), nach Edward Bulwer-Lyttons Roman „Zanoni“
Der Erzengel Michael besiegt den Drachen
Ausschnitt aus dem Abrahamsteppich von Halberstadt
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

An dem kleinen Hüter der Schwelle müssen wir zuerst vorbei, wenn wir den Schleier unseres inneren Seelenlebens durchdringen wollen, um zur unmittelbaren Wahrnehmung der geistigen Welt zu kommen. Auch wenn wir mit dem Tod die Schwelle übertreten, steht der er als Todesengel an unserer Seite. In etwas anderer Form kann der kleine Hüter auch als Doppelgänger erscheinen. Er ist eine abnorme Erscheinung des kleinen Hüters der Schwelle. Während die normale Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle im Zuge einer regulären Geistesschulung geschieht, tritt das Doppelgänger-Erlebnis oft spontan auf, meist ausgelöst durch eine vorangegangene starke seelische Erschütterung. Im Doppelgänger tritt uns die karmische Schuld, die als dunkler Schatten unserem Astralleib einverwoben ist, in objektiver Gestalt als ätherisches Ebenbild des physischen Leibes vor das geistige Auge. In Edward Bulwer-Lyttons «Zanoni» wird mit dem „Dweller on the Threshold” eine romanhafte Darstellung dieses kleinen Hüters der Schwelle gegeben.

„Es gibt nicht nur einen, sondern im wesentlichen zwei, einen «kleineren» und einen «größeren» «Hüter der Schwelle». Dem ersteren begegnet der Mensch dann, wenn sich die Verbindungsfäden zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb der feineren Leiber (des Astral- und Ätherleibes) so zu lösen beginnen, wie das im vorigen Kapitel gekennzeichnet worden ist. Dem «größeren Hüter der Schwelle» tritt der Mensch gegenüber, wenn sich die Auflösung der Verbindungen auch auf die physischen Teile des Leibes (namentlich zunächst das Gehirn) erstreckt.“ (Lit.:GA 10, S. 193)

Der kleine Hüter ist aus unseren guten und schlechten Taten gewoben und erscheint als zunächst dunkle, düstere Figur, die an den Geistesschüler die Forderung richtet, ihn in eine lichtvolle Gestalt zu verwandeln. Unbewusst begegnen wir ihm jedes Mal, wenn wir aus dem Schlaf erwachen. Dann verwehrt er uns den Einblick in die innere Natur unserer unteren Wesensglieder und lenkt unser Bewusstsein auf die sinnliche Außenwelt bzw. auf das Verstandesdenken ab. Er behütet uns so vor dem erschreckenden Anblick unserer niederen, düsteren, drachenhaften Natur. Solange der Mensch noch nicht reif ist, um diesen Anblick zu ertragen, wird er zurückgestoßen.

„Im Verlauf der Etappe, die man in der christlichen Einweihung die Dornenkrönung nennt, tritt ein furchteinflößendes Phänomen auf, das die Bezeichnung «Hüter der Schwelle» trägt und das man auch die Erscheinung des Doppelgängers nennen könnte. Das geistige Wesen des Menschen, gebildet aus seinen Willensströmungen, seinen Wünschen und seinen Verstandesfähigkeiten, erscheint alsdann dem Eingeweihten als Bild im Traumbewußtsein. Und dieses Bild ist manchmal abstoßend und Schrecken einflößend, denn es ist ein Ergebnis seiner guten und schlechten Eigenschaften und seines Karma; von diesem allem ist es die bildhafte Personifikation auf dem Astralplan. Das ist der schlimme Fährmann im Totenbuch der Ägypter. Der Mensch muß ihn besiegen, um sein höheres Ich zu finden. Der Hüter der Schwelle, ein Phänomen des hellsichtigen Schauens bis in die ältesten Zeiten hinein, ist der eigentliche Ursprung all der Mythen über den Kampf des Helden mit dem Ungeheuer, des Perseus und des Herakles mit der Hydra, des heiligen Georg und des Siegfried mit dem Drachen.

Der vorzeitige Eintritt der Hellsichtigkeit und die plötzliche Erscheinung des Doppelgängers oder des Hüters der Schwelle kann denjenigen, der nicht alle Vorbereitungen befolgt und alle dem Schüler auferlegten Vorsichtsmaßnahmen wahrgenommen hat, zum Wahnsinn führen.“ (Lit.:GA 94, S. 56f)

„Nehmen wir einmal an, wir könnten diesen physischen Leib in irgendeinem Momente ohne weitere Vorbereitung verlassen; irgendein Zauberkünstler würde uns dazu verhelfen, diesen physischen Leib zu verlassen, so daß er allein bleibt, daß der Ätherleib mitgeht mit dem astralischen Leibe, daß wir also in gewisser Beziehung durch ein Erlebnis hindurchgehen, das sich vergleichen läßt dem Momente des Todes. Nehmen wir an, wir könnten das ohne die Vorbereitung, von der wir gesprochen: was sind wir dann, wenn wir da draußen sind, wenn wir uns selbst gegenüberstehen? Da sind wir dasjenige, was wir im Laufe der Weltenentwickelung von Leben zu Leben geworden sind. Solange wir vom Morgen bis zum Abend im physischen Leibe stecken, korrigiert die göttliche Schöpfung des Tempels unseres physischen Leibes dasjenige, was wir uns selbst anorganisiert haben von Verkörperung zu Verkörperung im Laufe unseres Erdenlebens; jetzt aber, wo wir heraustreten, haben unser astralischer Leib und unser Ätherleib dasjenige, was sie sich erworben haben von Leben zu Leben ohne Korrektur; jetzt sehen sie so aus, wie sie aussehen müssen nach dem, was sie selbst aus sich gemacht haben. Wenn der Mensch in einem solch unvorbereiteten Zustand heraustritt aus seinem physischen Leibe, dann ist er nicht etwa ein Wesen von einer höheren, edleren, reineren Form als diejenige war, die er gehabt hat im physischen Leib, sondern ein Wesen mit all den Unvollkommenheiten, die er sich auf sein Karma geladen hat. Das alles bleibt unsichtbar, solange der Leibestempel unseren Ätherleib und astralischen Leib und unser Ich aufnimmt. Es wird sichtbar in dem Augenblick, wo wir mit den höheren Gliedern unserer Wesenheit heraustreten aus dem physischen Leibe. Da stehen, wenn wir nun zu gleicher Zeit hellsichtig werden, vor unserem Auge all die Neigungen und Leidenschaften, die wir noch haben aus dem, was wir in früheren Erdenleben gewesen sind. Man nehme einmal an, daß man im Laufe der künftigen Erdenzeit noch viele durchmachen werde; da wird man dieses oder jenes tun, dieses oder jenes vollbringen. Zu mancherlei von demjenigen, was man vollbringen wird, Hegen schon die Neigungen, die Triebe und Leidenschaften jetzt vor; man hat sie herausgebildet durch Verkörperungen in der früheren Zeit. Alles, was der Mensch fähig ist, an diesen oder jenen Dingen in der Welt zu vollbringen, alles das, dessen er sich schuldig gemacht hat gegen diesen oder jenen Menschen - was er gegen diesen oder jenen Menschen in der Zukunft abzutragen hat - , alles das ist in diesem Astralleib und Ätherleib verkörpert, wenn er heraustritt aus dem physischen Leib. Wir treten uns selber gleichsam seelisch-geistig nackt entgegen, wenn wir beim Heraustreten zugleich hellsichtig sind; das heißt wir stehen uns so vor dem geistigen Auge, daß wir jetzt wissen, um wieviel wir schlechter sind, als das sein würde, wenn wir jene Vollkommenheit erreicht hätten, welche die Götter hatten, damit sie schaffen konnten den Wunderbau unseres physischen Leibes. Wir sehen in diesem Augenblick, wie tief wir unter jener Vollkommenheit stehen, die uns vorschweben muß als unser künftiges Entwickelungsideal. Wir wissen in diesem Augenblick, wie tief wir unter die Welt der Vollkommenheit heruntergestiegen sind.

Das ist das Erlebnis, das verbunden ist mit der Erleuchtung; das ist das Erlebnis, das man die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle nennt. Dasjenige, was wirklich ist, das wird dadurch nicht mehr und nicht weniger wirklich, daß wir es sehen oder nicht sehen. Die Gestalt, die wir da sehen in diesem Augenblick, der eben geschildert worden ist, ist sonst auch da, ist sonst durchaus auch in uns steckend; aber weil wir noch nicht aus uns herausgetreten sind, weil wir uns nicht gegenüberstehen, sondern weil wir drinnen stecken, sehen wir sie nicht. Im gewöhnlichen Leben ist dasjenige, was wir in dem Augenblicke, wo wir hellseherisch aus uns heraustreten, sehen, der Hüter der Schwelle. Er behütet uns vor jenem Erlebnis, das wir erst ertragen lernen müssen. Wir müssen erst jene starke Kraft in uns haben, die uns befähigt, uns zu sagen: Es liegt eine Welt der Zukunft vor uns, und wir sehen ohne Schrecken und Grauen auf dasjenige, was wir geworden sind, denn wir wissen ganz gewiß, daß wir alles das wiederum ausgleichen können. - Die Fähigkeit, die wir haben müssen, um diesen Moment zu erleben, ohne daß wir von ihm niedergedrückt werden, diese Fähigkeit müssen wir uns während der Vorbereitung zur hellseherischen Forschung aneignen. Diese Vorbereitung besteht darin - wiederum sagen wir es heute im Abstrakten, wir werden auf das Konkrete noch einzugehen haben -, daß wir insbesondere die aktiven, die positiven Eigenschaften unserer Seele stark und energisch machen, daß wir unseren Mut, unser Freiheitsgefühl, unsere Liebe, unsere Energie des Denkens, unsere Energie des klarsichtigen Intellekts so steigern, als wir sie nur steigern können, so daß wir nicht als schwache, sondern als starke Menschen heraustreten aus unserem physischen Leibe. Wenn aber von demjenigen, was man im gewöhnlichen Leben als Angst und Furcht kennt, zu viel im Menschen vorhanden ist, so wird er nicht ohne Bedrückung dieses Erlebnis überstehen können.“ (Lit.:GA 113, S. 40ff)

Wer sich auf den geistigen Schulungsweg begibt, muss dem Hüter früher oder später bewusst gegenübertreten – und das ist dann ein zwar bildhaftes, aber trotzdem sehr intensives Todeserlebnis.

„Der «Hüter» gibt seine Bedeutung etwa in folgenden Worten kund: «Über dir walteten bisher Mächte, welche dir unsichtbar waren. Sie bewirkten, daß während deiner bisherigen Lebensläufe jede deiner guten Taten ihren Lohn und jede deiner üblen Handlungen ihre schlimmen Folgen hatten. Durch ihren Einfluß baute sich dein Charakter aus deinen Lebenserfahrungen und aus deinen Gedanken auf. Sie verursachten dein Schicksal. Sie bestimmten das Maß von Lust und Schmerz, das dir in einer deiner Verkörperungen zugemessen war, nach deinem Verhalten in früheren Verkörperungen. Sie herrschten über dir in Form des allumfassenden Karmagesetzes. Diese Mächte werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen. Und etwas von der Arbeit, die sie an dir getan haben, mußt du nun selbst tun. - Dich traf bisher mancher schwere Schicksalsschlag. Du wußtest nicht warum? Es war die Folge einer schädlichen Tat in einem deiner vorhergehenden Lebensläufe. Du fandest Glück und Freude und nähmest sie hin. Auch sie waren die Wirkung früherer Taten. Du hast in deinem Charakter manche schöne Seiten, manche häßliche Flecken. Du hast beides selbst verursacht durch vorhergehende Erlebnisse und Gedanken. Du hast bisher die letzteren nicht gekannt; nur die Wirkungen waren dir offenbar. Sie aber, die karmischen Mächte, sahen alle deine vormaligen Lebenstaten, deine verborgensten Gedanken und Gefühle. Und sie haben danach bestimmt, wie du jetzt bist und wie du jetzt lebst.

Nun aber sollen dir selbst offenbar werden alle die guten und alle die schlimmen Seiten deiner vergangenen Lebensläufe. Sie waren bis jetzt in deine eigene Wesenheit hineinverwoben, sie waren in dir, und du konntest sie nicht sehen, wie du physisch dein eigenes Gehirn nicht sehen kannst. Jetzt aber lösen sie sich von dir los, sie treten aus deiner Persönlichkeit heraus. Sie nehmen eine selbständige Gestalt an, die du sehen kannst, wie du die Steine und Pflanzen der Außenwelt siehst. Und - ich bin es selbst, die Wesenheit, die sich einen Leib gebildet hat aus deinen edlen und deinen üblen Verrichtungen. Meine gespenstige Gestalt ist aus dem Kontobuche deines eigenen Lebens gewoben. Unsichtbar hast du mich bisher in dir selbst getragen. Aber es war wohltätig für dich, daß es so war. Denn die Weisheit deines dir verborgenen Geschickes hat deshalb auch bisher an der Auslöschung der häßlichen Flecken in meiner Gestalt in dir gearbeitet. Jetzt, da ich aus dir herausgetreten bin, ist auch diese verborgene Weisheit von dir gewichen. Sie wird sich fernerhin nicht mehr um dich kümmern. Sie wird die Arbeit dann nur in deine eigenen Hände legen. Ich muß zu einer in sich vollkommenen, herrlichen Wesenheit werden, wenn ich nicht dem Verderben anheimfallen soll. Und geschähe das letztere, so würde ich auch dich selbst mit mir hinabziehen in eine dunkle, verderbte Welt. - Deine eigene Weisheit muß nun, wenn das letztere verhindert werden soll, so groß sein, daß sie die Aufgabe jener von dir gewichenen verborgenen Weisheit übernehmen kann. - Ich werde, wenn du meine Schwelle überschritten hast, keinen Augenblick mehr als dir sichtbare Gestalt von deiner Seite weichen. Und wenn du fortan Unrichtiges tust oder denkst, so wirst du sogleich deine Schuld als eine häßliche, dämonische Verzerrung an dieser meiner Gestalt wahrnehmen. Erst wenn du all dein vergangenes Unrichtiges gutgemacht und dich so geläutert hast, daß dir weiter Übles ganz unmöglich ist, dann wird sich mein Wesen in leuchtende Schönheit verwandelt haben. Und dann werde ich mich zum Heile deiner ferneren Wirksamkeit wieder mit dir zu einem Wesen vereinigen können.

Meine Schwelle aber ist gezimmert aus einem jeglichen Furchtgefühl, das noch in dir ist, und aus einer jeglichen Scheu vor der Kraft, die volle Verantwortung für all dein Tun und Denken selbst zu übernehmen. Solange du noch irgendeine Furcht vor der selbsteigenen Lenkung deines Geschickes hast, so lange ist in diese Schwelle nicht alles hineingebaut, was sie erhalten muß. Und solange ihr ein einziger Baustein noch fehlt, so lange müßtest du wie gebannt an dieser Schwelle stehenbleiben oder stolpern. Versuche nicht früher diese Schwelle zu überschreiten, bis du ganz frei von Furcht und bereit zu höchster Verantwortlichkeit dich fühlst.

Bisher trat ich nur aus deiner eigenen Persönlichkeit heraus, wenn der Tod dich von einem irdischen Lebenslauf abberief. Aber auch da war meine Gestalt dir verschleiert. Nur die Schicksalsmächte, welche über dir walteten, sahen mich und konnten, nach meinem Aussehen, in den Zwischenpausen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dir Kraft und Fähigkeit ausbilden, damit du in einem neuen Erdenleben an der Verschönerung meiner Gestalt zum Heile deines Fortkommens arbeiten konntest. Ich selbst war es auch, dessen Unvollkommenheit die Schicksalsmächte immer wieder dazu zwang, dich in eine neue Verkörperung auf die Erde zurückzuführen. Starbest du, so war ich da; und meinetwegen bestimmten die Lenker des Karma deine Wiedergeburt. Erst wenn du durch immer wieder erneuerte Leben in dieser Art mich unbewußt ganz zur Vollkommenheit umgeschaffen gehabt hättest, wärest du nicht den Todesmächten verfallen, sondern du hättest dich ganz mit mir vereint und wärest in Einheit mit mir in die Unsterblichkeit hinübergegangen. So stehe ich heute sichtbar vor dir, wie ich stets unsichtbar neben dir in der Sterbestunde gestanden habe. Wenn du meine Schwelle überschritten haben wirst, so betrittst du die Reiche, die du sonst nach dem physischen Tode betreten hast. Du betrittst sie mit vollem Wissen und wirst fortan, indem du äußerlich sichtbar auf Erden wandelst, zugleich im Reiche des Todes, das ist aber im Reiche des ewigen Lebens, wandeln. Ich bin wirklich auch der Todesengel; aber ich, ich bin zugleich der Bringer eines nie versiegenden höheren Lebens. Beim lebendigen Leibe wirst du durch mich sterben, um die Wiedergeburt zum unzerstörbaren Dasein zu erleben.

Das Reich, das du nunmehr betrittst, wird dich bekannt machen mit Wesen übersinnlicher Art. Die Seligkeit wird dein Anteil in diesem Reiche sein. Aber die erste Bekanntschaft mit dieser Welt muß ich selbst sein, ich, der ich dein eigenes Geschöpf bin. Früher lebte ich von deinem eigenen Leben; aber jetzt bin ich durch dich zu einem eigenen Dasein erwacht und stehe vor dir als sichtbares Richtmaß deiner künftigen Taten, vielleicht auch als dein immerwährender Vorwurf. Du konntest mich schaffen; aber du hast damit auch zugleich die Pflicht übernommen, mich umzuschaffen.»

Was hier, in eine Erzählung gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des Geheimschülers.“ (Lit.:GA 10, S. 194ff)

An anderer Stelle beschreibt Steiner den kleinen Hüter als die Erscheinung eines astralen Elementarwesens:

„Vorher war der Mensch selbst ein Elementarwesen. Nicht alles Physische am Menschen ist bestimmt, erlöst zu werden. Es bleibt vom Menschen eine Schlacke zurück. Diese Schlacke, die da zurückbleibt, ist im Menschen fortwährend vorhanden, daher steht er unter dem Einfluß der astralischen Elementarwesen; das dazugehörige Elementarwesen hängt ihm an. Der Mensch ist daher in fortwährender Verbindung mit dem, was ein hemmender Feind, ein Störenfried seiner Entwicklung ist. Die Wesenheiten, die sich dem Menschen anhängen, nannte man in der deutschen Mythologie die Alben. Sie treten in einer unbestimmten Gestalt auf im sogenannten Alptraum. Diese Träume äußern sich etwa so, daß man glaubt, ein Wesen setzt sich einem auf die Brust. Wenn man astral sehend wird, sieht man zuerst diese Wesen (The Dweller on the Threshold in Bulwers «Zanoni»). Es ist die Widerspiegelung der astralen Bekanntschaft des Menschen mit seinem Alb, ein Sich-Wehren des Menschen gegen seinen Feind. Das Wesen ist die Projektion eines astralen Wesens in uns selbst. Es ist der [kleine] Hüter der Schwelle. Der Mensch, der die Furcht vor dem inneren Feinde nicht überwinden kann, der kehrt gewöhnlich um beim Tor der Initiation.“ (Lit.:GA 89, S. 134f)

Eng verwandt mit diesem kleinen Hüter ist auch die Gestalt der Sphinx:

„Auf dem höheren Gebiet des astralen Planes ist es [das Bild] der Sphinx, die in den Abgrund gestürzt werden muß, ehe man weiterschreiten kann. Der Mensch, der sich entwickeln muß, geht diesem Augenblick entgegen. Aber nicht jeder Mensch muß diese Entwicklungsstufe in gleicher Weise durchmachen. Es ist möglich, daß er wie mit verbundenen Augen hindurchgeführt wird. Dadurch, daß wir unsere moralische Natur entwickeln, können wir überwinden. Wenn man die moralische Natur vorher höherbringen kann, ehe man in der Astralwelt sehend wird, wird die Erscheinung des Hüters der Schwelle weniger furchtbar.“ (Lit.:GA 89, S. 134f)

In seinem okkulten Roman «Zanoni» schildert Edward Bulwer-Lytton, wie dieser Hüter (engl. „The Dweller of the Threshold“) durch niedere magische Verrichtungen auch sinnlich sichtbar gemacht wird. Steiner bemerkt dazu:

„Es ist aus obigem klar, daß der geschilderte «Hüter der Schwelle» eine solche (astrale) Gestalt ist, welche dem erwachenden höheren Schauen des Geheimschülers sich offenbart. Und zu dieser übersinnlichen Begegnung führt die Geheimwissenschaft. Es ist eine Verrichtung niederer Magie, den «Hüter der Schwelle» auch sinnlich sichtbar zu machen. Dabei handelte es sich um die Herstellung einer Wolke feinen Stoffes, eines Räucherwerkes, das aus einer Reihe von Stoffen in bestimmter Mischung hergestellt wird. Die entwickelte Kraft des Magiers ist dann imstande, gestaltend auf das Räucherwerk zu wirken und dessen Substanz mit dem noch unausgeglichenen Karma des Menschen zu beleben. - Wer genügend vorbereitet für das höhere Schauen ist, braucht dergleichen sinnliche Anschauung nicht mehr; und wem sein noch unausgeglichenes Karma ohne genügende Vorbereitung als sinnlich lebendiges Wesen vor Augen träte, der liefe Gefahr, in schlimme Abwege zu geraten. Er sollte nicht danach streben. In Bulwers «Zanoni» wird romanhaft eine Darstellung dieses «Hüters der Schwelle» gegeben.“ (Lit.:GA 10, S. 198)

Der kleine Hüter ist tatsächlich der Todesengel, und er fordert uns nun auf, unsere niedere Drachennatur zu überwinden. Damit verwandelt sich das Bild zur Michael-Imagination: Michael in der gold-silbern glänzenden Rüstung wirft mit seinem feurigen Schwert den Drachen nieder. Er steht als großer Hüter der Schwelle vor dem Tor, das in die geistige Außenwelt führt. In diesem Drachen lebt nicht nur unser persönlicher Egoismus, sondern auch all die Einseitigkeiten, die aus der Bindung an ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Rasse resultieren. Je nach Volks- und Rassenzugehörigkeit kann der Hüter zunächst in sehr unterschiedlicher Gestalt erscheinen:

„Auch die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle hat Differenzierungen. Natürlich, wenn die Einweihung völlig unabhängig erfolgt von jedem Volkstum, da ist die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle auch allseitig. Wird aber von einseitigen Menschen oder Gesellschaften eine Einweihung besorgt, und geschieht sie volkstümlich, so differenziert sich auch das Erlebnis mit dem Hüter. Es ist der Mensch, welcher der englisch sprechenden Bevölkerung angehört, wenn er nicht von höheren Geistern, die ja führend sind, sondern vom Volksgeist initiiert wird, vorzugsweise dafür veranlagt, zur Schwelle diejenigen geistigen Wesenheiten mit hinzubringen, die uns als ahrimanische Geister fortwährend in der Welt hier umgeben, die uns begleiten, wenn wir zur Schwelle nach der übersinnlichen Welt hingehen, und die wir dann mitnehmen können, wenn sie gewissermaßen eine Neigung für uns entwickeln. Sie führen uns vor allen Dingen zum Anblick der Mächte von Krankheit und Tod. Gehen Sie in die Mittelländer, und wirkt da der Volksgeist mit bei der Initiation, hebt man den zu Initiierenden nicht heraus aus dem Volkstum zum Allmenschlichen, sondern wirkt der Volksgeist mit, so ist das erste, das bedeutendste Ereignis, daß man aufmerksam wird auf jene Kämpfe, welche stattfinden zwischen gewissen Wesenheiten, die nur der geistigen Welt angehören, die jenseits des Stromes stehen, und gewissen Wesenheiten, die hier in der physischen Welt stehen, diesseits des Stromes, aber unsichtbar für das gewöhnliche Bewußtsein. Dieser Kampf auf den man da aufmerksam wird, pulsiert an der Schwelle dadurch herauf, daß man in den Mittelländern, wenn man ein ernster Wahrheitssucher ist, namentlich durchtränkt ist von den Mächten des Zweifels. Man muß da aufmerksam darauf werden, wie dieser Kampf, der an der Schwelle stattfindet zwischen den Geistern, die nur dem Geistesleben, und denen, die nur der sinnlichen Welt angehören, alles das bedingt, was im Innern des Menschen den Zweifel hervorruft, das Schwanken in bezug auf die Wahrheit, die Notwendigkeit, sich zu der Wahrheit erst erziehen zu lassen, nichts auf die anerkannten Impulse der Wahrheit zu geben. Wenn in den Ostländern der Mensch an die Schwelle geführt wird unter Patenschaft des Volksgeistes, dann sieht er vor allen Dingen alle die Geister, welche auf die menschliche Selbstsucht wirken.“ (Lit.:GA 186, S. 181ff)

Die Chaldäer erlebten beim Eintritt in die innere Seelenwelt den kleinen Hüter in Gestalt der Göttin Ischtar, die der Isis verwandt ist. Am anderen Tor, das in die geistige Außenwelt führte, stand Marduk-Michael:

„Ischtar stand an der Schwelle, die sonst dem Menschen verschließt, was hinter dem Seelenleben an Geistigkeit steht. Und auf der anderen Seite, wo man das Tor findet in die geistige Welt durch den Teppich der äußeren Sinnenwelt, da stand der andere Hüter: Merodach oder Marduk. Merodach können wir mit dem Hüter der Schwelle, mit dem Michael vergleichen; Merodach und Ischtar waren es, welche das Innere der Seele hellsehend machten und den Menschen nach den beiden Seiten hin in die geistige Welt einführten. Daher erlebte der Mensch durch diese Begegnung das, was man symbolisch auch heute noch so empfindet: Es wird dem Menschen der leuchtende Kelch gereicht, das heißt der Mensch lernt den allerersten Gebrauch seiner Lotusblumen noch tastend kennen.“ (Lit.:GA 113, S. 171)

Erst durch die Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle wird der Mensch zur wahren Selbsterkenntnis geführt und erst dadurch ist eine klare und unverzerrte Sicht auf die geistige Welt möglich:

„Wenn der Mensch, ohne die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» zu haben, die geistig-seelische Welt betreten würde, so könnte er Täuschung nach Täuschung verfallen. Denn er könnte nie unterscheiden, was er selbst in diese Welt hineinträgt und was ihr wirklich angehört. Eine regelrechte Schulung darf aber den Geistesschüler nur in das Gebiet der Wahrheit, nicht in dasjenige der Illusion führen. Eine solche Schulung wird durch sich selbst so sein, dass die Begegnung notwendig einmal erfolgen muss. Denn sie ist die eine der für die Beobachtung übersinnlicher Welten unentbehrlichen Vorsichtsmaßregeln gegen die Möglichkeit Von Täuschung und Phantastik. — Es gehört zu den unerlässlichsten Vorkehrungen, welche jeder Geistesschüler treffen muss, sorgfältig an sich zu arbeiten, um nicht zum Phantasten zu werden, zu einem Menschen, der einer möglichen Täuschung, Selbsttäuschung (Suggestion und Selbstsuggestion) verfallen kann. Wo die Anweisungen zur Geistesschulung recht befolgt werden, da werden zugleich die Quellen vernichtet, welche die Täuschung bringen können. Hier kann natürlich nicht ausführlich von all den zahlreichen Einzelheiten gesprochen werden, die bei solchen Vorkehrungen in Betracht kommen. Es kann nur angedeutet werden, worauf es ankommt. Täuschungen, welche hier in Betracht kommen, entspringen aus zwei Quellen. Sie rühren zum Teil davon her, dass man durch die eigene seelische Wesenheit die Wirklichkeit färbt. Im gewöhnlichen Leben der physisch-sinnlichen Welt ist diese Quelle der Täuschung von verhältnismäßig geringer Gefahr; denn hier wird sich die Außenwelt immer scharf in ihrer eigenen Gestalt der Beobachtung aufdrängen, wie sie auch der Beobachter nach seinen Wünschen und Interessen wird färben wollen. Sobald man jedoch die imaginative Weit betritt, verändern sich deren Bilder durch solche Wünsche und Interessen, und man hat wie eine Wirklichkeit vor sich, was man erst selbst gebildet oder wenigstens mitgebildet hat. Dadurch nun, dass durch die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» der Geistesschüler alles kennenlernt, was in ihm ist, was er also in die seelisch-geistige Welt hineintragen kann, ist diese Quelle der Täuschung beseitigt. Und die Vorbereitung, welche der Geistesschüler vor dem Betreten der seelisch-geistigen Welt sich angedeihen lässt, wirkt ja dahin, dass er sich gewöhnt, schon bei der Beobachtung der sinnlich-physischen Welt sich selbst auszuschalten und die Dinge und Vorgänge rein durch ihre eigene Wesenheit auf sich einsprechen zu lassen. Wer diese Vorbereitung genügend durchgemacht hat, kann ruhig die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle» erwarten. Durch sie wird er sich endgültig prüfen, ob er sich nun wirklich in der Lage fühlt, seine eigene Wesenheit auch dann auszuschalten, wenn er der seelisch-geistigen Welt gegenübersteht.“ (Lit.:GA 13, S. 381ff)

Das, was man im Okkultismus den Doppelgänger nennt, ist eine abnorme Art bzw. eine abnorme Erscheinung des kleinen Hüters der Schwelle.

„Daß der Hüter der Schwelle auf abnorme Art auftritt geschieht, wenn der Mensch eine so starke Anziehung hat zu dem einen Leben zwischen Geburt und Tod, daß er wegen des geringen Maßes an innerer Tätigkeit nicht lange genug im Devachan bleiben kann. Wenn der Mensch sich zu sehr gewöhnt hat, nach außen zu schauen, hat er im Inneren nichts zu sehen. Er kommt dann bald ins physische Leben zurück. Das Gebilde seiner früheren Begierden ist noch im Kamaloka vorhanden; er trifft es dann noch an. Da mischt sich zu seinem neuen Astralleib der alte hinzu; das ist das vorhergehende Karma, der Hüter der Schwelle. Er hat dann sein früheres Karma fortwährend vor sich, dies wird eine eigentümliche Art von Doppelgänger. Viele von den Päpsten der berüchtigten Päpstezeit, wie zum Beispiel Alexander VI, haben solche Doppelgänger in der nächsten Inkarnation gehabt. Es gibt Menschen, und zwar jetzt gar nicht selten, die ihre frühere niedere Natur fortwährend neben sich haben. Das ist eine spezifische Art von Wahnsinn. Das wird immer stärker und heftiger werden, weil das Leben im Materiellen sich immer mehr ausbreitet. Viele Menschen, die jetzt ganz im materiellen Leben aufgehen, werden in der nächsten Inkarnation die abnorme Form des Hüters der Schwelle neben sich haben. Alle Nervösen von heute werden gehetzt sein durch den Hüter der Schwelle in der nächsten Inkarnation. Sie werden gehetzt werden in eine zu frühe Inkarnation, eine Art kosmischer Frühgeburt.“ (Lit.:GA 93a, S. 28f)

Alle unerlösten, unverwandelten Eigenschaften treten einem durch den kleinen Hüter der Schwelle entgegen. Die Begegnung mit ihm findet statt wenn sich die drei Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen im Astralleib und Ätherleib voneinander getrennt haben. In Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ haben wir eine lebhafte Beschreibung dieser Begegnung gezeichnet.

Michael kann uns helfen, diesen Drachen niederzuwerfen, ihn zu fesseln – aber dadurch ist er noch nicht überwunden, verwandelt! Der nächste Schritt bedarf der Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle, der in seiner erhabensten Form der Christus selbst ist. Johannes schildert ihn im ersten Siegelbild der Apokalypse. Er ist auch das Lamm, das sich dann im zweiten Siegelbild offenbart – das Lamm, das sich opfert und in den Rachen des Drachen wirft, um ihn durch seine Liebeskraft von innen her zu durchlichten und dadurch zu verwandeln.

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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