Martha Nussbaum

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Martha Nussbaum 2008

Martha Nussbaum, geb. Craven, (* 6. Mai 1947 in New York City; auch: Martha C. Nussbaum, Martha Craven Nussbaum) ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago.

Nussbaum bezeichnet sich als Aristotelikerin und stellt die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten zur praktischen Philosophie. Ursprünglich Altphilologin, bezieht sie sich stark auf die Philosophie des Aristoteles und der Stoa, die sie der Literatur von der griechischen Tragödie bis zum modernen Roman gegenüberstellt. Sie vertritt die These, dass eine sachgemäße Ethik die Ebene der Emotionen einbeziehen und ihnen einen eigenen Erkenntniswert zuschreiben muss. Nussbaum hat einen engagierten Standpunkt entwickelt, der einen liberalen Feminismus umfasst, vor allem aber in der politischen Philosophie für einen Multikulturalismus, ein Weltbürgertum und internationale Gerechtigkeit eintritt. Sie ist bekannt für den Capability Approach (Fähigkeiten-Ansatz) in der Entwicklungspolitik, den sie zusammen mit Amartya Sen entwickelte. Mit ihrem umfangreichen Werk hat Nussbaum mehrere Literaturpreise und 56 wissenschaftliche Ehrengrade erhalten, und sie gilt als „eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart“.[1]

Leben

Jugend und Studium

Nussbaum ist die Tochter von George Craven, eines erfolgreichen Rechtsanwalts, der sich aus einfachen Verhältnissen zum Partner in einer großen Anwaltskanzlei hochgearbeitet hatte, und Betty Warren, einer Innenarchitektin, die ihren Beruf zugunsten der Familie aufgegeben hatte. Von ihrem Vater hat Nussbaum nach eigenem Bekunden[2] den Fleiß und das Streben, ihre Fähigkeiten möglichst auszureizen, gelernt. Ihrer Mutter hingegen, deren Familiengeschichte bis zur Mayflower zurückreicht, verdankt sie das Bewusstsein, dass in einem guten Leben auch Gefühle und Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Kurz nach ihrer Geburt war die Familie nach Philadelphia gezogen. Martha Craven wuchs in einem typischen, wohlhabenden, weißen und protestantischen Umfeld im Vorort Bryn Mawr auf, in dem Geld und Status eine wichtige Rolle spielten (vgl. White Anglo-Saxon Protestant). Mit einer in der Jugend entstandenen Distanz zu diesen Erfahrungen erklärt sie ihre Ablehnung von sich selbst hochstilisierenden Eliten, seien es nun die „Bloomsbury Group oder Derrida.“[2]

Nach der Highschool, wo sie bereits ein Stück in fünf Akten über Robespierre geschrieben und als Jeanne d’Arc auf der Bühne gestanden hatte,[3] besuchte sie von 1964 bis 1966 das liberale, aber noch nicht koedukative Wellesley College. Im Anschluss studierte Craven klassische Philologie (classics) und Theaterwissenschaften an der New York University. Eine Ausbildung als Schauspielerin gab sie nach einem Jahr auf, weil ihr klar wurde, dass sie sich lieber interpretierend mit den Texten auseinandersetzen wollte. Danach machte sie im Jahr 1969 ihren B.A. und setzte ihr Studium in Harvard fort. Im selben Jahr heiratete sie Alan J. Nussbaum, der später Professor für Altphilologie und Linguistik wurde. Aus Anlass der Ehe trat Nussbaum zum Judentum über. In den Jahren 1971 und 1972 war sie Teaching Fellow an der Graduate School of Arts & Science in Harvard. Ihre Tochter Rachel wurde im Jahr 1972 geboren. Ebenfalls 1972 erwarb sie den M.A.

Obwohl sie nach der Geburt ihrer Tochter für drei Jahre von der Lehrtätigkeit befreit war, hatte Nussbaum während ihres Graduierten-Studiums das Gefühl erheblicher Diskriminierungen bis hin zu sexuellen Belästigungen; insbesondere fehlte ihr die Rücksichtnahme auf die Notwendigkeit, ihre Tochter versorgen zu können.[3] Als sie 1972 als erste Frau Junior Fellow in Harvard wurde, erhielt sie von einem eingesessenen Philologen eine Gratulation, in der dieser vorschlug, statt der unbeholfenen Bezeichnung „weiblicher Fellow“ doch besser die Bezeichnung „Hetäre“ (wörtlich „Gefährtin, Freundin, Genossin“) zu verwenden, einen allen Altphilologen bekannten Begriff für eine gebildete Prostituierte im alten Griechenland.[4]

In Harvard lernte sie Bernard Williams während dessen Gastprofessur 1973 schätzen. Sie besuchte bei ihm ein Seminar über „Moral Luck“,[5] das möglicherweise ein wichtiger Anstoß für ihre späteren Arbeiten war. Positive Impulse erhielt sie auch von Hilary Putnam und John Rawls, der ihr riet, nicht nur für ein Fachpublikum, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit zu schreiben.[6] In den Jahren 1973 und 1974 übte sie eine bezahlte Lehrtätigkeit am Senior Common Room des St. Hugh’s College der Oxford University aus. Ihren Ph.D. in Altphilologie erwarb sie 1975 bei dem Aristoteles-Kenner G. E. L. Owen mit einer Arbeit über das Werk De Motu Animalium von Aristoteles, die 1978 als Buch erschien.

Lehrtätigkeit und Forschung für die United Nations University

Nach ihrem Abschluss lehrte Nussbaum für acht Jahre in Harvard, bis 1980 als Assistant Professor und bis 1983 als Associate Professor, allerdings ohne Festanstellung, nachdem ein Antrag auf Tenure an der philologischen Fakultät abgelehnt worden war. Sie wechselte 1984 als Associate Professor mit Festanstellung (tenured) an die Brown University, wo sie 1985 Professor für Philosophie, Altphilologie und vergleichende Literaturwissenschaften wurde. Eine diese drei Bereiche integrierende Arbeit ist The Fragility of Goodness (dt. „Die Zerbrechlichkeit des Guten“), ihr erstes Buch zur Ethik aus dem Jahr 1986, mit dem sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. In diesem Werk beschreibt sie die Diskussion um die Frage, ob man als guter und tugendhafter Mensch trotz der ständigen Präsenz kontingenter Schicksalsschläge stets auch ein gutes Leben führen kann. Anhand von Beispielen antiker Tragödiendichter verwirft sie den Rationalismus Platons und schließt sich Aristoteles in der Auffassung an, dass die Idee eines geglückten Lebens immer im Konflikt zum nicht beherrschbaren Schicksal steht. 1987 wurde sie an der Brown University zum David Benedikt Professor ernannt. Im selben Jahr wurde sie geschieden, behielt aber ihren jüdischen Glauben bei.

Auf einem Seminar im Jahr 1986 lernte sie Amartya Sen kennen und folgte der Einladung, dessen Arbeiten mit Argumenten aus philosophischer Sicht zu untermauern. Von 1987 bis 1993 war sie als wissenschaftliche Beraterin (Research Advisor) am World Institute for Development Economics Research (WIDER) in Helsinki, einer Abteilung der United Nations University (UNU), tätig. In dieser Zeit war Sen für mehrere Jahre auch ihr Lebenspartner. In ihrem Projekt, für das sie in jedem Jahr für einen Monat in Helsinki vor Ort arbeitete, leitete sie eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Konzepts zur Messung der Lebensqualität in Entwicklungsländern. Gegenstand war insbesondere der von Sen konzipierte Befähigungsansatz (Capability Approach), der über den Index der menschlichen Entwicklung und den Human Poverty Index Eingang in die Weltentwicklungsberichte des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) und die internationale Forschung über Armut und Ungleichheit gefunden hat. Nussbaum machte sich mit der Realität Indiens vertraut und führte dort später eigene Feldstudien durch.[7] Im Laufe der Zeit entwickelte sie ihre eigene, universalistische Variante des Konzepts, die über die Darstellungen Sens hinaus eine konkrete Liste der Faktoren eines guten Lebens enthält. Ein erster Ausfluss der Arbeiten bei WIDER war der umfangreiche Aufsatz „Aristotelian Social Democracy“ aus dem Jahr 1990.[8] Die Forschungsergebnisse wurden in den Büchern The Quality of Life (1993 mit Amartya Sen) und Woman, Culture and Development (1995 mit Jonathan Glover) veröffentlicht.

Nussbaums Buch Love’s Knowledge („Erkenntnis der Liebe“) aus dem Jahr 1990 ist die Fortsetzung ihres kulturphilosophischen Programms zur Verbindung von Philosophie und Literatur, nun auch mit modernen Werken wie beispielsweise Romanen von Henry James. Eine der Hauptaussagen des Buches ist, dass Literatur Einsichten und Wahrheiten vermittelt, die durch philosophische Analyse allein nicht zugänglich sind, weil diese den partikularen Einzelfall nicht genügend erfassen. 1990 erhielt sie hierfür den Brandeis Creative Arts Award im Bereich Sachbuch (non-fiction) und im Jahr 1991 den PEN Spielvogel-Diamondsten Award der besten Aufsatzsammlung.

Im Jahr 1993 durfte sie die Gifford Lectures in Edinburgh halten. Mit dem Thema „Need and Recognition: A Theory of Emotions“ (dt. „Bedürfnis und Erkennen: Eine Theorie der Emotionen“) arbeitete sie einen weiteren Gesichtspunkt aus, der ein grundlegendes Element ihrer Philosophie ist und als Schwerpunkt unmittelbar Eingang in mehrere ihrer Bücher gefunden hat.

1993 war sie als sachverständige Zeugin im Fall Romer gegen Evans[9] tätig, in dem es um die Einschränkung von Rechten Homosexueller gegen Diskriminierung ging. In ihrer Stellungnahme behauptete sie, dass die Auffassung, nach der in Platons Nomoi von Ekel gegenüber der Homosexualität die Rede sei, auf einer Fehlinterpretation beruhe. Mit ihrer Aussage setzte sie sich erheblicher Kritik aus, die in Bezug auf eine konkrete Übersetzungsfrage und das zugrunde liegende Wörterbuch bis hin zum Vorwurf von Manipulation und Meineid reichte.[10] Auf die Vorwürfe reagierte sie mit dem ausführlichen Artikel „Platonic Love and Colorado Law“[11], auf den sie wiederum eine Replik von einem ihrer Kontrahenten, Robert P. George, erhielt.[12]

In den Folgejahren erschienen in schneller Folge mehrere Bücher, in denen sie die Philosophie als Therapie und als Grundlage von Bildung und Erziehung thematisierte:

  • In The Therapy of Desire („Die Therapie der Begierde“, 1994) untersucht sie anhand der stoischen Philosophie die Möglichkeit der therapeutischen Funktion der Philosophie.
  • Poetic Justice („Dichterische Gerechtigkeit“, 1995) beruht auf ihren “Alexander Rosenthal Lectures” von 1991. Nussbaum entwickelt darin den Vorschlag, dass Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere Richter die Literatur einsetzen sollten, um ihren Horizont in Bezug auf Lebenswelten zu erweitern, die ihnen sonst nicht zugänglich sind.
  • Love for Country? („Liebe zum Land?“, 1996), die Dokumentation einer Debatte über den Patriotismus, die Nussbaum ausgelöst hatte, mit 29 Stellungnahmen von Intellektuellen, in der sie sich für einen Vorrang des Multikulturalismus vor dem Patriotismus einsetzt.
  • Cultivating Humanity („Kultivierung der Menschlichkeit“, 1997) ist eine Untersuchung zu Bildungskonzepten an verschiedenen amerikanischen Universitäten und zugleich ein Plädoyer für ein Weltbürgertum und eine liberale Erziehung zum Multikulturalismus. Das Buch wurde 1998 mit dem Ness Book Award der Association of American Colleges and Universities ausgezeichnet und erhielt 2002 den Grawemeyer Award im Bereich Erziehung.

Wechsel nach Chicago

Nussbaum 2004

Im Jahr 1995 erhielt Nussbaum an der University of Chicago eine Stelle als Professor für Recht und Ethik. Die Berufung erfolgte für die Rechtsfakultät (Law School) und die Theologische Fakultät (Divinity School) sowie das College der Universität. Darüber hinaus war sie assoziiertes Mitglied in den Fakultäten für Philosophie und Altphilologie.

Im Jahr 1996 erhielt sie die Stelle des Ernst Freund Distinguished Service Professor of Law and Ethics als Mitglied der Fakultäten für Recht, Philosophie und Theologie. Weiterhin ist sie den Fakultäten für Altphilologie und seit 2003 für Politische Wissenschaften assoziiert. Sie ist Mitglied des Committee on Southern Asian Studies, hat den Mitvorsitz des Human Rights Program und ist Gründerin (2002) und Koordinatorin des Center for Comparative Constitutionalism (Zentrum für vergleichende Verfassungsstudien) der Universität in Chicago.

Auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit für die Universität der Vereinten Nationen beim WIDER hat sich Nussbaum intensiv mit Fragen der Entwicklungspolitik befasst und mehrere Studienreisen nach Indien unternommen. Als ein Ergebnis dieser Beschäftigung erschien 1999 das Buch Sex & Social Justice („Geschlecht und soziale Gerechtigkeit“), in dem sie einen eigenständigen liberalen Feminismus entwickelt und eine weiter ausgearbeitete Fassung ihres Befähigungsansatzes als Beitrag zur Diskussion der sozialen Gerechtigkeit vorlegt. Das Buch gewann 2000 den Buchpreis der North American Society for Social Philosophy.

Im Jahr 1999 veröffentlichte sie einen kritischen Artikel über Judith Butler mit dem Titel „The Professor of Parody“.[13] Für Butler ist nicht nur das gesellschaftliche Geschlecht (gender), sondern auch das Verständnis für das biologische Geschlecht (sex) diskursiv bestimmt und vor allem durch Machtverhältnisse, Normen und gesellschaftliche Zwänge bedingt. In ihrem Buch Das Unbehagen der Geschlechter schlägt Butler vor, durch „Parodien“ und Überzeichnungen dieser Machtverhältnisse auf Veränderungen des Bewusstseins in der Gesellschaft hinzuwirken. Hieran knüpft Nussbaum mit dem Titel ihres Aufsatzes an. Sie wirft Butler eine Philosophie der Ausweglosigkeit vor, weil diese mit Michel Foucault behaupte, dass Reformen nur wieder zu neuen Machtstrukturen führen, die zwar anders, aber nicht besser seien. Gestützt durch ihre kaum zu verstehende Sprache bewirke Butlers Philosophie daher einen „Quietismus“ bei ihren Lesern, indem sie die Menschen aller Hoffnungen beraube und Diskussionen schon durch ihre Sprache ersticke. Nussbaum setzt sich hingegen für eine feministische Position ein, die ausdrücklich die Idee des Humanismus integriert: „Wir brauchen einen Humanismus, der das öffentliche Tun wieder lenken kann.“[14]

Auch das Buch Women and Human Development („Frauen und die menschliche Entwicklung“) aus dem Jahr 2000 ist eine Diskussion des Befähigungsansatzes vor dem Hintergrund der geschlechtsspezifischen Ungleichheit zulasten der Frauen, die Nussbaum an verschiedenen Beispielen aus Indien herausarbeitet. Eine maßgebliche Bedingung dieser Ungleichheit ist demnach die Armut.

Nussbaums neuere Bücher befassen sich vor allem mit der Bedeutung von Emotionen:

  • Upheavals of Thought („Umbrüche des Denkens“, 2001) ist die umfangreiche Ausarbeitung der These, dass es keine ethische Theorie ohne angemessene Theorie der Emotionen gibt, wobei Emotionen als Formen von Aufmerksamkeit und eines intensiven Engagements einen wesentlichen Teil des kognitiven Apparates ausmachten.
  • Hiding from Humanity („Versteckt aus Gerechtigkeit“, 2004) ist eine Untersuchung über die Bedeutung der Gefühle Ekel und Scham für die Rechtspraxis. Dabei wendet sie sich gegen den Einfluss von öffentlichem Abscheu auf Rechtsfragen zu Prostitution oder Homosexualität. Das Buch wurde im Jahr des Erscheinens mit dem Buchpreis der Association of American University Publishers im Bereich Recht ausgezeichnet.
Nussbaum mit dem iranischen Regimekritiker Akbar Gandji

Gemeinsam mit Amartya Sen gründete Nussbaum im Jahr 2004 die „Human Development and Capability Association“.[15] Als Nachfolgerin des Gründungspräsidenten Sen war Nussbaum von 2006 bis 2008 amtierende Präsidentin der Organisation.

Das Buch Frontiers of Justice („Grenzen der Gerechtigkeit“) aus dem Jahr 2006 ist eine erneute Untersuchung zum Befähigungsansatz, in dem nun die Position von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen, der Gegensatz von Arm und Reich sowie die Stellung von Tieren im Mittelpunkt stehen. Nussbaum weist den jeweils Schwächeren ein Recht auf Fürsorge durch die menschliche Gesellschaft zu.

Die folgenden Schriften beziehen die Frage nach der Bedeutung der Religion und der Rolle in der Gesellschaft mit ein:

  • The Clash within („Der innere Konflikt“, 2007) zeigt am Beispiel der zum Teil gewaltsamen Unterdrückung von Muslimen durch Hindus in Indien die schädlichen Folgen einer intoleranten Religion. Für Nussbaum droht weniger Gefahr durch einen Zusammenprall der Kulturen als durch den Gegensatz, der in jedem einzelnen selbst liegt und durch Überzeugungen hervorgerufen wird, die letztlich auf selbstschützenden Aggressionen beruhen.
  • Liberty of Conscience („Freiheit des Gewissens“, 2008) beschreibt die Tradition der Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und tritt für Toleranz und gegen religiöse Vorurteile ein.

Die Verbundenheit zur jüdischen Religion zeigt sich in einer Bat Mitzwa, die Nussbaum am 16. August 2008 in Chicago feierte.

Mitgliedschaften und Auszeichnungen

Nussbaum ist seit 1975 Mitglied der American Philosophical Association, in der sie in einer Vielzahl von Komitees aktiv war und in den Jahren 1999 bis 2000 der Central Division als Präsidentin vorstand. In der American Academy of Arts and Sciences ist sie seit 1988 Fellow. Darüber hinaus ist sie in einer Reihe anderer berufsständischer Organisationen vertreten.

Nussbaum wurde für ihr Werk mit über dreißig Ehrendoktorwürden und vergleichbaren Titeln ausgezeichnet. Sie hielt Gastprofessuren in Paris (1984), Oxford (1986–1987), Chicago (1992 und 1994), Stanford (1992), University of California (1993), Oslo (1994 und 1998), Neu Delhi (2004) und Harvard (2007).[16] 2013 nahm sie die zweite Dagmar-Westberg-Stiftungsprofessur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main wahr.[17]

Nussbaum erhielt im Februar 2009 vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) den mit 100.000 Euro dotierten A.SK Social Science Award für ihre Forschungen über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens und soziale Gerechtigkeit. Ihr wurde für 2012 der Prinz-von-Asturien-Preis für Gesellschaftswissenschaften und für 2016 der Kyoto-Preis in Philosophie[18] zugesprochen.

Im Juni 2012 hielt sie als Preisträgerin der Albertus-Magnus-Professur der Universität zu Köln zwei Vorlesungen zur Politik der Furcht und zur religiösen Intoleranz sowie ein Seminar unter dem Titel „Political Emotions: Why Love Matters for Justice“.[19] Ihre Arbeit mündete in das 2013 unter demselben Namen erschienene Buch.

2017 erhielt Nussbaum den Don M. Randel Award der American Academy of Arts and Sciences.[20]

Bewertung und Kritik

Der politische Philosoph und Journalist Thomas Gutschker sieht bei Nussbaum (ebenso wie bei Alasdair MacIntyre) ein Bemühen, das aristotelische Polis-Ideal – wenn nicht in konkreter Gestalt, so doch als konsensfähigen normativen Bezugspunkt – in der eigenen Gegenwart wiederzuentdecken. Diese Haltung greife kurzschlussartig und unvermittelt auf das antike Vorbild zurück, ohne ausreichend die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren.[21]

Veröffentlichungen (Auswahl)

Bücher

Monographien

  • Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership (= The Tanner Lectures on Human Values.) Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Mass. u. a. 2006, ISBN 0-674-01917-2.
  • Why Practice Needs Ethical Theory. Particularism, Principle, and Bad Behavior. In: Steven J. Burton (Hrsg.), The Path of the Law and Its Influence. S. 50–86, Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-63006-1
    • deutsch: Vom Nutzen der Moraltheorie für das Leben. übersetzt von Joachim Schulte, mit einem Interview von Klaus Taschwer mit Martha Nussbaum, Liberaler Aristotelismus. Passagen Verlag, Wien 2000, ISBN 3-85165-412-9
  •  The Clash Within: Democracy, Religious Violence, and India’s Future. Paperback Auflage. Belknap Press, Harvard University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-674-03059-6.
    • Rezensionen:  Pankaj Mishra: Impasse in India. In: The New York Review of Books. 28. Juni 2007 (nybooks.com).
  •  Liberty of Conscience. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality. Basic Books, New York 2008, ISBN 978-0-465-05164-9.
    • Rezensionen:  Alexandra Kemmerer: Polygamie, abseitig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 160, 11. Juli 2008, S. 37 (faz.net). –  Emily Bazelon: Good Faith. In: The New York Times. 23. März 2008 (nytimes.com).
  •  From Disgust to Humanity. Sexual Orientation and Constitutional Law. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-530531-9.
  •  Not For Profit. Why Democracy Needs the Humanities. Princeton University Press, Princeton 2010, ISBN 978-0-691-14064-3.
    • deutsch: Nicht für den Profit: warum Demokratie Bildung braucht. übersetzt von Ilse Utz, tibiaPress, Überlingen 2012, ISBN 978-3-935254-91-5
  •  Creating Capabilities. The Human Development Approach. Belknap Press, Harvard University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-674-05054-9.
    • Rezensionen:  Ingrid Robeyns: Martha Nussbaum’s Creating Capabilities. In: Crooked Timber. 29. August 2011 (crookedtimber.org).
  •  The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age. Belknap Press, Harvard University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-674-06590-1.
  • Political Emotions: Why Love Matters For Justice. The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Mass. u. a. 2013, ISBN 978-0-674-72465-5.
  • Anger and Forgiveness: Resentment, Generosity, Justice. Oxford University Press, New York City, USA 2017, ISBN 978-0-19-933587-9.
    • deutsch: Zorn und Vergebung: Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 2017, ISBN 978-3-534-26884-9.

Sammlungen eigener Aufsätze

In Herausgeberschaft

  • (mit Amelie Oksenberg Rorty) Essays on Aristotle’s De Anima. Clarendon Press, Oxford 1992 (Google Books).
  • mit Amartya Sen The Quality of Life. Clarendon Press, Oxford 1993.
  • mit Jonathan Glover: Women, Culture, and Development: A Study of Human Capabilities. Clarendon Press, Oxford 1995, ISBN 978-0-19-828964-7 (Google Books).

Einzelne Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden, Sonstiges

  • Joshua Cohen (Hrsg.), For Love of Country? A New Democracy Forum on the Limits of Patriotism. Beacon Press 1996, ISBN 978-0-8070-4329-5; eine Sammlung von Stellungnahmen von 14 Autoren wie Appiah und Butler über Putnam, Sen und Taylor bis Wallerstein und Walzer zu Nussbaums vermeintlicher Ablehnung von Patriotismus
  • Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy. Ergänzungsband 1988, S. 145–184
    • deutsch: Die Natur des Menschen, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten: Aristoteles über die distributive Aufgabe des Staates. übersetzt von Ilse Utz, In: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 978-3-518-11739-2
  • Aristotelian Social Democracy. In: R. B. Douglas, G. Mara und H. Richardson (Hg.), Liberalism and the Good. Routledge, New York 1990
    • deutsch: Der aristotelische Sozialdemokratismus. In: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998
  • Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach. In: Martha Nussbaum und Amartya Sen, The Quality of Life. Clarendon Press, Oxford 1993
    • deutsch: Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz. übersetzt von Ilse Utz, In: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998
  • Gefühle und Fähigkeiten von Frauen. Übersetzung (Ilse Utz) eines unveröffentlichten Vortrags, 1993, In: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1998
  • Menschliche Fähigkeiten, weibliche Menschen. Übersetzung (Ilse Utz) eines unveröffentlichten Vortrags, 1993, In: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998
  • Arbeit an der Kultur der Vernunft. In: Joachim Schulte, Uwe Justus Wenzel (Hrsg.): Was ist ein „philosophisches Problem“? übers. aus dem Engl. von Joachim Schulte, Fischer-Taschenbuch-Verl., Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-14931-2

Siehe auch

Literatur

  • Cora Diamond: Martha Nussbaums Need for Novells. In: Ludwig Nagl, Hugh J. Silverman: Textualität der Philosophie. In: Philosophie und Literatur. Oldenbourg, 1994, ISBN 3-486-55990-7, S. 68–93 (Behandelt Love’s Knowledge)
  • Josef Früchl: Insensible Tragik und tragische Insensibilität. Martha Nussbaums (an) ästhetische Ethik. In: Ludwig Nagl, Hugh J. Silverman: Textualität der Philosophie. In: Philosophie und Literatur. Oldenbourg, 1994, ISBN 3-486-55990-7, S. 94–112. (Auseinandersetzung mit The Fragility of Goodness)
  • Adam Galamaga: Philosophie der Menschenrechte von Martha C. Nussbaum: Eine Einführung in den Capabilities Approach. Tectum, Marburg 2014, ISBN 3-8288-3372-1.
  • Thomas Gutschker: Aristotelische Diskurse: Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 2002, ISBN 3-476-01905-5, Kap.IV.2
  • Angela Kallhoff (Hrsg.): Martha C. Nussbaum. Ethics and political philosophy. LIT, Münster 2001, ISBN 3-8258-4881-7.
  • Manuel Knoll: Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption. Wilhelm Fink, München/Paderborn 2009, ISBN 978-3-7705-4858-3
  • Axel B. Kunze: Emanzipatorischer Essentialismus. Die Gerechtigkeitstheorie der amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum. Vwf, 2005, ISBN 3-89700-380-5.
  • Walter Reese-Schäfer: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-28882-2
  • Martina Schmidhuber: Warum ist Armut weiblich?: Philosophische Reflexionen auf Basis des Fähigkeitenansatzes nach Amartya Sen und Martha Nussbaum. VDM 2009, ISBN 978-3-639-11620-5
  • Grit Straßenberger: Über das Narrative in der politischen Theorie. Akademie, Berlin 2005, ISBN 3-05-004145-5.
  • Grit Straßenberger: Die politische Theorie des Neuaristotelismus: Martha Nussbaum. In: Andre Brodocz, Gary S. Schaal (Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart 2. Aufl. UTB (Budrich), Opladen 2006, ISBN 3-8252-2219-5.
  • Dieter Sturma: Universalismus und Neuaristotelismus. Amartya Sen und Martha Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit. In: Wolfgang Kersting (Hrsg.): Politische Philosophie des Sozialstaates. Velbrück, Weilerswist 2000, ISBN 3-934730-14-0, S. 257–292.
  • Anthonia Visser: Liebes Erklärung: Martha Nussbaum liest Samuel Becketts Molloy. In: Wolfgang Emmerich, Heinz-Peter Preusser, Matthias Wilde (Hrsg.): Kulturphilosophen als Leser: Porträts literarischer Lektüren. Wallstein, 2006, ISBN 3-8353-0011-3.
  • Joachim Stiller: Zur Gerechtigkeit PDF

Weblinks

Commons: Martha Nussbaum - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema

Einzelnachweise

  1. So zum Beispiel die Österreichische Akademie der Wissenschaften in einer Vortragsankündigung (Memento vom 4. Februar 2013 im Internet Archive)
  2. 2,0 2,1 Interview: Background, Conversations with History: Institute of International Studies, UC Berkeley, 2006
  3. 3,0 3,1 Robert Boynton: Who Needs Philosophy?: A profile of Martha Nussbaum
  4. Martha Nussbaum: Cultivating Humanity: A Classical Defense of Reform in Liberal Education. Cambridge/MA 1997, S. 6f.
  5. Martha Nussbaum: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge University Press, 1986, Second edition 2001, S. 424, Anmerkung 13.
  6. Scott McLemee: What Makes Martha Nussbaum Run?
  7. Nicht vom Brot allein. In: Die Zeit. Nr. 22, 2009.
  8. Martha Nussbaum: Aristotelian Social Democracy. In: R. Bruce Douglas, Gerald R. Mara, Henry S. Richardson (Hrsg.): Liberalism and the Good. New York/London 1990, S. 203–252.
  9. Romer v. Evans in der englischsprachigen Wikipedia
  10. The Stand: Expert Witnesses and Ancient Mysteries in a Colorado Courtroom. sowie Robert Boynton: Who Needs Philosophy?: A profile of Martha Nussbaum.
  11. Martha C. Nussbaum: Platonic Love and Colorado Law: The Relevance of Ancient Greek Norms to Modern Sexual Controversies. In: Virginia Law Review. vol. 80, Nr. 7 (Oktober 1994), S. 1515–1651.
  12. Robert P. George: „Shameless Acts“ Revisited: Some Questions for Martha Nussbaum. In: Academic Questions 9 (Winter 1995-96), S. 24–42.
  13. Martha Nussbaum: The Professor of Parody (PDF; 54 kB).
  14. Interview mit dem Focus, Heft 29 vom 17. Juli 2000, S. 85.
  15. Website der Human Development and Capability Association Human Development and Capability Association.
  16. Bernhard Ott: Ein Leben für eine gerechte Gesellschaft. In: Der Bund vom 24. Dezember 2014, S. 2 f.
  17. Dagmar Westberg-Stiftungsprofessur, Internetseite der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
  18. Kyoto Prize 2016
  19. Mitteilung der Universität Köln: „Martha Nussbaum wird Albertus-Magnus-Professorin 2012“; ferner „Political Emotions. Part II“ (Memento vom 14. Juli 2014 im Internet Archive) (PDF-Datei; 410 kB).
  20. Martha Nussbaum to be Honored by the American Academy. In: amacad.org. 30. Januar 2018, abgerufen am 5. Februar 2018.
  21. Thomas Gutschker: Aristoteles im 20. Jahrhundert. In: Barbara Zehnpfennig (Hrsg.): Die „Politik“ des Aristoteles. Nomos: Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-8329-4106-2, S. 276.
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