Ennoia

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Evelyn de Morgan:
Helena von Troja (1898)

Ennoia (griech. έννοια), der „erste Gedanke“ oder die „erste Denkkraft“ Gottes, die als weibliches oder auch als männlich-weibliches Geistwesen, oft auch als Muttergöttin beschrieben wird, ist ein wesentlicher Bestandteil vieler gnostischen Systeme und wird manchmal auch mit Sophia (griech. σοφία, „Weisheit“) oder der Barbelo (griech. Βαρβηλώ) gleichgesetzt bzw. werden diese, wie etwa auch die Epinoia (griech. έπινοια, „Einsicht“), als weitere Entwicklungsstufen der Ennoia aufgefasst. Die Valentinianer nennen sie auch Charis (griech. χάριςGnade“) oder Sige (griech. σιγή „Schweigen, Stille“); die männliche Seite der unnennbaren, unfassbaren Gottheit wird Bythos (griech. βυθός, „Tiefe“) genannt.

„Es lehren die Valentinianer, in unsichtbaren und unnennbaren Höhen sei ein vollkommener Äon gewesen, der vor allem war. Diesen nennen sie auch Uranfang, Urvater und Tiefe[1] . Er ist aber unsichtbar, und kein Ding kann ihn fassen. Da er unfaßbar, unsichtbar, ewig und unerzeugt ist, so ist er unermeßliche Zeiten in tiefster Ruhe gewesen. Mit ihm hat zugleich angefangen die Ennoia, die sie auch Charis und Sige nennen. Nun ist jener einmal auf den Gedanken gekommen, von sich diesen Bythos als Anfang aller Dinge auszusenden und diesen Sprößling, den er auszusenden im Sinne gehabt hatte, wie ein Sperma gleichsam in den Mutterschoß der bei ihm befindlichen Sige einzusenken. Nachdem diese ihn empfangen hatte und schwanger geworden war, hat sie den Nous geboren, der dem Erzeuger ähnlich und gleich war und allein die Größe des Vaters erfaßte. Diesen Nous nennen sie auch den Eingebornen, Vater und Anfang aller Dinge. Mit Ihm zusammen ist auch die Wahrheit geboren und dies ist die erste und ursprüngliche Pythagoräische Vierheit, die sie auch die Wurzel aller Dinge heißen. Sie besteht nämlich aus dem Bythos und der Sige, dann aus dem Nous und der Wahrheit[2].“

Irenäus: Contra Haereses I 1,1 [1]

Im Apokryphon des Johannes erfahren wir, wie der «unbekannte Gott» mittels der Ennoia die Äonen-Fünfheit nach seinem Bild erschaft, die in männlich-weiblichen Paaren (syzygien) erscheint und damit genau besehen eine Zehnheit und in ihrer Gesamtheit zugleich der erste Mensch ist. Die Ennoia wird hier auch mit der Pronoia (griech. πρόνοια), der Vorsehung, gleichgesetzt.

„Und sein Gedanke Ennoia vollbrachte eine Tat und trat in Erscheinung, das heißt die, die in Erscheinung trat vor ihm in dem Glanz seines Lichtes. Das ist die erste Kraft, welche vor dem All war und welche in Erscheinung trat aus seinem Denken. Sie ist die Pronoia des Alls, ihr Licht leuchtet im Abbild seines Lichtes, die vollkommene Kraft, die das Abbild ist des unsichtbaren, jungfräulichen Geistes, der vollkommen ist. Die erste Kraft, der Ruhm der Barbelo, die vollkommene Herrlichkeit in den Äonen, die Herrlichkeit der Offenbarung, sie gab Lobpreis dem vollkommenen Geist, und sie war es, die ihn preist, denn seinetwegen war sie in Erscheinung getreten.

Dieser ist der erste Gedanke, sein Abbild. Sie wurde der Mutterschoß des Alls, denn sie ist die, die vor ihnen allen ist, der Mutter-Vater, der erste Mensch, der heilige Geist, der dreifach-männliche, der dreifach-kraftvolle, der dreifachbenannte Mannweibliche und der ewige Äon bei den Unsichtbaren und das erste Herauskommen.

Sie bat den unsichtbaren, jungfräulichen Geist, das ist Barbelo, ihr Erkenntnis zu geben. Und der Geist stimmte zu. Und als er aber zugestimmt hatte, offenbarte sich die erste Erkenntnis. Und sie stellte sich hin mit der Pronoia; diese stammt aus dem Gedanken des unsichtbaren, jungfräulichen Geistes. Sie pries ihn und seine vollkommene Kraft, Barbelo, da sie ihretwegen entstanden waren. Und wiederum bat sie, ihr Unvergänglichkeit zu gewähren, und er stimmte zu. Als er zugestimmt hatte, offenbarte sich die Unvergänglichkeit, und sie stand zusammen mit dem Gedanken und der Ersterkenntnis. Sie pries den Unsichtbaren und Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Und Barbelo bat, ihr ewiges Leben zu geben. Und der unsichtbare Geist stimmte zu. Und als er zugestimmt hatte, trat das ewige Leben in Erscheinung, und sie standen zusammen und priesen den unsichtbaren Geist und Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Und sie bat wiederum, ihr die Wahrheit zu geben. Und der unsichtbare Geist stimmte zu. Und er stimmte zu. Und als er zugestimmt hatte, trat die Wahrheit in Erscheinung. Und sie standen zusammen und priesen den unsichtbaren, vorzüglichen Geist und seine Barbelo, deretwegen sie entstanden waren. Das ist die Fünfheit der Äonen des Vaters, der der erste Mensch ist, das Bild des unsichtbaren Geistes.

Dies ist die Pronoia, das ist die Barbelo, und der Gedanke und die Erst-Erkenntnis und die Unvergänglichkeit und das ewige Leben und die Wahrheit. Das ist die mannweibliche Fünfheit der Äonen, welche ist die Zehnheit der Äonen, welche ist der Vater.“

Apokryphon des Johannes: NHC II,1 [2]

Ähnliche Vorstellungen haben später die Kabbalisten mit dem System der 10 Sephiroth entwickelt, die zugleich den kosmischen Urmenschen Adam Kadmon repräsentieren.

Nach Irenäus von Lyon (Gegen die Häretiker, Buch 1, 23, 1-5) hat bereits der in der Apostelgeschichte erwähnte Simon Magus den Anspruch erhoben, ein Messias (Christus) zu sein, und sei gekommen, um den (weiblichen) „ersten Gedanken" Ennoia aus der Materie zu erlösen. Dieser „erste Gedanke" sei in die niedrigeren Regionen der Finsternis und Unwissenheit abgestiegen und habe die Engelwesenheiten und Mächte erschaffen. Die Engel lehnten sich aus Neid gegen Ennoia-Helena auf und schufen die materielle Welt als ihr Gefängnis, in dem sie in einem weiblichen Leib gefangen lag. So zog sie - durch Reinkarnation oder Seelenwanderung - von Leib zu Leib wie von Gefängnis zu Gefängnis. Sie inkarnierte sich u.a. in Helena von Troja, bis sie schließlich als Prostituierte in der phönizischen Stadt Tyrus durch Gott, der in Gestalt des Simon Magus abgestiegen war, erlöst wurde. Nur wer an Simon und an Helena glaube, könne die Welt vor dem Verderben retten und mit ihnen in die höheren Regionen zurückkehren.

„Dieser Simon von Samaria, von dem sämtliche Sekten abstammen, trägt folgende Irrlehre vor: Mit einer gewissen Helena, die er zu Tyrus in Phönizien als Lohndirne erstand, zog er herum und sagte, dies sei die erste Vorstellung seines Geistes, die Mutter aller, durch die er im Anfang gedachte, Engel und Erzengel zu erschaffen. Indem diese Ennoia von ihm ausging und erkannte, was der Vater wollte, stieg sie in die unteren Regionen hinab und zeugte die Engel und Mächte, von denen diese Welt gemacht worden sein soll. Dann aber wurde sie aus Neid von ihren eigenen Kindern zurückgehalten, da diese nicht für die Kinder irgend jemandes gehalten werden wollten. Er selbst blieb ihnen gänzlich unbekannt, die Ennoia aber hielten die Engel und Mächte zurück, die sie selbst geboren hatte, und jegliche Schmach mußte sie von ihnen erleiden, so daß sie nicht zu ihrem Vater zurückkehren konnte und sogar in menschlichem Körper eingeschlossen, in Ewigkeit wie von einem Gefäß in das andere in weibliche Körper überging. So war sie auch in dem Leib der Helena, deretwegen der trojanische Krieg unternommen wurde. Stesichorus, der auf sie Schmählieder dichtete, wurde deswegen geblendet, und erst als er reuevoll durch Gegenlieder Abbitte leistete, bekam er das Augenlicht wieder. Bei ihrer Wanderung von Körper zu Körper erlitt sie in jedem immer neue Schmach und landete zuletzt in einem öffentlichen Hause — sie ist das verlorene Schaf.“

Irenäus: Gegen die Häretiker I, 23, 1-5 [3]

Die dreigestaltige «Protennoia»

In der Nag-Hammadi-Schrift «Die dreigestaltige Protennoia» wird der Erstgedanke Gottes (griech. προτέννοια, protennoia) in dreifaltiger Gestalt als Vater, Mutter und Sohn dargestellt. Von hier ertönt der weckende «Ruf» der Erlösung. Die Mutter als „erster Gedanke“ wird auch Barbelo genannt. Der Sohn, der aus ihrem «Ruf» erstand, ist das „Wort“, der Logos, der Christus - ein leiser Anklang an den Prolog des Johannes-Evangeliums (Joh 1,1-18 LUT). Bedingt durch die typisch gnostische leibfeindlichkeit ist allerdings nur von einer „Manifestation“, nicht aber von einer wirklichen Inkarnation des Logos die Rede. Die im Ich-bin-Stil verfasste Schrift zählt zur sethianischen Gnosis bzw. zur Barbelo-Gnosis.

„Ich bin die Protennoia, der Gedanke, der im Vater wohnt. Ich bin die Bewegung, die im All wohnt; die, in der das All seinen Bestand hat, der Erst-Gezeugte unter denen, die entstanden sind; die, die vor dem All ist, sie wird Protennoia genannt mit drei Namen, und sie existiert allein, wobei sie vollkommen ist. Ich bin unsichtbar in dem Denken des Unsichtbaren. Ich bin doch enthüllt in den unmeßbaren, unaussprechbaren Dingen. Ich bin unerreichbar, wobei ich im Unerreichbaren wohne; und ich bewege mich doch in jeder Kreatur. Ich bin das Leben meiner Epinoia, die, die in jeder Kraft und in jeder Bewegung wohnt ewiglich und in unsichtbaren Lichtern und in den Archonten und Engeln und Dämonen und in jeder Seele, die in dem Tartaros wohnt und in jeder hylischen Seele; ich wohne in dem Gewordenen und bewege mich doch in jedem. Und ich ruhe in allen und wandle doch in Geradheit; und ich wecke die, die schlafen. Ich bin die Sehkraft aller, die sich im Schlaf befinden. Ich bin doch der Unsichtbare im All. Ich bin es, der über das Verborgene Überlegungen anstellt, wobei ich bereits alles kenne, was in ihm ist. Ich bin für niemanden zählbar. Ich bin unmeßbar und unaussprechbar.
Aber wenn ich will, werde ich mich selbst offenbaren. Ich bin das Haupt des Alls. Ich existiere vor dem All. Ich bin das All, da ich in jedem bin. Ich bin ein Ruf, der leise spricht. Ich bin am Anfang entstanden; ich wohne im Schweigen, das jeden von ihnen umgibt. Und es ist der verborgene Ruf, der in mir wohnt, in dem unerreichbaren, unmeßbaren Gedanken, in dem unmeßbaren Schweigen. Ich kam herab in die Mitte der Unterwelt, und ich leuchtete herab auf die Finsternis. Ich bin es, der hervorsprudeln ließ das Wasser. Ich bin es, der verborgen ist in den strahlenden Wassern.“

Die dreigestaltige Protennoia: NHC XIII,1 [4][5]

Durch den vollkommenen Sohn, den Christus, entstehen die Äonen und er gibt ihnen ihre Herrlichkeit und ihre Throne. Doch dann tritt „der große Dämon in Erscheinung, der über den untersten Teil der Unterwelt und des Chaos herrscht, wobei er weder eine Gestalt hat noch Vollkommenheit, sondern die Gestalt der Herrlichkeit derer, die in der Finsternis hervorgebracht wurden, besitzt. Dieser nun wird genannt ,Sakla`, das heißt ,Samael oder Jaltabaoth`, der, der Kraft genommen hat; er hat sie von der Arglosen, Sophia geraubt, die er zuvor überwältigt hatte, das heißt, die Epinoia des Lichtes, die herabgekommen war, die, aus der er zuvor hervorgekommen war.“ Damit beginnt die Erschaffung des Menschen und der äußeren, der Finsternis verfallen Welt, die der Erlösung bedürftig ist.

Die Erlösung erfolgt durch ein dreimaliges Herabsteigen der Protennoia. Durch den «Ruf» wird die Erkenntnis (Gnosis) über den göttlichen Ursprung erweckt, die durch die Dämonen der Unterwelt verdunkelt worden war. Nur durch Erkenntnis ist Erlösung möglich - das ist das Grundthema aller gnostischen Richtungen. Die Selbstoffenbarung der Protennoia bringt somit nicht nur die Erkenntnis, sondern sie ist die Erlösung. Beim ersten Herabstieg ertönt der «Ruf» der Protennoia, beim zweiten Mal erhebt sie als Heimarmene (griech. εἱμαρμένη, „Schicksal“) ihre Stimme und zuletzt vollendet der Christus, der Logos, die Erlösung durch das Wort.

Anmerkungen

Literatur

  1. Hans Jonas: Gnosis uns spätantiker Geist I, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1934, 1964, 1988 ISBN 978-3525531235
  2. Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005 ISBN 3-525-52110-3