Fortschritt

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„American Progress“ (Amerikanischer Fortschritt), Gemälde von John Gast, 1872

Fortschritt (griech. προκοπή prokope; lat. progressus), im Sinne einer beständigen kulturellen Höher- oder Weiterentwicklung, ist ein zumeist positiv bewertetes menschliches Bestreben, das vor allem im neuzeitlichen abendländischen Denken, das durch ein linear fortschreitendes Geschichtsmodell geprägt ist, fest verwurzelt ist. Im zyklischen Geschichtsmodell der altorientalischen Kulturen spielte der Fortschrittsgedanke nur eine sehr untergeordnete Rolle.

Grundlegendes

Entgegen der heute verbreiteten Anschauung ist die Entwicklung der Menschheit - wie jede Entwicklung - kein linear fortschreitender Prozess, sondern entfaltet sich im Wechselschlag von Evolution und Involution, von Aufstieg und Abstieg.

„Vergleichen wir, was im Laufe der Menschheitsentwickelung an geistigem Leben, an Anschauungen über die geistige Welt und die Welt überhaupt zutage getreten ist, dann bekommen wir auf der einen Seite wirklich das Bild eines sinnvollen Fortschrittes, eines Fortschrittes der ganzen Menschheitsentwickelung auf der ganzen Erde. Und wir bekommen, wenn wir mit den Mitteln geistiger Forschung und geisteswissenschaftlicher Denkweise diesen Fortschritt verfolgen, den Eindruck, daß der Mensch überhaupt als eine einzelne Individualität teilnimmt an dem Gesamtfortschritt der Menschheit, indem er mit seiner Seele in den aufeinanderfolgenden Wiederverkörperungen seines Daseins die aufeinanderfolgenden Zeiträume und Epochen durchmacht und sozusagen dadurch Gelegenheit hat, auf der einen Seite alles herüberzutragen, was er sich in seiner Seele angeeignet hat in alten und in neueren Zeiten, aber auch andererseits Gelegenheit hat, an allem sozusagen teilzunehmen, wenn er mit seiner Seele in der einen Kulturepoche gelebt hat, für die Gesamtentwickelung der Erde eben nicht zu verschwinden, sondern zu bleiben, um wieder teilzunehmen an dem, wozu es die Erde auch in späterer Zeit gebracht hat. Einen solchen Gesamtfortschritt nehmen wir wahr. Aber wir brauchen uns nur an einiges zu erinnern, was öfter betont worden ist in unsern geisteswissenschaftlichen Betrachtungen, und wir werden sehen, daß der Fortschritt nicht ein so einfach gradliniger ist, daß man sagen könnte, es fängt bei einfachen, primitiven Sachen an und steigt immer fort und fort in die Höhe, sondern daß der Fortschritt und die ganze Entwickelung überhaupt etwas Kompliziertes sind.

Wir haben, wenn wir auf die nachatlantische Zeit Rücksicht nehmen, uns einen Einblick verschafft, wie nach der großen atlantischen Katastrophe zuerst eine Kulturepoche da war, die wir als die altindische bezeichnen, von einer solchen Höhe, von einem solchen Hineinblick in die geistige Welt, wie es seit jener Zeit nicht wieder erreicht worden ist, und wie es erst wieder erreicht werden wird, wenn der fünfte und sechste nachatlantische Kulturzeitraum vergangen sein werden und der siebente wieder da sein wird. So finden wir in bezug auf gewisse Arten der menschheitlichen Geistesentwickelung ein zeitenweises Heruntersteigen, dem dann wieder ein Hinaufsteigen folgt. Wir finden zum Beispiel die griechisch-lateinische Kultur, von der wir sagen, daß sie in einer gewissen Weise ein Höchstes darstellt in bezug auf Vermählung des griechischen Volkes mit der Kunst und in bezug auf Einrichtungen in dem griechischen und römischen Staatsleben, so daß ein gewisses harmonisches Zusammenleben des Menschen mit dem physischen Plan erreicht war. Wir sehen aber auch, daß für diese Epoche charakteristisch ist ein Ausspruch des großen Griechen: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt als ein König im Reiche der Schatten![1] - Das heißt, es ist für diese Epoche höchsten Menschheitsglanzes auf dem physischen Plan nur ein geringes Bewußtsein vorhanden für die Bedeutung der spirituellen Welt, die jenseits des physischen Planes ist. Und seit jener Zeit sehen wir das Abnehmen des unmittelbaren Verwachsenseins des Menschen mit dem physischen Plan, sehen ein Abnehmen dessen, was in dieser Richtung Großes hervorgebracht ist, sehen aber dafür wieder auch ein allmähliches Hineinwachsen der Menschheit in die spirituellen Welten. Das sei gesagt für die Charakteristik, daß der Gang der Menschheitsentwickelung ein komplizierter ist und daß, wenn man die Vorteile und Lichtseiten der einen Epoche hervorhebt, man damit durchaus nicht zu meinen braucht, daß andere Epochen, die diese Ordnungen nicht haben, etwa im absoluten Sinne geringer anzuschlagen wären. Wenn wir oft von dem sprechen, was das Christentum in die Welt gebracht hat, so wissen wir, daß wir in dieser Beziehung erst in einem Anfange stehen und daß jene spirituellen Höhen, die im Oriente erreicht sind vor der Zeit des Christentums, noch nicht wieder errungen sind. Das alles müssen wir berücksichtigen, damit kein Schein aufkomme, daß wir, wenn wir die Vorzüge des einen Zeitalters hervorheben, etwa ungerecht wären gegen die Größe und die Bedeutung anderer Epochen.“ (Lit.:GA 133, S. 81f)

Bedeutung und Einseitigkeiten des modernen Fortschrittsdenkens

Im gegenwärtig vorherrschenden Fortschrittsdenken drückt sich der Wille des menschlichen Ichs aus, die Welt nicht nur als Geschenk der Götter anzunehmen, sondern diese selbsttätig zu verändern - und dadurch zugleich die individuelle geistige Entwicklung zu fördern. Das ist eine berechtigte Grundforderung des Bewusstseinsseelenzeitalters, in dem wir leben. Mangelnder Fortschritt wird als Stillstand oder gar Rückschritt empfunden. Allerdings wird Fortschritt heute zumeist nur im äußerlichen zivilisatorischen Sinn als technischer und wirtschaftlicher Fortschritt einseitig missverstanden, erschöpft sich in der Jagd nach dem äußeren Glück, und hemmt dadurch vielfach die geistige Entwicklung. Eine typische Folge des rein äußerlich missverstanden Fortschritts ist die gegenwärtig zu beobachtende Beschleunigung vieler alltäglicher Abläufe im sozialen Leben, die den Menschen beständig unter Druck setzen und ihm die nötige Ruhe und Muße rauben, die für eine solide geistig-moralische Entwicklung unentbehrlich sind. Auf diese Problematik hat Rudolf Steiner schon vor mehr als 100 Jahren hingewiesen.

„Ist es wirklich des Menschen einziges Schicksal, in der Besorgung dessen aufzugehen, was das Leben bringt, um ebenso rasch von diesem Leben auch wieder verzehrt zu werden? - Aber nennt man nicht im Grunde diese Besorgung heute «Menschheitfortschritt» ? Ist es aber ein Fortschritt im höheren Sinne, was man da im Auge hat? Der unzivilisierte Wilde befriedigt sein Nahrungsbedürfnis, indem er sich einfache Werkzeuge macht, und auf die nächsten Tiere des Waldes jagt, indem er mit primitiven Mitteln die Körner zermahlt, die ihm die Erde schenkt. Und ihm verschönt das Leben das, was er als «Liebe» empfindet, und was er in einfacher, wenig über die tierische ragender Weise genießt. Der Zivilisierte von heute gestaltet mit feinstem «wissenschaftlichen» Geiste die kompliziertesten Fabriken und Werkzeuge, um dasselbe Nahrungsbedürfnis zu befriedigen. Er umkleidet den Trieb der «Liebe » mit allem möglichen Raffinement, vielleicht auch mit dem, was er Poesie nennt, aber, wer die verschiedenen Schleier hinwegzuheben vermag - der entdeckt hinter all dem dasselbe, was im Wilden als Trieb lebt, wie er hinter dem in Fabriken verkörperten «wissenschaftlichen Geist» das gemeine Nahrungsbedürfnis entdeckt.

Es erscheint fast hirnverbrannt, solches auszusprechen. Aber es erscheint nur denen so, die nicht ahnen, wie ihr ganzes Denken nichts ist, als eine von ihrem Zeitalter ihnen eingeimpfte Gewohnheit, und die da doch glauben, ganz «selbständig und unabhängig » zu urteilen. - Wir haben es ja doch, nach allgemeiner Meinung, in der «Kultur» so herrlich weit gebracht. Niemand könnte doch die Wahrheit des Ausgesprochenen leugnen, wenn er wirklich einmal erwägen wollte, wie sich eine rein materielle Zivilisation von der Wildheit und Barbarei unterscheidet, wenn er sich einmal wirklich die Stille eines halben Tages gönnen wollte. Ist es denn im höheren Sinne so viel anderes, ob man Getreidekörner mit Reibsteinen zermahlt und in den Wald geht, um Tiere zu jagen; oder ob man Telegraphen und Telephone in Betrieb setzt, um Getreide von entfernten Orten zu beziehen? Bedeutet es nicht schließlich, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, dasselbe, ob nun die eine Base der andern erzählt, sie habe in diesem Jahre so und so viel Linnen gewebt; oder ob täglich Hunderte von Zeitungen erzählen, der Abgeordnete X habe eine herrliche Rede gehalten, damit da oder dort eine Eisenbahn gebaut werden solle, und wenn diese Eisenbahn zuletzt auch zu nichts dienen soll, als die Gegend Y mit Getreide aus Z zu versorgen. Und endlich: steht es um so viel höher, wenn uns ein Romanschriftsteller erzählt, in wie raffinierter Weise Eugehius seine Hermine gefreit hat, als wenn der Knecht Franz in naiver Weise erzählt, wie er zu seiner Katharine gekommen ist?“ (Lit.:GA 34, S. 26f)

„Weil der materielle Fortschritt gewissermaßen vorausgeeilt ist dem guten Willen zur geistigen Erkenntnis, so ist dem Menschen dieser materielle Fortschritt, und namentlich alles, was aus diesem Fortschritt an Leidenschaften, an Impulsen in den Seelen sich ergibt, über den Kopf gewachsen. Es zeigt sich dies ja äußerlich am eindringlichsten dadurch, daß nicht diejenigen Ideen, welche auf harmonisches Zusammenleben der Menschen auf Erden hinzielen, daß mit andern Worten nicht die christlichen Ideen die Oberhand gewonnen haben, sondern, bis zur Exaltation, solche, welche die Menschheit spalten und sie in Kulturepochen zurückführen, von denen man glauben konnte, daß sie längst überwunden seien. Daß im 19. Jahrhundert innerhalb der miteinander lebenden Nationalitäten der Nationalismus solche Blüten treiben konnte, wie er sie getrieben hat, das ist die starke, große Anomalie, und sie zeigt, daß die Menschen mit ihrer Seelenentwickelung der materiellen Entwickelung nicht nachgekommen sind.“ (Lit.:GA 174, S. 38)

Fortschrittsdenken als Zeitnotwendigkeit des Bewusstseinsseelenzeitalters

Unser heutiges Fortschrittsdenken hat sich erst ab dem 15. Jahrhundert entwickelt und hängt eng mit der Ausbildung des modernen naturwissenschaftlichen Denkens zusammen.

„Was sich seit der Galilei-Zeit, seit der Kopernikus-Zeit entwickelt, was seitdem für die Menschheit geschieht und weiter wirkt bis zu den großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, das betrachtet man so, daß man einen werdenden Fortschritt deduziert, daß man sagt: Die Menschen kommen weiter und weiter. - Geht man aber hinter das 15. Jahrhundert zurück, so kann man mit diesem Begriff des Fortschrittes einfach nichts mehr anfangen. Man kann da von Jahrhundert zu Jahrhundert zurückgehen, man findet im Zeitenverlauf zwar nicht überall denselben Geist, man findet schon, daß er sich wandelt, wie wir das morgen genauer charakterisieren werden, wenn man die verschiedenen Geschichtsepochen des 12., 11., 10., 9., 8., 7., 6. Jahrhunderts durchgeht. Man sieht, wie sich die christliche Lehre allmählich ausbreitet; aber in demselben Sinne einen Fortschritt, wie er dann von der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt und wie er dann im 19. Jahrhundert zu dem radikalen Umschwung, zu der radikalen Wende führt, wie wir gesehen haben, einen solchen Fortschritt findet man nicht, und indem man, ich möchte sagen, jenen mehr stationären Zustand ins Auge faßt, wird man zurückgeführt bis zu einem wichtigen Zeitpunkte in der europäischen Entwickelung. Man wird zurückgeführt bis in das 4. nachchristliche Jahrhundert. Und dabei bekommt man allmählich das Gefühl: Man kann durch kontinuierliche Betrachtung verfolgen, was einsetzt mit der Mitte des 15. Jahrhunderts etwa mit Nikolaus Cusanus, was sich dann ausdrückt in der galileisch-kopernikanischen Denkweise, was Schritt für Schritt vorwärtsrückt bis zu der radikalen Wendung im 19. Jahrhundert; man kann aber nicht in derselben Weise frühere Jahrhunderte betrachten, in denen man zu einem stationären Verlauf kommt.“ (Lit.:GA 325, S. 33)

Zugleich hat Rudolf Steiner aber auch darauf hingewiesen, dass damit eine Zeitnotwendigkeit gegeben ist, der wir uns nicht verschließen dürfen. In Wahrheit kommt es nur daruf an, für den notwendigen äußeren Fortschritt trotz aller Hindernisse ein geistiges Gegengewicht zu schaffen. Vor allem müssen auch die sozialen Folgen des Fortschritts bedacht werden; rücksichtsloser Fortschritt und mangelnde Solidarität führen notwendig zu sozialem Elend - ein weltweit nach wie vor drängendes Problem.

„Nicht durch Verhältnisse werden die Menschen bestimmt, sondern, insofern die Verhältnisse soziale sind, werden diese Verhältnisse durch Menschen gemacht. Leidet der Mensch unter Verhältnissen, so leidet er in Wahrheit unter dem, was ihm seine Mitmenschen zufügen. Und alles Elend, das durch die industrielle Entwickelung gekommen ist - das muß der, der die Wahrheit sucht, zugeben -, das kam lediglich davon her, daß die Menschen dieselbe Kraft des Geistes, die sie angewendet haben auf den segensreichen äußeren Fortschritt, nicht für nötig befunden haben anzuwenden auf die Verbesserung des Loses derjenigen Menschen, die gebraucht werden zur Umgestaltung dieses Fortschrittes.“ (Lit.:GA 54, S. 102)

„Es ist sehr leicht heute, einen solchen ethischen Indi-vidualismus, wie er in meiner «Philosophie der Freiheit» begründet ist, in Grund und Boden hinein zu kritisieren. Gewiß, das kann man, wenn man an alten Traditionen haftet, wenn man nicht dem, was als äußerer Fortschritt in der Menschheit eingetreten ist, auch einen inneren Fortschritt entgegenstellen will. Aber auf der anderen Seite kann man sich auch sagen: Je stärker der äußere Fortschritt ist, um so größer und stärker muß auch die Kraft des inneren Strebens des menschlichen Seelenlebens sein.“ (Lit.:GA 73a, S. 355)

„Wir stehen wahrhaftig nicht in irgend etwas, das wir kritisierend, abfällig betrachten dürfen, wenn wir mitten in einem Felde modernster materieller Tätigkeit stehen, denn wir stehen da vielmehr auf einem Gebiete, das uns gerade zeigt, wie es im späteren äußeren Erdenleben immer mehr und mehr werden muß. Wir würden uns nur unverständig zeigen, wenn wir sagen wollten: Alte Zeiten, in denen man gewissermaßen Wald und Wiese und das ursprüngliche Naturleben mehr um sich hatte als die Schornsteine der Gegenwart, sie möchten wieder heraufkommen. - Man würde sich nur unverständig zeigen. Denn man würde beweisen, daß man keinen Einblick hat in dasjenige, was die Weisen aller Zeiten genannt haben «die ewigen Notwendigkeiten, in die der Mensch sich zu finden hat». Gegenüber dem die Erde überdeckenden materiellen Leben, wie es insbesondere das 19. Jahrhundert heraufgebracht hat und welches die späteren Zeiten in noch viel umfassenderer Weise der Menschheit bringen werden, gegenüber diesem Leben gibt es keine aus einer Sympathie mit dem Alten genommene berechtigte Kritik, sondern gibt es einzig und allein die Einsicht, daß so das Schicksal unseres Erdenplaneten ist. Mag man die alten Zeiten von einem gewissen Standpunkte aus schön nennen, mag man sie betrachten wie eine Frühlings- oder Sommerzeit der Erde, zu wettern dagegen, daß auch andere Zeiten kommen, wäre ebenso unverständig, wie es unverständig wäre, unzufrieden damit zu sein, daß auf den Frühling und Sommer Herbst und Winter folgen. Deshalb müssen wir es schätzen und lieben, wenn aus einem innerlich mutigen Entschlüsse heraus unsere Freunde gerade inmitten des allermodernsten Lebens und Treibens eine Stätte unseres geistigen Lebens schaffen.“ (Lit.:GA 150, S. 102f)

„Im Westen liegt die Gefahr vor des Verstricktwerdens in das Sinnenleben, wodurch das Sinnenleben ichlos werden würde. Denn wenn auf der Erde nur das Glück begründet werden soll, so könnte niemals das Ich auf der Erde leben. Wenn das Gute nur dadurch begründet werden sollte, daß Glück über die Erde ausgebreitet werden sollte, so würde folgendes nämlich eintreten, das zeigt schon die Erfahrung der alten Atlantis: Auch in der Mitte der Atlantischen Kultur waren große Impulse gegeben, die im weiteren Verlaufe zu einem Glücke geführt hätten. Die Menschen hatten, was sie zuerst als Antrieb des Guten empfunden haben, in seiner Form, in seinen Wirkungen gesehen als ein gewisses Glück. Da gibt sich der Mensch dem Glücke hin, da geht der Mensch in Glück auf. Und die Erde mußte in bezug auf die atlantische Kultur gewissermaßen hinweggefegt werden, weil die Menschen nur zurückbehalten hatten das Glück von dem Guten. In der nachatlantischen Zeit will nun Ahriman direkt eine Glückskultur begründen. Das würde heißen: auspressen die Zitrone, weg mit ihr! - Die Iche würden nicht mehr leben können, wenn nur eine Glückskultur begründet werden sollte. Glück und Gutes, Glück und Tugend sind keine Begriffe, die füreinander gesetzt werden können.

Hier sehen wir in tiefe Lebensgeheimnisse hinein. Das, was berechtigt ist: eine Kultur zu begründen, die selbstverständlich in ihren Folgen zu einem gewissen menschlichen Glück führen muß - , wird so verkehrt, daß man das Glück selber als das Wünschenswerte hinstellt. Und eine Kultur, die selbstverständlich dahin führen soll, daß die menschliche Seele in ihrem Leben vor allem den Tod und das Böse erkennt, wird so verkehrt, daß von vornherein die Berührung mit dem, was den Tod hervorbringen kann und das Böse hervorbringen kann, gewissermaßen gemieden wird, daß die Leiblichkeit gescheut wird. Und dadurch soll Luzifer entgegengekommen werden.

Sehen Sie, so muß man versuchen zu begreifen, wie die konkreten Kräfte im Menschendasein wirken, was unter und über dem bewußten Seelenleben gerade in der fünften nachatlantischen Kultur ist. Und wenn Sie diese Leitmotive kennen, so werden Sie schon finden, wie Sie vieles, vieles, was auftritt, verstehen können. Nur bitte ich Sie, verfallen Sie nicht in den Wahn: Also muß man alles Luziferische und alles Ahrimanische meiden. - Das ist ja der beste Weg, um dem Luziferischen und Ahrimanischen zu verfallen! Denn derjenige, der mit der Menschheit lebt, muß eben wissen, daß Luzifer und Ahriman gewissermaßen zugelassen sind. Wenn nicht Abirrungen stattfinden könnten, so würde ja der Mensch niemals zur Freiheit kommen können; wenn er nicht in dem Irrtum leben könnte, daß Glück und Gutes einerlei sein könnten, und sich nicht erheben könnte wiederum über diesen Irrtum, so würde er niemals zur Freiheit kommen können. Wenn er nicht in dem Wahn leben könnte, daß man durch Abtöten des äußeren irdischen Lebens über Tod und Böses den Sieg davontragen kann, wenn er sich nicht diesem Wahne hingeben könnte, so würde er nicht zur Überwindung des Todes und der Sünde in Wirklichkeit kommen können. Notwendig ist, daß diese Dinge hereinragen ins Menschenleben. "Wir müssen uns nur klar sein darüber, daß die wehleidige Rede: Ach, das ist luziferisch, das muß man meiden; das ist ahrimanisch, das muß man meiden - nicht Besitz ergreife von uns, sondern daß wir uns in der rechten Weise den realen Mächten gegenüberstellen und wissen, daß wir nicht bloß Luzifer zu meiden haben, sondern die Kräfte des Luzifer zu erobern haben für die fortschreitende Menschheitskultur; daß wir nicht bloß Ahriman zu meiden haben, sondern die Kräfte des Ahriman zu erobern haben für die fortschreitende Menschheitskultur; daß wir sie hereinzuholen haben. Der Kampf besteht darinnen, daß Ahriman die Seelen hinausholen will. Die Menschheit hat die Aufgabe, Ahriman mit seinen starken Kräften hereinzuholen, das heißt zum Beispiel alle diejenigen Verstandeskräfte - vorzüglich Verstandeskräfte sind es, aber sie können auch eine Gemütsform annehmen -, die verwendet worden sind auf das Problem: Wie begründet man einen Staat? - Denken Sie an all die Leute, die mehr oder weniger theoretisch, mehr oder weniger praktisch dieses Problem unternommen haben; unternommen haben zuweilen, indem sie die stärksten Aufwendungen gemacht haben, das Problem zu lösen. Diese Kräfte, die verwendet worden sind auf das Problem, die müssen in den guten Dienst der Menschheit gestellt werden, die dürfen nicht dadurch verahrimanisiert werden, daß man sagt, man wolle von Ahriman nichts wissen, man beschäftige sich nicht mit dem, was man zum Beispiel in sozialen Problemen als von Ahriman ausgehend anführt. Das würde zu nichts führen. Ebenso ist es mit dem Luzifer. Gerade darinnen muß der Impuls bestehen, der Empfindungsimpuls, der Gefühlsimpuls, den uns die Geisteswissenschaft gibt, daß wir uns zu den Kräften, die schon einmal in der Welt sind, in der richtigen Weise stellen. Derjenige, der das nicht will, der ist geradeso wie einer, der sagt: Böse Elemente, nein, die mag ich nicht, nein, die mag ich gar nicht. - Gewiß, beides sind Einseitigkeiten, aber im Zusammenwirken von Bösem und Gutem, in der Vereinigung werden gerade die Elemente fruchtbar in dem Gleichgewichtszustande, den wir im Leben herbeiführen sollen, indem wir das Ahrimanische und Luziferische gewissermaßen beherrschen lernen. In diesem Gleichgewichtszustand liegt der Impuls, der dem Leben einzufügen ist. Und Geisteswissenschaft soll diesen Impuls vermitteln.“ (Lit.:GA 171, S. 112ff)

Wahrer Fortschritt erfordert geistig-moralische Reife

Wirklicher Fortschritt kann nur aus einer moralisch-geistigen Reife entstehen, der erst ab einem Lebensalter gegeben ist, in dem der Mensch beginnt, bewusst das Geistselbst auszubilden.

„Die Menschen brauchen Entdeckungen und Erfindungen, das ist Naturgesetz. Wenn solche Entdeckungen, namentlich aber Erfindungen, auch Erfindungen technischer Art, von Menschen gemacht werden, die noch nicht in den Vierziger Jahren sind, dann wirken diese Erfindungen im Gesamtzusammenhang der Menschheit retardierend, eigentlich irgend etwas zurückstauend in der Menschheit, vor allen Dingen gegen den moralischen Fortschritt der Menschheit. Die schönsten Erfindungen können gemacht werden von jungen Menschen: es ist nicht zum Fortschritt der Menschheit. Ist der Mensch in die Vierzigerjahre gekommen und bewahrt er sich dort hinauf seinen Erfindergeist für dasjenige, was für die physische Welt geschehen soll, dann gibt er mit der Erfindung auch moralischen Inhalt, dann wirkt diese im Fortschritt der Menschheit moralisch. Wenn so etwas ausgesprochen wird, ist es für die Menschheit ein Wahnsinn, da die Menschheit ja überhaupt geistige Gesetze nicht anerkennt. Aber es ist ein geistiges Gesetz, daß der Mensch erst reif wird, durch seine Erfindungsgabe für den Fortschritt der Menschheit zu wirken auf geistigem und namentlich auf technischem Gebiet, wenn er vierzig Jahre alt ist. So weit müssen wir rechnen mit den Entwickelungsgesetzen der Menschheit. Erst wenn sich die Menschheit dazu entschließen wird, nicht bloß nachzudenken: Wie richtet man diese oder jene Wirtschaftsämter ein? - sondern wenn sie sich entschließen wird, nachzudenken: Was muß unter den Menschen geistig-seelisch kultiviert werden? worauf muß gesehen werden? - dann ist ein Heil für die Menschheit zu erwarten.“ (Lit.:GA 192, S. 250)

Aus dem bloß intellektuellen Denken ist kein qualitativer Fortschritt zu erwarten.

„So stehen wir heute vor der Situation, daß aus all den Gründen, die ich in den letzten Tagen auseinandergesetzt habe, von den älteren Leuten das nicht mehr betont wurde, was sie einfach durch ihr Ältersein geworden sind. Man blieb stehen bei jenem Intellektualismus, der ungefähr zwischen dem achtzehnten, neunzehnten Jahre schon so weit entwickelt ist, daß man von da ab intellektualistisch wissen kann. Aber in bezug auf das Intellektualistische kann man höchstens zu größerer Übung, nicht aber zu einem qualitativen Fortschritt kommen. Hat man überhaupt einmal von dieser Sünde gegessen, intellektualistisch alles beweisen oder widerlegen zu wollen, so erlebt man in diesem Beweisen oder Widerlegen keinen Fortschritt mehr. Daher kommt es, daß, wenn jemand aus jahrzehntelanger Erfahrung heraus etwas bringt und es intellektualistisch beweisen will, ein Achtzehnjähriger ihn intellektuell widerlegen kann. Denn was man intellektualistisch kann im sechzigsten Lebensjahre, das kann man auch schon im neunzehnten. Der Intellektualismus ist eben eine Etappe, die einmal während der Bewußtseinsseelenzeit erreicht wird, aber keinen Fortschritt mehr erfährt im Sinne einer Vertiefung, sondern nur im Sinne der Übung. Der junge Mensch kann wohl sagen: Ich bin noch nicht so gescheit wie du, du kannst mich noch übertölpeln, - aber er wird nicht glauben, daß der andere auf dem Gebiete des Intellektualismus mehr vermag als er. Man muß diese Dinge radikal aussprechen, damit sie deutlich werden. Ich will nicht kritisieren, sondern schildere nur, was eine naturgemäße Entwickelung der Menschheit ist.“ (Lit.:GA 217, S. 146f)

„Alle großen Errungenschaften der Menschheit sind niemals aus den Köpfen derer entsprungen, die sich Praktiker dünken. Die Praktiker haben kein Urteil über den wahren Menschheitsfortschritt. Erst wenn der Mensch sich aufschwingt zu den großen kulturbewegenden Faktoren, die aus dem Geist und der Seele kommen, erst wenn er unter geistiger Führung steht, kann er der Menschheit die großen Impulse geben.“ (Lit.:GA 264, S. 369)

Geistige und körperliche Entwicklung der Menschheit

„Wir müssen unterscheiden zwischen dem inneren Fortschritt des Ich und des Astralkörpers von Inkarnation zu Inkarnation und dem äußerlichen Fortschritt und der Veränderung in den physischen und ätherischen Körpern von einer Rasse zu der anderen, von einer Nation zu der anderen, von einem Zeitalter zu dem anderen.

Dieser Fortschritt der äußeren Körper, der physischen und ätherischen, von einem Zeitalter zum anderen, würde denen, die Anatomie und Physiologie studieren, nicht bemerkbar sein, aber er ist trotzdem vorhanden und kann durch die okkulte Wissenschaft erkannt werden. Und so wird der menschliche physische Körper wieder ganz verschieden sein im Laufe der normalen Entwickelung der Menschheit, wenn nach unserem jetzigen Leben unsere Seelen in einer zukünftigen Verkörperung wieder auf der Erde erscheinen werden.

In der jetzigen Menschheitsperiode wird ein zartes Organ vorbereitet, das für den äußeren Anatomen und Physiologen nicht bemerkbar ist. Und doch existiert es anatomisch. Dieses Organ liegt im menschlichen Gehirn, in der Nähe des Sprachorgans.

Die Entwickelung dieses Organs in den Gehirnwindungen ist nicht das Ergebnis des Karma individueller Seelen, sondern sie ist ein Ergebnis der menschlichen Evolution als eines Ganzen auf der Erde, und in der Zukunft werden alle Menschen dieses Organ besitzen, ganz gleich was die Entwickelung der Seelen sein mag, die sich in diesem Körper inkarnieren werden, und ganz unabhängig von dem Karma, das mit diesen Seelen verbunden ist [...]

Wenn dieses Organ entwickelt ist, kann es von der Menschheit entweder richtig angewendet werden oder auch nicht. Diejenigen werden es richtig anwenden können, die jetzt die Möglichkeit vorbereiten, die jetzige Inkarnation wahrheitsgemäß in der Erinnerung zu haben, wenn sie in der nächsten sein werden. Denn dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Entwickelung.“ (Lit.:GA 152, S. 20f)

Die Wiederkehr des Christus im Ätherischen

Der wahre geistige Fortschritt von unserer Zeit wird darin bestehen, dass die Menschen beginnen, die Wiederkehr des Christus im Ätherischen zu erleben.

„Derjenige, der da glaubt an den Fortschritt der menschlichen Natur, der da glaubt, daß die menschliche Seele immer höhere und höhere Kräfte entwickeln wird, der weiß, daß es notwendig für die in die tiefsten Tiefen des physischen Planes heruntergestiegene Menschenseele war, daß der Christus auch in einem physischen Leibe einmal erschien. Das war notwendig, weil damals die menschliche Seele nur die Gottheit in einem Leibe sehen konnte, der für physische Augen, für physische Organe sichtbar war. Dadurch aber, daß dieses Ereignis eintrat, daß die alte Jahve-Kultur dieses Ereignis vorbereitet hat und es dann eingetreten ist, dadurch wird die menschliche Seele zu immer höheren Fähigkeiten geführt, und die Erhöhung dieser Fähigkeiten drückt sich dadurch aus, daß nun die Menschen lernen werden, auch dann den Christus zu schauen, wenn er nicht mehr in einem physischen Leibe unter ihnen wandelt, sondern wenn er so sich zeigt, wie er jetzt auch unter uns ist seit dem Mysterium von Golgatha, allerdings nur für hellsichtige Augen sichtbar. Der Christus ist da, ist mit dem Ätherleibe der Erde vereinigt. Das, worauf es ankommt, ist, daß die menschliche Seele sich heraufentwickelt, um ihn zu schauen. Darin liegt der große Fortschritt der Entwickelung der menschlichen Seele, und wer da an den Fortschritt der menschlichen Seele glaubt, wer glaubt, daß Geisteswissenschaft einen Zweck hat und eine Mission in bezug auf den Fortschritt der menschlichen Seele, der wird verstehen, daß die Kräfte der menschlichen Seele immer höhere werden müssen und daß es ein Stehenbleiben bedeuten würde, wenn die menschliche Seele in unserer Zeit den Christus in derselben physischen Form sehen müßte, in der sie ihn einstmals sah. Wer also glaubt an den Fortschritt und wer an Zweck und Mission der Geisteswissenschaft glaubt, der weiß: eine grandiose Bedeutung liegt in dieser alten Rosenkreuzerformel von dem Gottes-Sohnes-Wesen, das nur einmal in einem physischen Leibe sich verkörpert hat, das schon von unserem Jahrhundert ab - nach den Prophezeiungen und nach unseren Erkenntnissen — wiederum den menschlichen Seelen als ätherisches Wesen mehr und mehr sichtbar sein wird. Wer an den Fortschritt des menschlichen Werdens glaubt, der glaubt an dieses Wiederkehren des Christus, der da schaubar wird für die ätherischen Fähigkeiten des Menschen. Wer da nicht glauben will an den Fortschritt, der möge glauben daran, daß die menschlichen Seelenkräfte stehenbleiben und auch in unserer Zeit nötig haben, den Christus in derselben Gestalt zu sehen wie damals, als die Menschheit heruntergestiegen war in tiefste Gründe der Materie, der möge glauben an eine Wiederkehr eines Christus in einem physischen Leibe.“ (Lit.:GA 129, S. 51f)

Devise

Eine Devise muß aus geisteswissenschaftlicher Gesinnung die Menschen ergreifen, sonst wird kein Fortschritt in unserer heillosen Zeit möglich sein. Und diese Devise muß sein:

Suchet das wirklich praktische materielle Leben,
Aber suchet es so, daß es euch nicht betäubt
über den Geist, der in ihm wirksam ist.
Suchet den Geist,
Aber suchet ihn nicht in übersinnlicher Wollust,
aus übersinnlichem Egoismus,
Sondern suchet ihn,
Weil ihr ihn selbstlos im praktischen Leben,
in der materiellen Welt anwenden wollt.

Wendet an den alten Grundsatz:
«Geist ist niemals ohne Materie, Materie niemals
ohne Geist» in der Art, daß ihr sagt:
Wir wollen alles Materielle im Lichte des Geistes tun,
Und wir wollen das Licht des Geistes so suchen,
Daß es uns Wärme entwickele für unser praktisches Tun.

Der Geist, der von uns in die Materie geführt wird,
Die Materie, die von uns bearbeitet wird bis zu ihrer Offenbarung,
Durch die sie den Geist aus sich selber heraustreibt;
Die Materie, die von uns den Geist offenbart erhält,
Der Geist, der von uns an die Materie herangetrieben wird,
Die bilden dasjenige lebendige Sein,
Welches die Menschheit zum wirklichen Fortschritt bringen kann,
Zu demjenigen Fortschritt, der von den Besten
in den tiefsten Untergründen der
Gegenwartsseelen nur ersehnt werden kann.

(Lit.:GA 297, S. 116f)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Homer: Odyssee 11,488-491