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Evolution

Aus AnthroWiki

Evolution (von lat. evolvere = "hinauswälzen", "-rollen", sich "ent-wickeln") ist seit der Zeit der Französischen Revolution die Bezeichnung für jede langsam und friedlich voranschreitende Entwicklung und bildet damit den begrifflichen Gegensatz zur Revolution (lat. revolutio = das "Zurückwälzen", die "Umdrehung"), die für einen plötzlichen, gewaltsamen Wandel steht.

Die biologische Evolutionstheorie

Die Evolutionsgeschichte im Überblick
Charles Darwin (1842)
Alfred Russel Wallace (1895)
St. George Jackson Mivart

In seiner 1901 veröffentlichten Schrift über «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» bemerkt Rudolf Steiner über die natürliche Abstammungslehre:

„Die natürliche Abstammungslehre ist gegen­über allen früheren «Schöpfungshypothesen» ein Fort­schritt wie die Erkenntnis, daß die Erde rund ist, gegen­über allen vorhergehenden Vermutungen über deren Ge­stalt.“ (Lit.: GA 7, S. 104)

In der Biologie, der Natur- und Kulturgeschichte wird Evolution heute als die Entwicklung zu neuen, meist höher integrierten, komplexeren Formen im physikalisch-chemischen (Entwicklung des Weltalls und der Erde), biologischen (Entwicklung der Lebewesen) und kulturellen Bereich (Entwicklung der Kulturen) verstanden und als solche weitgehend im Sinne der modernen darwinistischen Evolutionstheorie auf rein materiell bedingte Ursachen zurückgeführt. In Anlehnung daran ist nach der Systemtheorie die Evolution ein Prozess, bei dem durch Reproduktion oder Replikation von einem System Kopien hergestellt werden, die sich voneinander und von ihrem Ursprungssystem durch zufallsbedingte Variation unterscheiden und bei dem nur ein Teil dieser Kopien auf Grund von Selektion für einen weiteren Kopiervorgang zugelassen werden. Anhand von Fossilien kann die Evolutionsgeschichte an objektiven Fakten erhärtet werden.

Alfred Russel Wallace (1823-1913), der die wesentlichten Grundgedanken der Evolutionslehre zeitgleich und in vielen Punkten übereinstimmend mit Charles Darwin (1809-1882) entwickelte, wandte sich allerdings im Gegensatz zu Darwin entschieden gegen den bloßen Zufall, dem das Leben seine Entstehung und Entfaltung verdanken sollte, sondern postulierte ein organisierendes geistgeleitetes Lebens-Prinzip. Ziel und Zweck dieser Entwicklung ist für Wallace der Mensch, der die verborgenen Kräfte dieser Entwicklung erkennen und daraus einen höchsten, überragenden Geist als dessen Ursache ableiten kann. In seinem 1910 erschienen Buch „The World of Life“ betonte er nachdrücklich:

„Aber neben der Diskussion über diese und mehrere andere verwandte Themen ist die prominenteste Eigenschaft meines Buches, dass ich in eine populäre, aber kritische Untersuchung der grundlegenden Probleme anstelle, die Darwin absichtlich von seinen Werken ausgeschlossen hat. Diese sind die Natur und die Ursachen des Lebens selbst; und insbesondere dessen fundamentalste und geheimnisvollste Kräfte: Wachstum und Reproduktion.

Ich bemühe mich zunächst, vorsichtig durch die Betrachtung der Struktur der Vogelfeder, durch die wunderbaren Umwandlungen der höheren Insekten, und, noch spezieller an den hoch ausgearbeiteten Flügelschuppen der Lepidoptera[1] (als leicht zugängliche Beispiele für das, was in jedem Teil der Struktur jedes Lebewesens vorgeht) zu zeigen, dass eine absolute Notwendigkeit für ein organisierendes und dirigierendes Lebens-Prinzip besteht, um solche komplexe Auswüchse zu ermöglichen. Ich argumentiere, dass sie erstens unbedingt eine kreative Kraft implizieren, die diese Wunder ermöglichte; als nächstes einen lenkenden Geist, der für jeden Schritt dessen verlangt wird, was wir als Wachstum bezeichnen, und betrachte oft einen so einfachen und natürlichen Prozeß, der keiner Erklärung bedarf; und endlich einen letzten Zweck für die Existenz der ganzen weiten Lebenswelt auf ihrem langen Weg der Evolution durch die Äonen der geologischen Zeit. Für diesen Zweck, der alleine viele Geheimnisse ihrer Evolution erhellt, halte ich die Entwicklung des Menschen, als das eine krönende Resultat der ganzen kosmischen Prozesser der Lebensentwicklung; das einzige Wesen, dass die Natur einigermaßen verstehen kann; das ihre Handlungsweisen wahrnehmen und verfolgen kann; das die überall tätigen verborgenen Kräfte und Bewegungen schätzen und daraus einen höchsten und überragenden Geist als dessen notwendige Ursache ableiten kann.

Für diejenigen, die eine solche Ansicht akzeptieren, wie ich sie angegeben habe, zeige ich, wie stark sie durch eine lange Reihe von Fakten und Korrelationen unterstützt wird, die wir kaum als rein zufällig betrachten können. Solche sind die unendlich vielfältigen Produkte der Lebewesen, die den Zwecken des Menschen dienen, und einzig dem Menschen - nicht nur um seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch um seine höheren Bedürfnisse und Gefühle und die vielen Fortschritte in den Künsten und in der Wissenschaft zu ermöglichen, die wir als die höchsten Beweise für seine Überlegenheit und seine fortschreitende Zivilisation ansehen.“

Alfred Russel Wallace: The World of Life, Vorwort (englischer Originaltext)

Auch die Vertreter des Intelligent Design, dessen grundlegende Ideen von einer Gruppe konservativer amerikanischen Neokreationisten formuliert wurden, führen die gegenwärtigen Eigenschaften des Universums und des Lebens auf Erden auf eine nichtmaterielle intelligente Ursache zurück. Die wesentlichen Vordenker des Intelligent Design, die vorwiegend dem christlich-konservativen Discovery Institute in Seattle (Washington) angehören, identifizieren den intelligenten Designer mit dem christlichen Gott selbst.

Eine ganz andere Ansicht als Wallace vertrat der engliche Zoologe St. George Jackson Mivart (1827-1900). Beide schlossen den Menschen aus der natürlichen Evolutionsreihe aus. Für Rudolf Steiner war das ein klares Anzeichen dafür, dass sich das wahre Wesen des Menschen nur der Geisteswissenschaft erschließt:

„Da sei auf zwei Forscher aufmerksam gemacht, die beide auf dem Boden der Entwicklungsgeschichte, auf dem Boden der Naturwissenschaft standen. Beide Forscher faßten den Hervorgang der einzelnen lebendigen Organismen auseinander so auf, wie die Darwinianer die Sache auch auffassen, aber sie nahmen nur den Menschen aus. Sie waren sich klar, daß man die auf die Tierwelt anzuwendenden Gesetze nicht auf den Menschen anzuwenden habe, sondern daß man, wie man sein Körperliches aus dem Physischen, so sein Geistig-Seelisches aus einem Geistig-Seelischen herleiten müsse. Darüber waren sich beide vollständig klar. Sie waren ebenso gute Naturforscher wie Erkenner des Geistigen, aber ihre Denkgewohnheiten standen unter denjenigen der naturwissenschaftlichen Richtung. Sie dachten wie man als echter Naturwissenschaftler denkt. Wie dachte der eine, Mivart, und wie dachte der andere, Wallace, ein Zeitgenosse Darwins, über die eigentlichen Vorgänge in der Entwickelung?

Wallace sagte sich, der Mensch könne nicht so einfach in die Tierreihe hineingestellt werden. Schon aus dem Grunde nicht, weil schon im äußeren Bau des Gehirnes ein beträchtlicher Unterschied zwischen dem Menschen und dem höchstentwickelten Affen vorhanden sei, wenn man auch nur den Wilden ins Auge fasse, und weil das Affengehirn gegenüber dem Gehirn des Wilden viel zu unvollkommen sei, wenn nur im geraden Fortgange der Entwickelung der Mensch sich aus dem Affen entwickelt haben soll. Der andere Forscher, Mivart, fand, daß die Kulturstufe des wilden Menschen gar nicht äußerlich verschieden sei von der Entwicklungsstufe des höchstentwickelten Affen. Wenn man aber die geistigen Betätigungen des Wilden und dagegen die Betätigungen des höchstentwickelten Affen ins Auge fasse, so müsse man voraussetzen, da die Gehirne der beiden so viel Ähnlichkeit miteinander haben, daß der Mensch deshalb nicht in die Tierreihe gehöre. Wenn man wieder die Gehirne ins Auge fasse, so sehe man ganz klar, daß sich das Gehirn des Menschen nicht aus dem Affengehirn entwickelt hat durch Anpassung an äußere Verrichtungen, sondern es entwickle durch die Zivilisation alle Möglichkeiten schon so, daß es nur so scheine, als ob schon alles veranlagt wäre, damit es einmal das Werkzeug der Zivilisation werden könnte.

Also weil das Affengehirn und das Menschengehirn so stark voneinander abweichen, glaubt der eine, Wallace, annehmen zu müssen, daß keine Verwandtschaft des Menschen mit der Tierreihe bestünde. Und gerade die Ähnlichkeit der geistigen Eigenschaften bei beiden war für Wallace ein Beweis für das, was er sagte. Für Mivart, seinen Zeitgenossen, war das gerade Umgekehrte vorhanden; er war der Ansicht, wenn man die geistigen Eigenschaften des wilden Menschen mit dem höchststehenden Affen vergleiche, so trete ein so großer Unterschied hervor, daß man wegen dieses Unterschiedes keine Stammverwandtschaft zwischen dem Wilden und dem Affen annehmen könne.

Wir sehen also zwei Naturforscher, beide an naturwissenschaftliches Denken gewöhnt, die beide aus entgegengesetzten Gründen das annehmen, was ihre Meinung ist; der eine, weil die Eigenschaften des Wilden und des höchststehenden Affen so ähnlich, der andere, weil sie so verschieden sind. Wenn nun schon zwei Forscher, die beide dazu neigen, den Menschen vom Geistigen abzuleiten, in bezug auf ihre Beweisgründe so durch das beirrt werden können, was sich an Fülle der Tatsachen ausbreitet, wie sollte erst der, welcher noch mehr vorurteilsvoll in den Denkgewohnheiten des bloß materialistischen Denkens befangen ist, nicht noch mehr durch die Fülle der Tatsachen unfähig sein, aus diesen Tatsachen und Gesetzen selber heraus zum Geistigen zu kommen!

Die Naturwissenschaft führt uns eben nur von Tatsache zu Tatsache. Haben wir die Geisteswissenschaft, dann kann aus dieser Geisteswissenschaft gerade das Naturwissenschaftliche begriffen und ins rechte Licht gerückt werden. Niemals aber können die Gesetze der Geisteswissenschaft aus der Naturwissenschaft heraus irgendwie gefunden werden. Daher müßte es immer mehr und mehr geschehen, daß der menschlichen Seele ihre ganze geistige Nahrung entzogen würde, wenn sie darauf angewiesen bliebe, «wissenschaftlich » nur das gelten zu lassen, was die Naturwissenschaft hervorbringt. Die Naturwissenschaft selbst wird gerade dadurch ihre Größe und Bedeutung erlangen, daß sie sich in ihren Grenzen hält.“ (Lit.: GA 62, S. 97ff)

Die Evolution aus anthroposophischer Sicht

Die anthroposophische Geistesforschung greift den modernen Entwicklungsgedanken auf, der dem gegenwärtigen Bewusstseinsseelenzeitalter angemessen ist, geht dabei aber weit über die derzeit noch weitgehend im bloßen Naturalismus verhaftete Evolutionslehre hinaus, indem sie auch die seelische und geistige Welt in ständiger Entwicklung und Veränderung begriffen sieht. Sie überwindet so auch die noch in der griechisch-lateinischen Zeit verwurzelte und bis heute tradierte religiöse bzw. theologische Anschauung, wonach die höhere Geisteswelt und insbesondere das Göttliche selbst in ewigwährender, in sich selbst ruhender, unveränderlicher Vollkommenheit besteht. So lässt sich aber die große Opfertat des Christus, der aus den höchsten geistigen Regionen auf die Erde herabgestiegen, um hier Mensch zu werden, niemals begreifen. Das Mysterium von Golgatha, mit dem der Christus durch den Tod gegangen, zur Unterwelt abgestiegen und wieder auferstanden ist, hat nicht nur die Welt , d. h. die Natur und den Menschen, sondern auch auch die Trinität selbst und alle mit ihr verbundenen geistigen Hierarchien tiefgreifend verwandelt. Aus Liebe zu den Menschen, um ihnen die Freiheit zu ermöglichen, hat Gott seine Allmacht und Allwissenheit aufgegeben und teilt seine Macht mit Ahriman und seine Weisheit mit Luzifer; nur die Liebe hat er behalten.

„Nicht ist die umfassendste Eigenschaft der Gottheit die Allmacht, nicht die Allweisheit, sondern die Liebe, die Eigenschaft, bei der keine Steigerung mehr möglich ist. Gott ist voller Liebe, ist reine Liebe, ist sozusagen aus der Substanz der Liebe geboren. Gott ist reine, lautere Liebe, nicht höchste Weisheit, nicht höchste Macht. Gott hat behalten die Liebe, geteilt aber hat er die Macht und die Weisheit mit Luzifer und Ahriman. Die Weisheit hat er geteilt mit Luzifer und mit Ahriman die Macht, damit der Mensch frei sei, damit der Mensch unter dem Einfluß der Weisheit weiterschreiten könne.“ (Lit.: GA 143, S. 209)

Das Mysterium von Golgatha ist der Dreh- und Angelpunkt einer Entwicklung, die durch Äonen angebahnt wurde und weit in die Zukunft fortwirken wird. Die von Rudolf Steiner begründete anthroposophische Geisteswissenschaft versucht ganz konkret die komplexen geistigen und materiellen Hintergründe dieser Entwicklung Schritt für Schritt enthüllen, die am umfassendsten durch die sogenannten sieben planetarischen Weltentwicklungsstufen beschrieben werden, die sich ihrerseits in sieben Lebenszustände und diese wiederum in sieben Formzustände gliedern. Gegenwärtig stehen wir mit unserer physischen Erdentwicklung im vierten (physischen) Formzustand des Mineralreichs, welches der 4. Lebenszustand unserer Erde ist. Der Mensch nimmt aktiv an dieser Entwicklung teil, indem er durch wiederholte Erdenleben schreitet, in denen er seine Wesensglieder immer weiter veredeln und erweitern kann.

„Studieren Sie heute, indem Sie von dem hier gemeinten rosenkreuzerischen Initiationsprinzip berührt worden sind, den Haeckelismus mit all seinem Materialismus, studieren Sie ihn, und lassen Sie sich durchdringen von dem, was Erkenntnismethoden sind nach «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»: Was Sie in Haeckels «Anthropogenie» über die menschlichen Vorfahren in einer Sie vielleicht abstoßenden Weise lernen, lernen Sie es in dieser abstoßenden Weise, lernen Sie alles dasjenige darüber, was man durch äußere Naturwissenschaft lernen kann, und tragen Sie das dann den Göttern entgegen, und Sie bekommen dasjenige, was in meinem Buche «Geheimwissenschaft» über die Evolution erzählt ist. Das ist, sehen Sie, der Zusammenhang zwischen dem schwachen, matten Wissen, das der Mensch mit seinem physischen Leibe hier erwerben kann, und dem, was ihm mit der gehörigen Gesinnung, mit der gehörigen Vorbereitung durch dieses Gelernte die Götter geben können. Aber der Mensch muß ihnen dasjenige, was er auf der Erde lernen kann, entgegenbringen, denn die Zeiten sind eben andere geworden.“ (Lit.: GA 233a, S. 89f)

Anthroposophie kann ihrer Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie sich nicht in erstarrten Dogmen verfängt, sondern beständig weiterentwickelt und ihre Erkenntnisse in solcher Form präsentiert, die mit dem Geist der Zeit im Einklang steht:

„Menschliche Meinungen, namentlich dann, wenn sie Weltanschauungsmeinungen sein wollen, fühlen sich nur dann befriedigt, wenn sie, in gewissem Sinne und in gewissen Grenzen wenigstens, sich sagen können: Ich habe Gedanken, die gelten; die sind in sich absolut gültig; die habe ich gefunden oder die hat die Wissenschaft oder die Religion oder irgend etwas anderes gefunden; aber sie gelten, sie gelten absolut in sich. - So steht es um Anthroposophie nun nicht. Anthroposophie weiß, daß die Gedanken herausgeboren sein müssen in jeder Zeit aus dem, was man in einem tieferen Sinne den Geist der Zeit nennen kann. Und der Geist der Menschheit ist in fortdauernder Entwickelung. So daß dasjenige, was als Meinung über die Welt in einem Zeitalter auftritt, eine andere Form haben muß als dasjenige, was in solcher Art in einem anderen Zeitalter auftritt. Indem Anthroposophie heute vor die Welt hintritt, weiß sie, daß nach Jahrhunderten dasjenige, was sie heute sagt, in ganz anderer Form für ganz andere Menschheitsbedürfnisse und ganz andere Menschheitsinteressen wird gesagt werden müssen, daß sie nicht «absolute Wahrheiten» anstreben kann, sondern daß sie in lebendiger Entwickelung ist.“ (Lit.: GA 72, S. 65)

Evolution bedeutet aus geisteswissenschaftlicher Sicht, dass ein geistig schöpferisch Wesenhaftes schrittweise immer deutlicher in die äußere sinnlich-materielle Erscheinung tritt. Die notwendige Gegenbewegung dazu ist die Involution, durch die sich das Geistige wieder schrittweise aus der äußeren Erscheinung zurückzieht (siehe unten).

„Aber wenn Sie wirklich meine Schriften verfolgen, so werden Sie sehen, daß ich dem Darwinismus immer gerecht geworden bin, aber eben gerade dadurch gerecht werden konnte, daß ich ihm entgegengestellt habe den Goetheanismus, die Auffassung von der Entwickelung des Lebens. Das, was man Deszendenztheorie nennt, auf der einen Seite im Sinne des Darwinismus, auf der andern Seite im Sinne des Goetheanismus, diese Dinge versuchte ich immer miteinander zu verbinden. Warum? Weil im Goetheanismus die aufsteigende Linie lebt, das Herausheben der organischen Entwickelung aus dem bloß physikalischen, physischen Dasein.

Wie oft habe ich auf das Gespräch zwischen Goethe und Schiller hingewiesen, wo Schiller, als Goethe seine Urpflanze aufzeichnete, sagte: Das ist keine Empirie, das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. - Da sagte Goethe: Dann habe ich meine Idee vor Augen! -, weil er überall das Geistige sah. Da haben wir eine Entwickelungslehre bei Goethe veranlagt, die den Keim in sich trägt, zu den höchsten Sphären heraufgehoben zu werden, angewendet zu werden für Seele und Geist. Wenn Goethe auch nur für die organische Entwikkelung in der Metamorphosenlehre den Anfang gemacht hat, wir haben die Evolution des Geistes, zu der die Menschheit von diesem fünften nachatlantischen Zeitraum an kommen muß, weil der Mensch sich verinnerlicht, wie ich es in diesen Betrachtungen dargestellt habe. Goetheanismus kann eine große Zukunft haben, denn die ganze Anthroposophie liegt in seiner Linie. Darwinismus betrachtet die physische Entwickelung von der physischen Seite her: äußere Impulse, Kampf ums Dasein, Selektion und so weiter und stellt damit die absterbende Entwickelung dar, alles dasjenige, was man finden kann über das organische Leben, wenn man sich den Impulsen überläßt, die in früheren Zeiten groß geworden sind. Will man Darwin verstehen, so muß man nur synthetisch zusammenfassen alle Gesetze, die früher aufgefunden worden sind. Will man Goethe verstehen, muß man sich aufschwingen zu neuen und immer neuen Gesetzmäßigkeiten im Dasein. Beides ist notwendig. Der Fehler besteht nicht darin, daß es einen Darwinismus gibt oder daß es einen Goetheanismus gibt, sondern darin, daß die Menschen dem einen oder dem andern und nicht dem einen und dem andern anhängen wollen. Das ist es, worauf es ankommt.“ (Lit.: GA 177, S. 223f)

Entwicklung verläuft in Zyklen und setzt keinen Anfang und kein Ende voraus:

„Entwickelung setzt keinen Anfang und kein Ende voraus. Entwickelung verläuft in Zyklen ohne Wiederholung, immer Neues wird eingefügt im zyklischen Fortschritt. Endlicher Anfang oder Ende ist ein Majaschluß, abstrahiert von sinnlichen Vorgängen.“ (Lit.: GA 110, S. 188)

Rudolf Steiner baut konsequent auf die Vorarbeit auf, die Goethe mit seiner Metamorphosenlehre geleistet hat. Goethe ging davon aus, dass in jedem Lebewesen ein ideelles Urbild wirkt, das er Typus nannte. Dieser bildet eine archetypische Ganzheit, aus der heraus die mannigfaltigen individuell gestalteten Einzellebewesen entstehen. Der allen Pflanzen gemeinsame Typus ist die Urpflanze, der in den Tieren wirkende Typus ist das Urtier.

„Was versteht Goethe unter diesem Typus? Er hat sich darüber klar und unzweideutig ausgesprochen. Er sagt, er fühlte die Notwendigkeit: «einen Typus aufzustellen, an welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären, und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres». Und ein anderes Mal mit noch größerer Deutlichkeit: «Hat man aber die Idee von diesem Typus gefaßt, so wird man recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster des Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz: sie sind darin enthalten, aber sie enthalten und geben es nicht.» Hätte man also Goethe gefragt, ob er in einer bestimmten Tier- oder Pflanzenform, die zu irgendeiner Zeit existiert hat, seine Urform, seinen Typus verwirklicht sehe, so hatte er ohne Zweifel mit einem kräftigen Nein geantwortet. Er hätte gesagt: So wie der Haushund, so ist auch der einfachste tierische Organismus nur ein Spezialfall dessen, was ich unter Typus verstehe. Den Typus findet man überhaupt nicht in der Außenwelt verwirklicht, sondern er geht uns als Idee in unserem Innern auf, wenn wir das Gemeinsame der Lebewesen betrachten. Sowenig der Physiker einen einzelnen Fall, eine zufällige Erscheinung zum Ausgangspunkte seiner Untersuchungen macht, sowenig darf der Zoologe oder Botaniker einen einzelnen Organismus als Urorganismus ansprechen. Und hier ist der Punkt, an dem es klar werden muß, daß der neuere Darwinismus weit hinter Goethes Grundgedanken zurückbleibt. Diese wissenschaftliche Strömung findet, daß es zwei Ursachen gibt, unter deren Einfluß eine organische Form sich in eine andere umformen kann: die Anpassung und den Kampf ums Dasein. Unter Anpassung versteht man die Tatsache, daß ein Organismus infolge von Einwirkungen der Außenwelt eine Veränderung in seiner Lebenstätigkeit und in seinen Gestaltverhältnissen annimmt. Er erhält dadurch Eigentümlichkeiten, die seine Voreltern nicht hatten. Auf diesem Wege kann sich also eine Umformung bestehender organischer Formen vollziehen. Das Gesetz vom Kampf ums Dasein beruht auf folgenden Erwägungen. Das organische Leben bringt viel mehr Keime hervor, als auf der Erde Platz zu ihrer Ernährung und Entwickelung finden. Nicht alle können zur vollen Reife kommen. Jeder entstehende Organismus sucht aus seiner Umgebung die Mittel zu seiner Existenz. Es ist unausbleiblich, daß bei der Fülle der Keime ein Kampf entsteht zwischen den einzelnen Wesen. Und da nur eine begrenzte Zahl den Lebensunterhalt finden kann, so ist es natürlich, daß diese aus denen besteht, die sich im Kampf als die stärkeren erweisen. Diese werden als Sieger hervorgehen. Welche sind aber die Stärkeren? Ohne Zweifel diejenigen mit einer Einrichtung, die sich als zweckmäßig erweist, um die Mittel zum Leben zu beschaffen. Die Wesen mit unzweckmäßiger Organisation müssen unterliegen und aussterben. Deswegen, sagt der Darwinismus, kann es nur zweckmäßige Organisationen geben. Die anderen sind einfach im Kampf ums Dasein zugrunde gegangen. Der Darwinismus erklärt mit Zugrundelegung dieser beiden Prinzipien den Ursprung der Arten so, daß sich die Organismen unter dem Einfluß der Außenwelt durch Anpassung umwandeln, die hierdurch gewonnenen neuen Eigentümlichkeiten auf ihre Nachkommen verpflanzen und von den auf diese Weise umgewandelten Formen immer diejenigen sich erhalten, welche in dem Umwandlungsprozesse die zweckentsprechendste Gestalt angenommen haben.

Gegen diese beiden Prinzipien hätte Goethe zweifellos nichts einzuwenden. Wir können nachweisen, daß er beide bereits gekannt hat. Für ausreichend aber, um die Gestalten des organischen Lebens zu erklären, hat er sie nicht gehalten. Sie waren ihm äußere Bedingungen, unter deren Einfluß das, was er Typus nannte, besondere Formen annimmt und sich in der mannigfaltigsten Weise verwandeln kann. Bevor sich etwas umwandelt, muß es aber erst vorhanden sein. Anpassung und Kampf ums Dasein setzen das Organische voraus, das sie beeinflussen. Die notwendige Voraussetzung sucht Goethe erst zu gewinnen. Seine 1790 veröffentlichte Schrift «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären» verfolgt den Gedanken, eine ideale Pflanzengestalt zu finden, welche allen pflanzlichen Wesen als deren Urbild zugrunde liegt. Später versuchte er dasselbe auch für die Tierwelt.“ (Lit.: GA 30, S. 73ff)

„Besonders an der Weltanschauungsströmung, die sich als neuere Entwicklungslehre von Lamarck, über Lyell und andere bis zu Darwin und den gegenwärtigen Ansichten von den Lebenstatsachen zieht, kann die Bedeutung eingesehen werden, welche der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins hat. Diese Entwicklungslehre sucht das Aufsteigen der höheren Lebensformen aus den niederen darzustellen. Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die grundsätzlich in sich berechtigt ist. Allein sie muß dabei so verfahren, wie die Menschenseele im Traumbewußtsein mit den Traumerlebnissen verfährt; sie läßt das Folgende aus dem Früheren hervorgehen. In Wirklichkeit sind aber die treibenden Kräfte, die ein folgendes Traumbild aus dem früheren hervorzaubern, in dem Träumenden und nicht in den Traumbildern zu suchen. Dies zu empfinden, ist erst das wachende Bewußtsein in der Lage. Das schauende Bewußtsein kann sich nun ebensowenig zufrieden geben, in einer niederen Lebensform die wirksamen Kräfte zu suchen für das Entstehen einer höheren, wie sich das Wachbewußtsein dazu hergeben kann, einen Folgetraum aus einem vorhergehenden Traum wirklich hervorgehen zu lassen, ohne auf den Träumenden zu sehen. Das in der wahren Wirklichkeit sich erlebende Seelenwesen schaut das Seelisch-Geistige, das es wirksam in der gegenwärtigen Menschennatur findet, auch schon wirksam in den Entwickelungsformen, welche zu dem gegenwärtigen Menschen geführt haben. Es wird nicht anthropomorphistisch in die Naturerscheinungen die gegenwärtige Menschenwesenheit hineinträumen; aber es wird das Geistig-Seelische, das durch schauendes Bewußtsein im gegenwärtigen Menschen erlebt wird, wirksam wissen in allem Naturgeschehen, das zum Menschen geführt hat. Es wird so erkennen, daß die dem Menschen offenbar werdende Geistwelt den Ursprung enthält auch der Naturbildungen, die dem Menschen vorangegangen sind.“ (Lit.: GA 20, S. 176f)

Evolution, Involution, Schöpfung aus dem Nichts

Ein volles Verständnis für evolutionäre Prozesse wird nur entstehen, wenn man ihnen gleichberechtigt die Involution und die freie Schöpfung aus dem Nichts zur Seite stellt:

„So haben wir bei allem Werden dreierlei zu beachten: Zuerst die Entfaltung aus einem gleichsam eingewickelten Zustande heraus; wir nennen das Entwickelung oder Evolution. Dann muß, was im Keime liegt, entstehen durch den umgekehrten Prozeß, die Einwickelung oder Involution. Diese beiden Prozesse allein geben aber noch keinen Fortschritt. Einzig und allein dadurch, daß ein Wesen imstande ist, Einflüsse von außen aufzunehmen und zu inneren Erlebnissen zu verarbeiten, kann ein Neues, ein Fortschritt in der Welt entstehen. Das ist das Dritte; man nennt es Schöpfung aus dem Nichts. Fortwährend entwickeln Sie, was in Ihnen von früher her veranlagt ist, fortwährend nehmen Sie etwas aus Ihrer Umwelt auf, das Sie umgestalten zu Erlebnissen, und das tragen Sie dann in eine neue Verkörperung hinein. In allem Leben wirkt die Dreiheit von Evolution, Involution und Schöpfung aus dem Nichts. Beim Menschen haben wir diese Schöpfung aus dem Nichts in der Arbeit seines Bewußtseins. Er erlebt die Vorgänge in seiner Umwelt und verarbeitet sie zu Ideen, Gedanken und Begriffen. Veranlagungen stammen aus früheren Verkörperungen, aber aller Fortschritt im Leben beruht darauf, daß neue Gedanken und neue Ideen produziert werden. Die Verhältnisse der Umgebung werden «konsumiert», und die inneren Erlebnisse führen zu neuen Gedanken und Ideen. Daher ist Drei die Zahl des Lebens, man nennt sie die Zahl der Schöpfung oder des Wirkens.“ (Lit.: GA 101, S. 259f)

Siehe auch

Literatur

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Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

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Einzelnachweise

Dieser Artikel basiert auf einer für AnthroWiki adaptierten Fassung des Artikels Evolution aus der freien Enzyklopädie de.wikipedia.org und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.