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Vorstellung
Die Vorstellung tritt als inneres gedankliches, oft auch im weitesten Sinn bildhaftes seelisches Erleben auf[1]. Descartes beschreibt sie als Geistesinhalt mit sinnlichen Qualitäten, wodurch sie sich vom bloßen abstrakten Begriff unterscheide[2]. Sie steht zwischen Wahrnehmung und Begriff und ist nach Rudolf Steiners «Philosophie der Freiheit» ein auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogener und dadurch individualisierter Begriff (Lit.: GA 4, S. 107), der dem Gedächtnis eingeprägt wird - sie ist daher in diesem Sinn eine Erinnerungsvorstellung. Als solche ist sie eine bereits begrifflich durchdrungene mentale Repräsentation (von lat. repraesentare „vergegenwärtigen“) der ursprünglichen Wahrnehmung, aber nicht deren reines begriffsloses seelisches Abbild. Die Fähigkeit, Vorstellungen zu bilden, wird als Vorstellungsvermögen (griech. φανταστικόν phantastikon) oder Vorstellungskraft bezeichnet und ist eng verwandt der freier gestaltenden Phantasie, wobei der Übergang zwischen Erinnerungsvorstellungen und Phantasievorstellungen durchaus gleitend ist.
Der Begriff eines "geistigen Auges" im Zusammenhang mit dem Vorstellungsvermögen geht mindestens auf Cicero zurück, der in seiner Diskussion über den angemessenen Gebrauch des Gleichnisses durch den Redner von mentis oculi spricht.[3] Cicero bezieht sich dabei ganz deutlich nicht auf ein wirkliches geistiges Wahrnehmungsvermögen, wie es erst durch die Imagination gegeben ist, sondern auf ein möglichst konkretes sinnliches Vorstellungsvermögen. Rednern empfiehlt er daher, anschauliche Bilder zu verwenden und nicht solche, von denen man bloß gehört hat, „denn die Augen des Geistes sind leichter auf die Objekte gerichtet, die wir gesehen haben, als auf die, die wir nur gehört haben“.[4] Tatsächlich bedienen sich die äußere sinnliche Wahrnehmung, das innere sinnliche Vorstellungvermögen und die wirkliche Imagination, die eine nicht-sinnliche, rein seelische Wahrnehmung ist, desselben seelischen Organs, nämlich des zweiblättrigen Stirnchakras, allerdings auf unerschiedliche Weise. Wenn sich die Tätigkeit der zwischen den Augenbrauen gelegenen zweiblättrigen Lotosblume nach innen wendet, entsteht die Fähigkeit zur äußeren, sinnlichen Wahrnehmung. Wenden sich ihre „astralischen Fangarme“ nach außen, entsteht die Imagination. (Lit.: GA 115, S. 49ff)
Wahrnehmung und Vorstellung
Nach Steiner muss zunächst deutlich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung unterschieden werden:
„Die Rose zum Beispiel übt einen Eindruck auf uns aus: Rot, Duft, Form, Ausdehnung. Wenden wir uns ab von der Rose, so behalten wir in der Seele etwas zurück wie einen abgeblaßten Rest des Roten, des Duftes, der Ausdehnung, und so weiter. Dieser abgeblaßte Rest ist die Vorstellung. Man sollte nicht verwechseln Wahrnehmung und Vorstellung. Die Vorstellung eines Dinges ist das, wo das Ding nicht mehr dabei ist. Die Vorstellung ist schon ein Erinnerungsbild der Wahrnehmung.
Wir sind aber immer noch nicht zum Begriff gekommen. Die Vorstellung erhalten wir, indem wir uns den Eindrücken der Außenwelt aussetzen. Wir behalten dann als Bild die Vorstellung zurück. Die meisten Menschen kommen Zeit ihres Lebens nicht über die Vorstellung hinaus, sie dringen nicht vor zum eigentlichen Begriff.“ (Lit.: GA 108, S. 199)
Dass die Vorstellung keine (sinnliche) Wahrnehmung ist, aber auch nicht Wissen oder Vernunft, hatte schon Aristoteles erkannt:
„Dass sie also keine Wahrnehmung ist, wird aus Folgendem klar: Wahrnehmung gibt es nämlich entweder als Vermögen oder als Wirklichkeit, z. B. als Sehsinn und als Sehen; man stellt sich aber etwas vor, auch wenn keines von diesen vorliegt, wie etwa das im Schlaf (Vorgestellte). Außerdem ist Wahrnehmung immer gegenwärtig, Vorstellung aber nicht. Und wenn sie mit der wirklichen Wahrnehmung identisch wäre, könnte allen Tieren Vorstellung zukommen; dies scheint aber nicht der Fall, z. B. bei Ameise, Biene oder Wurm. Sodann sind die Wahrnehmungen immer wahr, die meisten Vorstellungen aber stellen sich als falsch heraus. Ferner sagen wir auch nicht, wenn wir unsere Wahrnehmungstätigkeit genau auf das Wahrgenommene richten, dass uns dies ein Mensch zu sein scheint, sondern eher dann, wenn wir nicht klar wahrnehmen, [dann ist es wahr oder falsch]. Und, wie wir vorher gesagt haben, uns erscheinen auch bei geschlossenen Augen Vorstellungsbilder. Indessen wird sie auch keiner von den Zuständen sein, die, wie Wissen oder Vernunft, immer wahr sind. Denn es gibt auch falsche Vorstellung.“
Der traumartige Charakter der Vorstellungen
Verglichen mit der Sinneswahrnehmung, die erst in der nachatlantischen Zeit richtig erwacht ist, haben die Vorstellungen nur einen traumähnlichen Charakter, der dem Bewusstsein ähnlich ist, das der Mensch noch auf der alten Atlantis hatte und noch viel stärker an die leibliche Organisation gebunden war als die sinnliche Wahrnehmung. Während wir uns der sinnlichen Welt ganz bewusst Umwelt gegenüberstellen können und dadurch zugleich unser Selbstbewusstsein aufleuchtet, fließen wir mit unseren Vorstellungen, die uns ja auch viel blasser und unwirklicher erscheinen, viel stärker zusammen.
„Es ist immer mehr hineingedrungen in unser Erkenntnisleben dasjenige, was wir von den Sinnen haben, und es ist immer mehr dasjenige geschwunden, was wir nicht von den Sinnen haben, sondern was wir einst hatten durch ein ganz andersgeartetes Zusammenleben mit der Außenwelt. Aber diesen Charakter des ganz andersgearteten Zusammenlebens mit der Außenwelt haben auch unsere Vorstellungen. Sie sind von der Dumpfheit des Traumlebens ihrer Qualität nach, aber sie sind durchaus so, daß wir in ihnen auch erleben das mehr Hingegebensein an die Umwelt, das wir im Traum erleben. Wir unterscheiden uns im Vorstellungsleben eigentlich nicht von unserer Umwelt. Wir sind im Vorstellungsleben an die Umwelt hingegeben. Wir sondern uns erst durch die Sinneswahrnehmung von der Umwelt ab. Es war also ein fortwährendes Aufleuchten des Ich, des Selbstbewußtseins, was sich herausbildete, indem das eben mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen geschah, was seit der letzten Eiszeit geschehen ist.
Auf was werden wir denn also zurückgehen - das ist nichts Hypothetisches, sondern ein einfaches Verfolgen der Vorgänge - , indem wir mit der Entwickelung hinter die letzte Eiszeit zurückgehen? Wir werden zurückgehen auf ein solches Seelenleben innerhalb des Menschen, welches zwar traumhafter ist, welches aber verwandter ist unserem Vorstellungsleben als unserem Sinnesleben. Nun ist aber das Vorstellungsleben mehr an unsere Organisation gebunden als das Sinnesleben. Es wird also auch dasjenige, was im Vorstellungsleben sich äußert, mehr in der Organisation sich äußern, als unabhängig von dieser Organisation.“ (Lit.: GA 323, S. 132)
Vorstellung und Begriff
Mit der Vorstellung ist noch nicht der reine Begriff gegeben:
"Was ein Begriff ist und wie er sich verhält zur Vorstellung, wird am besten gezeigt an einem Beispiel aus der Mathematik. Nehmen wir den Kreis. Wenn wir mit einem Kahn auf das Meer hinausfahren, bis dort, wo wir schließlich nichts weiter sehen als die Meeresfläche und den Himmel, so können wir, wenn es ganz ruhig ist, den Horizont wahrnehmen als einen Kreis. Schließen wir dann die Augen, so behalten wir von dieser Wahrnehmung als Erinnerungsbild die Vorstellung des Kreises zurück. Um zum Begriff des Kreises zu kommen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir dürfen keinen äußeren Anlaß für die Vorstellung suchen, sondern wir konstruieren im Geiste alle Punkte einer Fläche, welche von einem bestimmten festen Punkte gleich weit entfernt sind; wiederholen wir dies unzählige Male und verbinden im Geiste diese Punkte durch eine Linie, so baut sich vor unserem Geiste das Bild eines Kreises auf. Wir können auch mit Kreide an der Tafel eine Illustration dieses geistigen Bildes geben. Wenn wir uns nun dieses nicht durch äußere Eindrücke, sondern durch inneres Konstruieren entstandene Bild des Kreises vor Augen stellen und es vergleichen mit dem Bild der Meeresfläche und des Horizontes, das sich der äußeren Wahrnehmung darbot, so können wir finden, daß der innerlich konstruierte Kreis dem Bild der äußeren Wahrnehmung durchaus entspricht.
Wenn nun die Menschen wirklich logisch denken, im strengen logischen Sinne denken, so tun sie etwas anderes als äußerlich wahrnehmen und das Wahrgenommene sich wieder vergegenwärtigen; dies ist nur eine Vorstellung. Beim logischen Denken aber muß jeder Gedanke innerlich konstruiert sein, er muß ähnlich geschaffen sein, wie ich es eben am Beispiele des Kreises erklärt habe. Mit diesem inneren Gedankenbilde geht der Mensch dann erst an die äußere Wirklichkeit heran und findet Harmonie zwischen dem inneren Bilde und der äußeren Wirklichkeit. Die Vorstellung steht mit der äußeren Wahrnehmung in Verbindung, der Begriff ist entstanden durch inneres Konstruieren. Immer haben die Menschen so innerlich konstruiert, die wirklich logisch dachten. So hat Kepler, als er seine Gesetze aufstellte, diese innerlich konstruiert, und er fand sie dann in Harmonie mit der äußeren Wirklichkeit.
Der Begriff ist also nichts anderes als ein Gedankenbild, er hat seine Genesis, seinen Ursprung im Gedanken. Eine äußere Illustration ist nur eine Krücke, ein Hilfsmittel, um den Begriff anschaulich zu machen. Nicht durch äußere Wahrnehmung wird der Begriff gewonnen, er lebt zunächst nur in der reinen Innerlichkeit." (Lit.: GA 108, S. 199f)
"In dem Augenblicke, wo eine Wahrnehmung in meinem Beobachtungshorizonte auftaucht, betätigt sich durch mich auch das Denken. Ein Glied in meinem Gedankensysteme, eine bestimmte Intuition, ein Begriff verbindet sich mit der Wahrnehmung. Wenn dann die Wahrnehmung aus meinem Gesichtskreise verschwindet: was bleibt zurück? Meine Intuition mit der Beziehung auf die bestimmte Wahrnehmung, die sich im Momente des Wahrnehmens gebildet hat. Mit welcher Lebhaftigkeit ich dann später diese Beziehung mir wieder vergegenwärtigen kann, das hängt von der Art ab, in der mein geistiger und körperlicher Organismus funktioniert. Die Vorstellung ist nichts anderes als eine auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene Intuition, ein Begriff, der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war, und dem der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist. Mein Begriff eines Löwen ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung gebildet. Ich kann jemandem den Begriff eines Löwen beibringen, der nie einen Löwen gesehen hat. Eine lebendige Vorstellung ihm beizubringen, wird mir ohne sein eigenes Wahrnehmen nicht gelingen.
Die Vorstellung ist also ein individualisierter Begriff. Und nun ist es uns erklärlich, dass für uns die Dinge der Wirklichkeit durch Vorstellungen repräsentiert werden können. Die volle Wirklichkeit eines Dinges ergibt sich uns im Augenblicke der Beobachtung aus dem Zusammengehen von Begriff und Wahrnehmung. Der Begriff erhält durch eine Wahrnehmung eine individuelle Gestalt, einen Bezug zu dieser bestimmten Wahrnehmung. In dieser individuellen Gestalt, die den Bezug auf die Wahrnehmung als eine Eigentümlichkeit in sich trägt, lebt er in uns fort und bildet die Vorstellung des betreffenden Dinges. Treffen wir auf ein zweites Ding, mit dem sich derselbe Begriff verbindet, so erkennen wir es mit dem ersten als zu derselben Art gehörig; treffen wir dasselbe Ding ein zweites Mal wieder, so finden wir in unserem Begriffssysteme nicht nur überhaupt einen entsprechenden Begriff, sondern den individualisierten Begriff mit dem ihm eigentümlichen Bezug auf denselben Gegenstand, und wir erkennen den Gegenstand wieder." (Lit.: GA 4, S. 106f)
Die Erfahrung als die Summe aller im Leben gebildeten Vorstellungen
Die Summe dessen, worüber sich ein Mensch Vorstellungen bilden kann, bestimmt seine Erfahrung.
Indem ich mir eine Vorstellung bilde, bekommt die Wahrnehmung einen konkreten Bezug zu meinem eigenen Selbst. Durch die Wahrnehmung werde ich auf die Außenwelt verwiesen, die Vorstellung hingegen erlebe ich in meiner eigenen Innenwelt, wobei mit Außenwelt keineswegs bloß die sinnliche Außenwelt gemeint ist, sondern auch die geistige Außenwelt mit umfasst, eben insgesamt jeden Weltbereich, der außerhalb meines Selbst liegt.
"Ich nehme nicht nur andere Dinge wahr, sondern ich nehme mich selbst wahr. Die Wahrnehmung meiner selbst hat zunächst den Inhalt, dass ich das Bleibende bin gegenüber den immer kommenden und gehenden Wahrnehmungsbildern. Die Wahrnehmung des Ich kann in meinem Bewusstsein stets auftreten, während ich andere Wahrnehmungen habe. Wenn ich in die Wahrnehmung eines gegebenen Gegenstandes vertieft bin, so habe ich vorläufig nur von diesem ein Bewusstsein. Dazu kann dann die Wahrnehmung meines Selbst treten. Ich bin mir nunmehr nicht bloß des Gegenstandes bewusst, sondern auch meiner Persönlichkeit, die dem Gegenstand gegenüber steht und ihn beobachtet. Ich sehe nicht bloß einen Baum, sondern ich weiß auch, dass ich es bin, der ihn sieht. Ich erkenne auch, dass in mir etwas vorgeht, während ich den Baum beobachte. Wenn der Baum aus meinem Gesichtskreise verschwindet, bleibt für mein Bewusstsein ein Rückstand von diesem Vorgange: ein Bild des Baumes. Dieses Bild hat sich während meiner Beobachtung mit meinem Selbst verbunden. Mein Selbst hat sich bereichert; sein Inhalt hat ein neues Element in sich aufgenommen. Dieses Element nenne ich meine Vorstellung von dem Baume. Ich käme nie in die Lage, von Vorstellungen zu sprechen, wenn ich diese nicht in der Wahrnehmung meines Selbst erlebte. Wahrnehmungen würden kommen und gehen; ich ließe sie vorüberziehen. Nur dadurch, dass ich mein Selbst wahrnehme und merke, dass mit jeder Wahrnehmung sich auch dessen Inhalt ändert, sehe ich mich gezwungen, die Beobachtung des Gegenstandes mit meiner eigenen Zustandsveränderung in Zusammenhang zu bringen und von meiner Vorstellung zu sprechen.
Die Vorstellung nehme ich an meinem Selbst wahr, in dem Sinne, wie Farbe, Ton usw. an andern Gegenständen. Ich kann jetzt auch den Unterschied machen, dass ich diese andern Gegenstände, die sich mir gegenüberstellen, Außenwelt nenne, während ich den Inhalt meiner Selbstwahrnehmung als Innenwelt bezeichne. Die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Gegenstand hat die größten Missverständnisse in der neueren Philosophie herbeigeführt. Die Wahrnehmung einer Veränderung in uns, die Modifikation, die mein Selbst erfährt, wurde in den Vordergrund gedrängt und das diese Modifikation veranlassende Objekt ganz aus dem Auge verloren. Man hat gesagt: wir nehmen nicht die Gegenstände wahr, sondern nur unsere Vorstellungen. Ich soll nichts wissen von dem Tische an sich, der Gegenstand meiner Beobachtung ist, sondern nur von der Veränderung, die mit mir selbst vorgeht, während ich den Tisch wahrnehme." (Lit.: GA 4, S. 67)
Die irrige Ansicht Immanuel Kants, dass wir nur von unseren Vorstellungen wissen können
Irrig ist die besonders von Kant und Schopenhauer vertretene Ansicht, dass der Mensch an die eigentliche Wirklichkeit nicht heranreiche und überhaupt nur durch Vorstellungen etwas von der Welt wissen könne. Wie Steiner streng philosophisch nachgewiesen hat, steht der Mensch inmitten der Wirklichkeit, wenn er im Erkenntnisprozess die unmittelbare Wahrnehmung mit dem zugehörigen Begriff verbindet. Die Vorstellung ist die subjektive Repräsentation der Wirklichkeit und verglichen mit dieser traumartig und blass (siehe oben).
"Als Wahrnehmung und Begriff stellt sich uns die Wirklichkeit, als Vorstellung die subjektive Repräsentation dieser Wirklichkeit dar." (Lit.: GA 4, S. 108)
"Die Hauptschwierigkeit bei der Erklärung der Vorstellungen wird von den Philosophen in dem Umstande gefunden, dass wir die äußeren Dinge nicht selbst sind, und unsere Vorstellungen doch eine den Dingen entsprechende Gestalt haben sollen. Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, dass diese Schwierigkeit gar nicht besteht. Die äußeren Dinge sind wir allerdings nicht, aber wir gehören mit den äußeren Dingen zu ein und derselben Welt. Der Ausschnitt aus der Welt, den ich als mein Subjekt wahrnehme, wird von dem Strome des allgemeinen Weltgeschehens durchzogen. Für mein Wahrnehmen bin ich zunächst innerhalb der Grenzen meiner Leibeshaut eingeschlossen. Aber was da drinnen steckt in dieser Leibeshaut, gehört zu dem Kosmos als einem Ganzen. Damit also eine Beziehung bestehe zwischen meinem Organismus und dem Gegenstande außer mir, ist es gar nicht nötig, dass etwas von dem Gegenstande in mich hereinschlüpfe oder in meinen Geist einen Eindruck mache, wie ein Siegelring in Wachs. Die Frage: wie bekomme ich Kunde von dem Baume, der zehn Schritte von mir entfernt steht, ist völlig schief gestellt. Sie entspringt aus der Anschauung, dass meine Leibesgrenzen absolute Scheidewände seien, durch die die Nachrichten von den Dingen in mich hereinwandern. Die Kräfte, welche innerhalb meiner Leibeshaut wirken, sind die gleichen wie die außerhalb bestehenden. Ich bin also wirklich die Dinge; allerdings nicht Ich, insofern ich Wahrnehmungssubjekt bin, aber Ich, insofern ich ein Teil innerhalb des allgemeinen Weltgeschehens bin. Die Wahrnehmung des Baumes liegt mit meinem Ich in demselben Ganzen. Dieses allgemeine Weltgeschehen ruft in gleichem Maße dort die Wahrnehmung des Baumes hervor, wie hier die Wahrnehmung meines Ich. Wäre ich nicht Welterkenner, sondern Weltschöpfer, so entstünde Objekt und Subjekt (Wahrnehmung und Ich) in einem Akte. Denn sie bedingen einander gegenseitig. Als Welterkenner kann ich das Gemeinsame der beiden als zusammengehöriger Wesenseiten nur durch Denken finden, das durch Begriffe beide aufeinander bezieht.
Am schwierigsten aus dem Felde zu schlagen werden die Sogenannten physiologischen Beweise für die Subjektivität unserer Wahrnehmungen sein. Wenn ich einen Druck auf die Haut meines Körpers ausführe, so nehme ich ihn als Druckempfindung wahr. Denselben Druck kann ich durch das Auge als Licht, durch das Ohr als Ton wahrnehmen. Einen elektrischen Schlag nehme ich durch das Auge als Licht, durch das Ohr als Schall, durch die Hautnerven als Stoß, durch das Geruchsorgan als Phosphorgeruch wahr. Was folgt aus dieser Tatsache? Nur dieses: Ich nehme einen elektrischen Schlag wahr (respektive einen Druck) und darauf eine Lichtqualität, oder einen Ton beziehungsweise einen gewissen Geruch und so weiter. Wenn kein Auge da wäre, so gesellte sich zu der Wahrnehmung der mechanischen Erschütterung in der Umgebung nicht die Wahrnehmung einer Lichtqualität, ohne die Anwesenheit eines Gehörorgans keine Tonwahrnehmung usw. Mit welchem Rechte kann man sagen, ohne Wahrnehmungsorgane wäre der ganze Vorgang nicht vorhanden? Wer von dem Umstande, dass ein elektrischer Vorgang im Auge Licht hervorruft, zurückschließt also ist das, was wir als Licht empfinden, außer unserem Organismus nur ein mechanischer Bewegungsvorgang, der vergisst, dass er nur von einer Wahrnehmung auf die andere übergeht und durchaus nicht auf etwas außerhalb der Wahrnehmung. Ebenso gut wie man sagen kann: das Auge nimmt einen mechanischen Bewegungsvorgang seiner Umgebung als Licht wahr, ebenso gut kann man behaupten: eine gesetzmäßige Veränderung eines Gegenstandes wird von uns als Bewegungsvorgang wahrgenommen. Wenn ich auf den Umfang einer rotierenden Scheibe ein Pferd zwölfmal male, und zwar genau in den Gestalten, die sein Körper im fortgehenden Laufe annimmt, so kann ich durch Rotieren der Scheibe den Schein der Bewegung hervorrufen. Ich brauche nur durch eine Öffnung zu blicken und zwar so, dass ich in den entsprechenden Zwischenzeiten die aufeinanderfolgenden Stellungen des Pferdes sehe. Ich sehe nicht zwölf Pferdebilder, sondern das Bild eines dahineilenden Pferdes." (Lit.: GA 4, S. 104ff)
Da nach Steiner die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen nicht auf die sinnliche Welt beschränkt ist, sondern sich nach entsprechender Schulung der Seelenkräfte auch auf geistige Weltbereiche erstreckt, so sind auch diese der Erfahrung zugänglich und können streng methodisch wissenschaftlich erforscht werden.
Das bildhafte Vorstellungsvermögen als Folge der luziferischen Versuchung
Nach Rudolf Steiner enstand das bildhafte Vorstellungsvermögen als Folge der luziferischen Versuchung und hängt auch mit der Entstehung des Karfunkels im Zuge der Erdentwicklung zusammen, der der Legende nach beim Sturz Luzifers aus dessen Krone fiel.
„Wie eine schöne Legende berichtet, verlor Luzifer, als er aus den himmlischen Bereichen herabgestürzt wurde, einen Stein aus seinem Diadem - das war der Karfunkel. In der Tat entstand dieser Edelstein zur selben Zeit, als das menschliche Vorstellungsvermögen, zunächst bildhaft, zu erwachen begann.“ (Lit.: GA 97, S. 296f)
Durchgang durch die vierte Dimension
Das Bewusstsein, das zugleich die physische Welt und die Astralwelt umspannt, ist mit einem Durchgang durch die vierte Dimension verbunden. Das ist ein im Grunde ganz alltäglicher Vorgang, der immer dann auftritt, wenn wir die in unserer Seele lebenden Vorstellungen auf die dreidimensionale räumliche Außenwelt beziehen durch eine Art von Umstülpung des Inneren auf das Äußere.
„Durch die eigentümliche Einrichtung unseres Sinnesapparates sind wir imstande, unsere Vorstellungen mit den äußeren Gegenständen zur Deckung zu bringen. Indem wir unsere Vorstellungen auf äußere Dinge beziehen, gehen wir durch den vierdimensionalen Raum durch, stülpen die Vorstellung über den äußeren Gegenstand. Wie würden sich die Dinge ausnehmen, wenn wir von der anderen Seite aus schauen könnten, wenn wir in die Dinge hineintreten und sie von dort aus sehen könnten? Um das zu können, müßten wir durch die vierte Dimension hindurch. Die Astralwelt selbst ist nicht eine Welt von vier Dimensionen. Aber die astrale Welt zusammen mit ihrer Spiegelung in der physischen Welt ist vierdimensional. Wer imstande ist, die astrale Welt und die physische Welt zugleich zu überschauen, der lebt im vierdimensionalen Raum. Das Verhältnis unserer physischen Welt zur astralen ist ein vierdimensionales.“ (Lit.: GA 324a, S. 29f)
Literatur
- Maxwell R. Bennett, Peter M. Hacker, Axel Walter (Übers.): Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) 2010, ISBN 978-3534228775
- Peter Prechtl, Franz-Peter Burkard (Hrsg.): Metzler Lexikon Philosophie. 3. Auflage. J. B. Metzler, Stuttgart 2008. — Stichwort: „Vorstellung“ S. 664f.
- Jürgen Strube: Die Beobachtung des Denkens: Rudolf Steiners 'Philosophie der Freiheit' als Weg zur Bildekräfte-Erkenntnis, 3. Auflage, Verlag für Anthroposophie 2017, ISBN 978-3037690239
- Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, GA 4 (1962) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Das christliche Mysterium, GA 97 (1998), ISBN 3-7274-0970-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie, GA 108 (1986), ISBN 3-7274-1081-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie, GA 115 (2001), ISBN 3-7274-1150-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie, GA 323 (1997), ISBN 3-7274-3230-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Die vierte Dimension, GA 324a (1995), ISBN 3-7274-3245-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Max Bennett und Peter Hacker weisen darauf hin, dass Vorstellungen nicht notwendig zugleich Vorstellungsbilder sein müssen. Tatsächlich ist die Fähigkeit, sich Vorstellungen bildhaft auszumalen, bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt: „Es ist wichtig festzuhalten, gerade weil es allzu oft vergessen wird, dass Vorstellungsbilder für die Ausübung der Vorstellungskraft weder notwendig noch hinreichend sind. Vorstellungsbilder können entstehen oder heraufbeschworen werden, während man sich etwas in Erinnerung ruft, antizipiert, träumt oder tagträumt, bei keinem dieser Fälle haben wir es mit dem Vorstellen zu tun oder muss es sich um dieses handeln. Obwohl einem Vorstellungsbilder durch den Kopf gehen können, wenn man sich etwas Wahrnehmbares vorstellt, müssen sie es nicht.“ (Bennett/Hacker, S. 406f)
- ↑ Peter Prechtl, Franz-Peter Burkard (Hrsg.): Metzler Lexikon Philosophie. 3. Auflage. J. B. Metzler, Stuttgart 2008. — Stichwort: „Vorstellung“ S. 664f.
- ↑ Cicero: De Oratore, Liber III: XLI: 163.
- ↑ „Facilius enim ad ea, quae visa, quam ad illa, quae audita sunt, mentis oculi feruntur.“, J. S. Watson (trans. and ed.): Cicero on Oratory and Orators, Harper & Brothers, (New York), 1875: Book III, C.XLI, p.239.
- ↑ Klaus Corcilius (Hrsg., Übers.): Aristoteles: Über die Seele. De anima, 1. Auflage, Meiner 2017, ISBN 978-3787327898, S. 171