Gemüt

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Das Gemüt (mhd. gemüete, abgeleitet von der idg. Verbalwurzel *me-, *mo-, "nach etwas trachten, heftig verlangen, erregt sein", die auch dem Wort Mut zugrunde liegt) ist der zweite, dem Verstand ausgleichend gegenübergestellte Pol der Verstandes- oder Gemütsseele, die ihre wesentliche Entwicklung in der griechisch-lateinischen Zeit erfahren hat. Der bloße Verstand macht das Seelenleben nüchtern, gefühlskalt und antriebslos. Das Gemüt verleiht der Seele Wärme und Tatkraft. Im Gemüt sind Gefühls- und Willensregungen so zu einer gesunden Einheit verbunden, dass sie, anders als bei der überschäumenden blinden Emotion, dem Ich nicht die Herrschaft über das Seelenleben rauben. Der wahre Gemütsmensch vereinigt Gelassenheit und Mut, Seelenruhe und Willenskraft, in seinem Seelenleben.

Die Gemütsbildung bestimmte noch ganz das idealistisch-humanistischen Bildungsideals der Goethezeit, das bildungspolitisch namentlich von Wilhelm von Humboldt propagiert wurde und noch bis in die frühen 1960er-Jahre nachwirkte. Hier stand die Herzensbildung, die Ausbildung einer reichen seelischen Innenwelt und die Pflege künstlerischer Fähigkeiten im Vordergrund, die allerdings noch weitgehend von der Tradition, d.h. durch den Blick auf die Vergangenheit bestimmt war. Johann Friedrich Herbart erklärte die diesbezügliche Bildsamkeit des Menschen zum Grundprinzip der Pädagogik überhaupt. Er betonte, „dass die Kunst des Erziehers einen Künstler fordert, nicht einen Staatsmann, nicht einen Gelehrten, nicht einmal das Gefühl eines Vaters...“ und dass es „nicht hinreicht, zu erinnern an die genaue Kenntniss der menschlichen Natur, nicht in ihrer gewöhnlichen Beschränktheit und Verdorbenheit, sondern in ihrer ursprünglichen, unendlichen Bildsamkeit; an die Durchforschung aller Verhältnisse des mannigfaltigen Wissens zu den verschiedenen Interessen des Menschen; an die Beurtheilung der höchst verschiedenartigen und vielfältigen Bedingungen, unter denen die Charakterbildung, insbesondre die sittliche Charakterbildung steht.“[1]

Seit den späten 1960er-Jahren und insbesondere seit der letzten Jahrtausendwende ging diese Form der Gemütsbildung weitgehend verloren. Die rein pragmatisch auf die sinnliche Außenwelt gerichtete Bewusstseinsseele, die die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik schon seit Beginn der Neuzeit vorantriebt, ist mittlerweile namentlich in der westlichen Welt zur Hauptgrundlage des sozialen Lebens geworden. Sie bringt ein hohes Konfliktpotential mit sich, das die traditionellen Formen der sozialen Beziehungen immer mehr unterhöhlt und etwa auch in der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Islam eine wesentliche Rolle spielt. Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine Fehlentwicklung, sondern um eine notwendige Voraussetzung dafür, die Bewusstseinsseele künftig auch immer mehr in voller Freiheit auf das Geistige richten zu können. Diese Entwicklung zu fördern, ist die zentrale Aufgabe der Anthroposophie.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Johann Friedrich Herbart: Sämmtliche Werke, Herausgegeben von G. Hartenstein, 11. Band (Schriften zur Pädagogik), 2. Theil, Verlag von Leopold Voss, Leipzig 1851, S. 372 archive.org