Das Wort Idee (griech.: εἶδος (eidos) / ἰδέα (idea) = „Vorstellung, Bild, Musterbild, Vorbild oder Urbild, Idee“) wird erstmals von Platon in philosophischen Zusammenhängen gebraucht, um das Was der Dinge, ihr Wesen, ihr An sich, zu bezeichnen und leitet sich vom griechischen Wort für „sehen, erblicken, erkennen“ (idein)[1] her und bedeutet demnach: das Gesehene. Die Idee bezeichnet dabei zunächst ganz allgemein eine geistigeVorstellung, einen Gedanken bzw. Begriff.
„Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe.“ (Lit.: GA 4, S. 57)
Ideen erfassen das Allgemeine, die Universalien, im Gegensatz zu dem sinnlich erscheinenden Einzelnen. Im Sinne der platonischen Ideenlehre könnte man also sagen: Immer wenn wir sehen, idealisieren wir - und nur dadurch erkennen wir die Dinge als das, was sie sind, d.h. wir heben intuitiv in unserem Bewusstsein durch Idealisierung aus der gegebenen Realität deren eigentliches Wesen heraus. Im Geiste geben wir den chaotischen Sinnesdaten eine ideale Gestalt, durch die sich erst ihre wahre, geistigeWirklichkeit kundgibt, dergegenüber die bloße Sinnenwelt nur schattenhaft anmutet. Platon hat darüber in seiner «Politeia» in dem berühmten Höhlengleichnis ausführlich gesprochen. Dem Philosophieren liege eine geistiges „Sehen“, eine übersinnliche „Schau“ der reinen Ideen, eine Ideenschau, zugrunde. Die urbildhaften Ideen existieren unabhängig von den sinnlich fassbaren Dingen, die ihr Sein und Wesen nur der Teilhabe (methexis) an den unwandelbaren ewigen Ideen verdanken; sie sind nur eine vergängliche Nachahmung (mimesis) ihrer unvergänglichen geistigen Urbilder. Nach Aristoteles ist das menschliche Erkenntnisvermögen allerdings so begrenzt, dass die weitaus meisten Ideen nur in bzw. an den vielfältigen sinnlichen Dingen erfahren und daraus durch Abstraktion herausgehoben werden können. Nur die obersten und allgemeinsten Ideen, etwa die der Mathematik, können rein geistig erfasst werden. Thomas von Aquin unterschied später die vor allen Einzeldingen in der göttlichen Vernuft lebenden universalia ante rem von den in den Dingen wirkenden universalia in re und den als Begriffe im Verstand des Menschen gebildeten universalia post rem.
„Was man Idee nennt: das, was immer zur Erscheinung kommt und daher als Gesetz aller Erscheinungen uns entgegentritt.“ (Lit.: Goethe: Maximen und Reflexionen[2])
„Wille ist also die Idee selbst als Kraft aufgefaßt.
Von einem selbständigen Willen zu sprechen ist völlig
unstatthaft. Wenn der Mensch irgend etwas vollbringt, so
kann man nicht sagen, es komme zu der Vorstellung noch
der Wille hinzu. Spricht man so, so hat man die Begriffe
nicht klar erfaßt, denn, was ist die menschliche Persönlichkeit,
wenn man von der sie erfüllenden Ideenwelt absieht?
Doch ein tätiges Dasein. Wer sie anders faßte: als totes,
untätiges Naturprodukt, setzte sie ja dem Steine auf der
Straße gleich. Dieses tätige Dasein ist aber ein Abstraktum,
es ist nichts Wirkliches. Man kann es nicht fassen, es ist
ohne Inhalt. Will man es fassen, will man einen Inhalt,
dann erhält man eben die im Tun begriffene Ideenwelt. E.
v. Hartmann macht dieses Abstraktum zu einem zweiten
welt-konstituierenden Prinzip neben der Idee. Es ist aber
nichts anderes als die Idee selbst, nur in einer Form des
Auftretens. Wille ohne Idee wäre nichts. Das gleiche kann
man nicht von der Idee sagen, denn die Tätigkeit ist ein
Element von ihr, während sie die sich selbst tragende Wesenheit
ist.“ (Lit.: GA 1, S. 197f)
Die Ideenwelt
Ideen werden wie Begriffe durch das Denken gebildet, wobei Rudolf Steiner umfangreichere Begriffe als Ideen bezeichnet. Das Insgesamt aller Ideen bildet die Ideenwelt bzw. Gedankenwelt.
"Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung; zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Erfahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Begriffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. Der Begriff «Organismus» schließt sich zum Beispiel an die andern: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum» an. Andere an Einzeldingen gebildete Begriffe fallen völlig in eins zusammen. Alle Begriffe, die ich mir von Löwen bilde, fallen in den Gesamtbegriff «Löwe» zusammen. Auf diese Weise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem geschlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondere Stelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe...
Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, dass der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt." (Lit.: GA 4, S. 57)
Im höchsten Sinn ist die Idee ewig und einzig, wie es schon Goethe ausgedrückt hat. Sie gliedert die Vielzahl der einzelnen Begriffe der unteilbaren Ganzheit der kosmischen Ordnung ein.
„Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.“
„Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.“ (Lit.: Rudolf Steiner: Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1900, S. 188)
Der Geist wirkt in allen Dingen, aber nur im Menschen tritt er durch dessen kreatives Denken als „Idee“ in Erscheinung. Die Wahrheit ist nichts fertig in der Welt „Vorhandenes“, sondern etwas frei und individuell durch das Ich zu Schaffendes - diesen Standpunkt hatte Rudolf Steiner schon in seinem philosophischen Grundlagenwerk «Wahrheit und Wissenschaft» (1892) vertreten:
„Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle
Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies
Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends
existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die
Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts
Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern
die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der
sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle
Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des
Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem
allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese
Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich
abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem
Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger
Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich
wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,
sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das
Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des
Universums.“ (Lit.: GA 3, S. 11f)
Hegels philosophische Ansicht kann sehr leicht dahingehend missverstanden werden, dass er eine vom Menschen unabhängige, gleichsam freischwebende, für sich bestehende Ideenwelt postuliert hätte. Hegel selbst trug auch wenig dazu bei, dieses Missverständnis auszuräumen. Demgegenüber ist deshalb zweierlei festzuhalten: Erstens ist das Feld, auf dem die Gedanken auftreten, einzig das individuelle menschliche Bewusstsein; zweitens beruht aber das Denken auf seinen eigenen inhärenten Gesetzmäßigkeiten, weshalb es stets ein und dieselbe, allen Menschen gemeinsame Gedankenwelt ist, aus der jedes Individuum durch seine Denktätigkeit die in seinem Bewusstsein auftretenden Gedanken schöpft. Die durch das Denken bewirkte Erscheinung der Gedanken ist also subjektiv hervorgerufen, der Gedankeninhalt als solcher aber objektiv.
„Hegel hat ein absolutes Vertrauen auf das Denken, ja es
ist der einzige Wirklichkeitsfaktor, dem er im wahren Sinne
des Wortes vertraut. So richtig seine Ansicht im allgemeinen
auch ist, so ist es aber gerade er, der das Denken durch die
allzuschroffe Form, in der er es verteidigt, um alles Ansehen
gebracht hat. Die Art, wie er seine Ansicht vorgebracht hat,
ist schuld an der heillosen Verwirrung, die in unser «Denken
über das Denken» gekommen ist. Er hat die Bedeutung
des Gedankens, der Idee, so recht anschaulich machen wollen
dadurch, daß er die Denknotwendigkeit zugleich als die
Notwendigkeit der Tatsachen bezeichnete. Damit hat er den
Irrtum hervorgerufen, daß die Bestimmungen des Denkens
nicht rein ideelle seien, sondern tatsächliche. Man faßte seine
Ansicht bald so auf, als ob er in der Welt der sinnenfälligen
Wirklichkeit selbst den Gedanken wie eine Sache gesucht
hätte. Er hat das wohl auch nie so ganz klargelegt. Es muß eben festgestellt werden, daß das Feld des Gedankens einzig das menschliche Bewußtsein ist. Dann muß gezeigt werden,
daß durch diesen Umstand die Gedankenwelt nichts an
Objektivität einbüßt. Hegel kehrte nur die objektive Seite
des Gedankens hervor; die Mehrheit aber sieht, weil dies
leichter ist, nur die subjektive; und es dünkt ihr, daß jener
etwas rein Ideelles wie eine Sache behandelt, mystifiziert
habe. Selbst viele Gelehrte der Gegenwart sind von diesem
Irrtum nicht freizusprechen. Sie verdammen Hegel wegen
eines Mangels, den er nicht an sich hat, den man aber freilich
in ihn hineinlegen kann, weil er die betreffende Sache zu
wenig klargestellt hat.
Wir geben zu, daß hier für unser Urteilsvermögen eine
Schwierigkeit vorliegt. Wir glauben aber, daß dieselbe für
jedes energische Denken zu überwinden ist. Wir müssen uns
zweierlei vorstellen: einmal, daß wir die ideelle Welt tätig zur
Erscheinung bringen, und zugleich, daß das, was wir tätig ins
Dasein rufen, auf seinen eigenen Gesetzen beruht. Wir sind
nun freilich gewohnt, uns eine Erscheinung so vorzustellen,
daß wir ihr nur passiv, beobachtend gegenüberzutreten
brauchten. Allein das ist kein unbedingtes Erfordernis. So
ungewohnt uns die Vorstellung sein mag, daß wir selbst ein
Objektives tätig zur Erscheinung bringen, daß wir mit
anderen Worten eine Erscheinung nicht bloß wahrnehmen,
sondern zugleich produzieren: sie ist keine unstatthafte.
Man braucht einfach die gewöhnliche Meinung aufzugeben,
daß es so viele Gedankenwelten gibt als menschliche
Individuen. Diese Meinung ist ohnehin nichts weiter als ein
althergebrachtes Vorurteil. Sie wird überall stillschweigend
vorausgesetzt, ohne Bewußtsein, daß eine andere zum mindesten
ebensogut möglich ist, und daß die Gründe der Gültigkeit
der einen oder der andern denn doch erst erwogen
werden müssen. Man denke sich an Stelle dieser Meinung
einmal die folgende gesetzt: es gibt überhaupt nur einen einzigen Gedankeninhalt und unser individuelles Denken
sei weiter nichts als ein Hineinarbeiten unseres Selbstes, unserer
individuellen Persönlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt.“ (Lit.: GA 2, S. 51f)
„Die Ideenwelt ist der Urquell und das Prinzip alles Seins.
In ihr ist unendliche Harmonie und selige Ruhe. Das
Sein, das sie mit ihrem Lichte nicht beleuchtete, wäre ein
totes, wesenloses, das keinen Teil hätte an dem Leben
des Weltganzen. Nur, was sein Dasein von der Idee
herleitet, das bedeutet etwas am Schöpfungsbaume des
Universums. Die Idee ist der in sich klare, in sich selbst
und mit sich selbst sich genügende Geist. Das Einzelne
muß den Geist in sich haben, sonst fällt es ab, wie ein
dürres Blatt von jenem Baume, und war umsonst da...“ (Lit.: GA 40, S. 15)
„Wenn es dem
Menschen wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben, und
von der Idee aus die Einzelheiten der Wahrnehmung zu
begreifen, so vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt,
indem sie ihre Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen
hervorgehen lässt. Solange der Mensch das Wirken und
Schaffen der Idee nicht
fühlt, bleibt sein Denken von der lebendigen Natur
abgesondert. Er muss das Denken als eine bloß subjektive
Tätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild von der Natur
entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in seinem
Innern lebt und tätig ist, betrachtet er sich und die Natur als ein
Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint, das
gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, dass er der Natur nicht
mehr als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich
verwachsen mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist
objektiv geworden; das Objektive von dem Geiste ganz
durchdrungen. Goethe ist der Meinung, der Grundirrtum Kants
bestehe darin, dass dieser «das subjektive Erkenntnisvermögen
nun selbst als Objekt betrachtet und den Punkt, wo subjektiv
und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht ganz
richtig sondert.» (Sophien-Ausgabe, 2. Abteilung, Bd. XI, S.376.)
Das Erkenntnisvermögen erscheint dem Menschen nur so lange
als subjektiv, als er nicht beachtet, dass die Natur selbst es ist,
die durch dasselbe spricht. Subjektiv und objektiv treffen
zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt,
und in dem Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der
Natur selbst tätig ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller
Gegensatz von subjektiv und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat
nur eine Bedeutung, solange der Mensch ihn künstlich aufrecht
erhält, solange er die Ideen als seine Gedanken betrachtet,
durch die das Wesen der Natur abgebildet wird, in denen es
aber nicht selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer hatten
keine Ahnung davon, dass in den Ideen der Vernunft das
Wesen, das Ansich der Dinge unmittelbar erlebt wird. Für sie ist
alles Ideelle ein bloß Subjektives.“ (Lit.: GA 6, S. 54f)
„Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung
hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muss
ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die
bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des
Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee
bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des
Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des
Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer
höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.
Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie
das Auge dem Lichte, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ
der Auffassung.“ (Lit.: GA 1, S. 125f)
„Wer weiß, daß der Mensch bei jedem Gedanken einen
göttlichen Strom in sich einströmen läßt, wer sich dessen bewußt
ist, der erhält als Folgeerscheinung die Gabe der höheren Erkenntnis.
Wer weiß, daß Erkenntnis Kommunion ist, der weiß auch,
daß sie nichts anderes ist, als dasjenige, was sich symbolisiert in
dem Abendmahl.“ (Lit.: GA 266a, S. 48)
Die Naturgesetze sind keineswegs abgesondert von der Natur vorhanden, sondern bilden mit dieser zusammen ein untrennbares Ganzes. Sie sind unmittelbar in der physischen Welt wirksame Ideen. Es liegt nur an der Natur des Menschen selbst, dass wir sie auf getrennten Wegen erfahren: Die Naturerscheinungen durch qualitativesinnlicheWahrnehmung bzw. durch quantitativemesstechnische Registrierung einerseits und die Naturgesetze, indem wir den Zusammenhang der Erscheinungen denkend erfassen, andererseits.
„Die Naturgesetze sind Geist, nur daß der Mensch
in der gewöhnlichen Anschauung diesen Geist nur in dem
schattenhaften Abglanz der Gedanken wahrnimmt.“ (Lit.: GA 52, S. 208)
„Ein mathematisch formuliertes Gesetz
ist etwas Geistiges. Wir können es so nennen,
weil es menschlicher Geist ist, der es erkennt.
Der Ausdruck Geist mag heute, wo ein
überbordender Materialismus und Positivismus
seine zum Teil recht üblen Blüten treibt, nicht
sehr populär sein. Aber eben deshalb müssen
wir uns darüber klar werden, was Naturgesetz
und Naturerkenntnis ist. Die Natur folgt also
diesem nicht-materiellen geistigen Element,
dem Gesetz. Folglich sind auch geistige Elemente
in der Natur selbst verankert. Zu diesen
gehört die Mathematik, die zur Formulierung
des Gesetzes nötig ist, sogar hohe und höchste
Mathematik. Anderseits ist der Forscher der
begnadet ist, eine Entdeckung zu machen in
der Lage, eben dieses die Natur durchdringende
geistige Element zu durchdringen. Und hier zeigt
sich die Verbindung zwischen dem menschlichen,
erkennenden Geist und den in der Natur
existierenden transzendenten Elementen. Am
besten sehen wir die Sache, wenn wir uns der
Platonischen Ausdrucksweise bedienen, obwohl Plato diese Art von Naturgesetz
noch nicht kannte. Demnach wäre das Naturgesetz
ein Urbild, eine «Idee» - im Sinne des griechischen Wortes Eidea - dem die Natur folgt
und die der Mensch wahrnehmen kann. Das ist es dann, was man den Einfall nennt.
Durch dieses Urbild ist der Mensch mit der Natur verbunden. Der Mensch, der es erkennen kann, die Natur, die ihm als Gesetz folgt.“
– Walter Heitler: Naturwissenschaft ist Geisteswissenschaft, S. 14f.
Heitler berief sich, ähnlich wie Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger, auch auf die PlatonischeIdeenlehre. Insbesondere in seiner Schrift Die Natur und das Göttliche wandte er sich dabei auch an ein breites Leserpublikum. Von seiner christlichen Überzeugung her war es ihm ein zentrales Anliegen, Beziehungen zwischen der physischen Erfahrungswelt und der metaphysischen Offenbarungswelt anhand von Texten aus dem Alten und Neuen Testament aufzudecken.
„Drei
Dinge gehören zusammen: die Natur, die wir mit unseren
Sinnen beobachten, die Welt der Transzendenz, die die Heimat
der geistigen Urbilder ist, von denen die Natur durchwoben
ist, und der menschliche Geist, der zu dieser Welt der
Transzendenz Zugang hat und nach und nach Erkenntnis ihres
Inhalts gewinnt.
Walter Heitler: Die Natur und das Göttliche, S. 39
Wir kommen nun zu einer zentralen Frage. Die Welt der
Transzendenz besitzt offensichtlich Inhalte von nicht geringer
Intelligenz. Selbst auf dem Gebiet der Mathematik und Physik
werden wir noch lange nicht behaupten können, daß wir schon
das ganze Maß dieser Intelligenz kennen und uns zugänglich
gemacht haben. Wenn wir im nächsten Kapitel von biologischen
Tatsachen und Prozessen sprechen werden, dann werden
wir eine Ahnung davon erhalten, wie viel tiefer unser Intellekt
auch im besten Fall steht als die «Intelligenz», besser
gesagt Weisheit, die im Bau lebender Organismen vorliegt.
Man wird kaum der Frage aus dem Weg gehen können, woher
diese Weisheit oder Intelligenz kommt. Hat sie einfach von
Ewigkeit her bestanden? Oder wer hat diese Gesetze erdacht?
Unsere biologischen Kenntnisse deuten auf Entwicklung hin.
Sollte es bei der Physik anders sein, sollten ihre Gesetze seit
Ewigkeit gegolten haben? Wir werden sehen, daß dies kaum
denkbar ist, daß auch diese Gesetze einmal entstanden sind.
Viele Forscher, besonders vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte,
haben mit Selbstverständlichkeit von einer göttlichen
Schöpfung gesprochen. Die Welt der Transzendenz, die
wir erkennen, ist Schöpfung eines unendlich überlegenen göttlichen
Geistes. Der Urgrund, aus dem alles Sein floß, ist der
Geist, den wir wegen seiner unfaßbaren Größe Gott nennen.“
– Walter Heitler: Die Natur und das Göttliche, S. 39f
Deutlich klingt hier der von Thomas von Aquin vertretene gemäßigte Ideenrealismus an. Thomas hatte unterschieden zwischen Universalien, die sich in der göttlichen Vernunft bilden und vor den Einzeldingen existieren (universalia ante rem), Universalien, die als Allgemeines in den Einzeldingen selbst existieren (universalia in re) und Universalien, die als Begriffe im Verstand des Menschen existieren, das heißt nach den Dingen (universalia post rem).
Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können
Mit abstrakten Ideen lässt sich die Wirklichkeit nicht erfassen. Lebendige Ideen entstehen aus einem konkreten künstlerisch-schöpferischen Gestaltungsprozess. Stellt man sich ihnen erlebend gegenüber und erfasst sie in ihrer unerschöpflichen Gestaltungsfähigkeit, so bleibt dabei im Denken die volle menschliche Freiheit gewahrt, während abgestorbene Ideen mit zwingender Notwendigkeit wirken.
"Alle wirklichen Philosophen
waren Begriffskünstler. Für sie wurden die menschlichen
Ideen zum Kunstmateriale und die wissenschaftliche
Methode zur künstlerischen Technik. Das abstrakte Denken
gewinnt dadurch konkretes, individuelles Leben. Die Ideen
werden Lebensmächte. Wir haben dann nicht bloß ein Wissen
von den Dingen, sondern wir haben das Wissen zum
realen, sich selbst beherrschenden Organismus gemacht;
unser wirkliches, tätiges Bewußtsein hat sich über ein bloß
passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt.
Wie sich die Philosophie als Kunst zur Freiheit des Menschen
verhält, was die letztere ist, und ob wir ihrer teilhaftig
sind oder es werden können: das ist die Hauptfrage meiner
Schrift. Alle anderen wissenschaftlichen Ausführungen stehen
hier nur, weil sie zuletzt Aufklärung geben über jene, meiner Meinung nach, den Menschen am nächsten liegenden
Fragen. Eine «Philosophie der Freiheit» soll in diesen Blättern
gegeben werden.
Alle Wissenschaft wäre nur Befriedigung müßiger Neugierde,
wenn sie nicht auf die Erhöhung des Daseinswertes der menschlichen Persönlichkeit hinstrebte. Den wahren
Wert erhalten die Wissenschaften erst durch eine Darstellung
der menschlichen Bedeutung ihrer Resultate. Nicht die
Veredlung eines einzelnen Seelenvermögens kann Endzweck
des Individuums sein, sondern die Entwicklung aller in uns
schlummernden Fähigkeiten. Das Wissen hat nur dadurch
Wert, daß es einen Beitrag liefert zur allseitigen Entfaltung
der ganzen Menschennatur.
Diese Schrift faßt deshalb die Beziehung zwischen Wissenschaft
und Leben nicht so auf, daß der Mensch sich der
Idee zu beugen hat und seine Kräfte ihrem Dienst weihen
soll, sondern in dem Sinne, daß er sich der Ideenwelt bemächtigt,
um sie zu seinen menschlichen Zielen, die über die
bloß wissenschaftlichen hinausgehen, zu gebrauchen.
Man muß sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft." (Lit.: GA 4, S. 270f)
„Ideen sind nicht nur ein Segen, sie können ebenso eine große
Gefahr für die Entwicklung des Menschen darstellen. Sie haben
die Neigung, den Geist des Menschen einzuschläfern. Das Trügerische
ist, dass der Mensch meint, indem er bestimmten
Ideen folgt, handele er selbständig, obwohl er sich ihnen längst
untergeordnet und ihnen seine Freiheit geopfert hat. Damit
verwandeln sich die Ideen aber in eine Lüge. Jede Idee wird
zu einer Lüge, wenn der, der sie vertritt, sich ihr unterordnet.
Nicht der Mensch bestimmt mehr, sondern eine Vorstellung,
ein Gedankenfeld, das nicht von ihm stammt und das er nur
reproduziert. Damit opfert er der Idee aber gerade sein Heiligstes:
sein schöpferisches Potenzial. Jeder Idee gegenüber, sie
mag noch so wahr und überzeugend sein, muss er sich seine
Autonomie bewahren. Gerade heute, wo die Ideen eine sehr
beherrschende, geradezu magische Wirkung auf die Menschheit
ausüben, ist es entscheidend, dass der Einzelne den Ideen
gegenüber schöpferisch bleibt. Es ist unerlässlich, dass er die
Ideen, die für ihn bestimmend sein sollen, immer wieder neu
hervorbringt und prüft. Wird das vernachlässigt, verwandelt
sich jede Wahrheit unbemerkt in eine Lüge. Man kann tatsächlich
davon ausgehen, dass Ideen die Neigung haben, den Menschen
zu vereinnahmen und ihm seine Autonomie zu rauben;
sie sind für ihn deshalb sehr unangenehme Gegner, weil sich
ihre Macht oft nur schleichend bemerkbar macht. Sie haben
den Vorteil der Tauschung auf ihrer Seite, denn es geht ein
geheimnisvoller Wunsch nach Identifikation von ihnen aus, mit
dem sie den Einzelnen allzu schnell einfangen und überzeugen.
Selbst die hehrsten und tugendhaftesten Ideen sind nicht davor
gefeit, ein Gift zu entwickeln, das den Einzelnen so betört, dass
er eins mit ihnen wird und seine Kritikfähigkeit, seinen gesunden
Eigensinn fahrenlässt. Er wird zum Anhänger einer Idee,
sein Denken erstarrt, wird einseitig und intolerant.“ (Lit.: Massei, S. 89f)
„Die uranfänglichen Ursachen werden, wie ich bereits
früher sagte, bei den Griechen Ideen genannt und
darunter die ewigen Arten und Formen und unveränderlichen
Gründe verstanden, nach welchen und in welchen
die sichtbare und unsichtbare Welt gebildet wird. Darum
verdienen sie bei den griechischen Weisen Ur- oder Musterbilder
genannt zu werden, welche der Vater im Sohne
schuf und durch den h. Geist in ihre Wirkungen vertheilt
und vervielfältigt. Auch werden sie Vorherbestimmungen
genannt, sofern in ihnen zugleich und auf einmal und unveränderlich
vorherbestimmt ist, was durch göttliche Klugheit
geschieht und geschehen ist und geschehen wird.
Denn nichts in der sichtbaren und unsichtbaren Creatur
entsteht auf natürliche Weise, außer was in ihr vornämlich
und vorzeitlich im Voraus festgestellt und geordnet
ist. Auch göttliche Willensbestimmungen pflegen sie
genannt zu werden, weil Gott Alles, was er thun wollte,
in ihnen uranfänglich und ursächlich that und auch alles
noch Zukünftige in ihnen von Ewigkeit her geschehen ist.
Darum heissen sie die Anfänge von Allem, weil Alles,
was in der sichtbaren oder unsichtbaren Creatur wahrgenommen
oder gedacht wird, durch die Theilnahme an
ihnen besteht. Sie selber aber sind Theilhabungen der
Einen All-Ursache, der höchsten und heiligen Dreiheit, und
gelten darum als solche, die durch sich sind, weil zwischen
ihnen und der Einen All-Ursache keine Creatur in der
Mitte liegt.“
– Johannes Scottus Eriugena: Über die Einteilung der Natur[4]
↑vgl. z.B. Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, Paris 2009, S. 438; Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Band 1, Heidelberg 1960, S. 708.