Begriff

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Begriffe (von mhd. und fnhd. begrif, begrifunge; griech. λόγος, logos, Wort, Rede, Sinn; lat. conceptus, „Gedanke, Vorstellung“, eigentlich „das Erfasste, Ergriffene“, aber auch „Behälter, Grube“ und „Empfängnis, Leibesfrucht“[1] bzw. conceptioEmpfängnis[2]; eng. concept) sind, abstrakt betrachtet, sinnvolle, bedeutungstragende (semantische) gedankliche Einheit, die - unter Ausschluss aller zufälligen, veränderlichen, bloß äußerlichen Züge - auf das Wesentliche einer Sache, auf das Sosein eines Seienden, d.h. auf sein Wesen gerichtet ist und durch das aktive Denken zur Erscheinung gebracht wird. Begriffe sind mehr als bloße Bezeichnungen bzw. Worte. Darüber hinaus stellt Rudolf Steiner fest: „Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daß er Begriffe habe.“ (Lit.:GA 4, S. 57)

Der Begriffsinhalt, die Intension, umfasst idealerweise die Gesamtheit aller Eigenschaften, Merkmale[3] und gesetzmäßiger Beziehungen, die allen Dingen gemeinsam sind, die der Begriff umspannt, die also seinen Begriffsumfang, seine Extension, ausmachen. In der Praxis können aber stets aber nur einzelne charakteristische Eigenschaften, Merkmale und Gesetzmäßigkeiten herausgegriffen werden, wodurch sich oft sehr unterschiedliche Definitionen für ein und denselben Begriff ergeben. Angewendet auf verschiedene Daseinsbereiche können Begriffe auch unterschiedliche Bedeutungen annehmen und bedürfen einer entsprechenden Begriffsklärung. Wirklichkeitsgemäße Begriffe können niemals durch eine starre, einseitige Definition, sondern nur durch eine umfassende, lebendig bewegliche, der jeweiligen Sache angemessene Charakterisierung ausreichend erfasst werden.

„Wer - um mit Goethe zu reden - einen Begriff hinpfahlt, um einen reichen Lebensinhalt zu begrenzen, der hat keinen Sinn dafür, dass sich das Leben in Beziehungen ausgestaltet, die nach den verschiedenen Richtungen hin verschieden wirken. Es ist allerdings bequemer, an die Stelle einer Ansicht des vollen Lebens einen schematischen Begriff zu setzen; man kann mit solchen Begriffen eben leicht schematisch urteilen. Man lebt aber durch einen solchen Vorgang in wesenlosen Abstraktionen. Die menschlichen Begriffe werden gerade dadurch zu solchen Abstraktionen, dass man meint, man könne sie im Verstande so behandeln, wie die Dinge einander behandeln. Aber diese Begriffe gleichen vielmehr Bildern, die man von verschiedenen Seiten her von einem Dinge aufnimmt. Das Ding ist eines; der Bilder sind viele. Und nicht die Einstellung auf ein Bild, sondern das Zusammenschauen mehrerer Bilder führt zu einer Anschauung des Dinges.“ (Lit.:GA 6, S. 215)

Begriffe und Ideen

Umfangreichere Begriffe bezeichnet Rudolf Steiner als Ideen.

„Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe.“ (Lit.:GA 4, S. 57)

Allgemeinbegriffe bzw. allgemeine Ideen, unter denen die gemeinsamen Merkmale einer Menge materieller oder immaterieller Einzeldinge (Individuen) zusammengefasst werden, nennt man Universalien (lat. universalia, von universalis „allumfassend“). Daran, ob diesen Allgemeinbegriffen eine eigenständige geistige Wirklichkeit entspricht, wie schon Plato und die ihm folgenden Realisten meinte, oder ob sie bloß abstrakte menschliche Konstruktionen sind oder gar nur Namen seien, wie die Nominalisten und Konzeptualisten behaupteten, entzündete sich der mittelalterliche Universalienstreit.

Tatsächlich treten Begriffe nicht vereinzelt auf, sondern stehen in vielfältigen Beziehungen zu anderen Begriffen, Vorstellungen und Wahrnehmungen bzw. bestehen eben gerade in der gesetzmäßigen Struktur dieser wechselseitigen Beziehungen, die durch das Denken enthüllt werden. Die Bedeutung eines Begriffs offenbart sich eben gerade dadurch, dass er auf andere der Sache nach mit ihm verbundene Begriffe, Vorstellungen und Wahrnehmungen hindeutet. Begriffe bilden in diesem Sinn ein gesetzmäßig verwobenes Beziehungsgeflecht und wir erleben „die Wahrheit in der durchgängigen Zusammenstimmung aller Begriffe, über die wir verfügen“ (Lit.:GA 2, S. 57), was im Prinzip der Kohärenztheorie der Wahrheit entspricht.

„Haben wir uns bis dahin durchgerungen, daß unsere ganze Gedankenwelt den Charakter einer vollkommenen, inneren Übereinstimmung trägt, dann wird uns durch sie jene Befriedigung, nach der unser Geist verlangt. Dann fühlen wir uns im Besitze der Wahrheit.“ (Lit.:GA 2, S. 57)

Im höchsten Sinn ist die Idee ewig und einzig, wie es schon Goethe ausgedrückt hat. Sie gliedert die Vielzahl der einzelnen Begriffe der unteilbaren Ganzheit der kosmischen Ordnung ein.

„Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.“

Goethe: Maximen und Reflexionen[4]

Ein Blick auf die Wirklichkeit eröffnet sich erst, wenn die Wahrnehmungen mit Begriffen durchdrungen werden. Ohne die durch das Denken gebildeten Begriffe bliebe die Wahrnehmung ein nicht weiter fassbares zusammenhangloses diffuses Aggregat von Empfindungsobjekten.

„Begriff ist Summe, Idee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses zu erfassen, Vernunft erfordert.“ (Lit.: Goethe: Maximen und Reflexionen[5])

Begriff und Logik

Das begriffliche logische Denken schreitet diskursiv durch drei grundlegende Glieder voran, die - entgegen einem herkömmlichen Vorurteil (siehe → Logik) - vom Schluss über das Urteil hin zum Begriff führen. In Worte gefasste Definitionen dienen der Verständigung über den Umfang und die Bedeutung eines Begriffs; sie sind aber nicht mehr als bloße Hilfsmittel, die zwar eine gewisse Klarheit schaffen können, aber das Wesen des gegebenen Begriffs letztlich doch nur einseitig und unzureichend charakterisieren. Sehr richtig sagt daher Rudolf Steiner: "Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe." (Lit.: GA 4, S. 57)

Schluss, Urteil und Begriff

Entgegen der landläufigen Meinung schreitet das logische Denken vom Schluss über das Urteil zum Begriff voran. Nur im logischen Schließen sind wir vollwach. Im Urteil träumen wir bereits und im Begriff schlafen wir.

„Und kommen wir vom Urteil zum Begriff, so müssen wir uns gestehen: was wir als Begriff ausbilden, das steigt hinunter bis in die tiefste Tiefe des Menschenwesens, geistig betrachtet, steigt hinunter bis in die schlafende Seele. Der Begriff steigt hinunter bis in die schlafende Seele, und dies ist die Seele, die fortwährend am Leibe arbeitet. Die wachende Seele arbeitet nicht am Leibe. Ein wenig arbeitet die träumende Seele am Leibe; sie erzeugt das, was in seinen gewohnten Gebärden liegt. Aber die schlafende Seele wirkt bis in die Formen des Leibes hinein. Indem Sie Begriffe bilden, das heißt, indem Sie Ergebnisse der Urteile bei den Menschen feststellen, wirken Sie bis in die schlafende Seele oder, mit anderen Worten, bis in den Leib des Menschen hinein. Nun ist ja der Mensch in hohem Grade dem Leibe nach fertig gebildet, indem er geboren wird, und die Seele hat nur die Möglichkeit, das, was durch die Vererbungsströmung den Menschen überliefert wird, feiner auszubilden. Aber sie bildet es feiner aus. Wir gehen durch die Welt und schauen uns Menschen an. Diese Menschen treten uns entgegen mit ganz bestimmten Gesichtsphysiognomien. Was ist in diesen Gesichtsphysiognomien enthalten? Es ist in ihnen unter anderem enthalten das Ergebnis aller Begriffe, welche die Lehrer und Erzieher während der Kindheit in den Menschen hineingebracht haben. Aus dem Gesicht des reifen Menschen strahlt uns wieder das entgegen, was an Begriffen in die Kinderseele hineingegossen ist, denn die schlafende Seele hat die Physiognomie des Menschen unter anderem auch nach den feststehenden Begriffen gebildet. Hier sehen wir die Macht des Erzieherischen und Unterrichtlichen von uns auf den Menschen. Seinen Siegelabdruck bekommt der Mensch bis in den Leib hinein durch das Begriffebilden.“ (Lit.:GA 293, S. 138f)

Begriff und Wort

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Begriffe sind nicht identisch mit den sprachlichen Bezeichnungen, die auf sie hindeuten, obwohl Worte häufig auch beim Denken als deren mentale Repräsentanten verwendet werden. Namentlich bei den Griechen waren Wort und Begriff noch kaum voneinander geschieden und Denken ein inneres, stummes Sprechen, gleichsam ein intellektuelles Selbstgespräch, das aber, wie sie teilweise noch sehr deutlich empfanden, nicht nur im Menschen stattfindet, sondern auch in der Natur als die eigentliche Schöpferkraft waltet - ein Prinzip, das seine höchste Ausformung im Prolog des Johannesevangeliums findet („Im Anfang war das Wort“ Joh 1,1 LUT). Aber auch schon das Alte Testament lässt im Sechstagewerk die Schöpfung aus dem Wort der Elohim hervorgehen. Die Griechen unterschieden daher das ausgesprochene Wort (griech. λόγος προφορικός logos prophorikos) von dem beim Denken nur innerlich stumm gesprochenen Wort (griech. λόγος ἐνδιάθετος logos endiathetos).

Begriff und Wort sind heute viel deutlicher voneinander geschieden, obwohl noch viel von der Bindung des Denkens an das Sprechen nachklingt. Auch heute wird das Denken noch häufig als ein inneres Sprechen erlebt, in dem die Begriffe mental durch innerlich erlebte Worte repräsentiert werden, doch kann heute viel bewusster erlebt werden, dass das eigentliche Denken, das dieses innere Sprechen hervorbringt und bestimmt, auf einer eigenen Metaebene darüber steht. Solange das Denken unmittelbar in der Sprache verhaftet bleibt, ist es noch kein allgemein menschliches, sondern bleibt mehr oder weniger an eine bestimmte Volksseele gebunden, wobei diese Bindung bei den verschiedenen Volkssprachen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Im Altgriechischen oder im alten Sanskrit ist diese Bindung beispielsweise sehr stark, im Deutschen hingegen viel lockerer.

„Wir modernen Menschen müssen genau unterscheiden zwischen dem Begriff und dem Worte. Es würde nur zum Unheil in der menschlichen Besonnenheit führen, wenn wir nicht genau unterscheiden würden zwischen dem, was im abstrakten Verstande innerlich lebt, und dem, was im Worte lebt. Der abstrakte Verstand ist ja auch universell, allgemein menschlich. Das Wort lebt in den einzelnen Volkssprachen. Wir können schon unterscheiden zwischen dem, was da lebt im Begriffe, in der Idee und im Worte.

Will man das, was uns von den Griechen rein historisch vorliegt, richtig verstehen, so kommt man nicht zurecht, wenn man den Griechen diesen selben Unterschied zuschreibt, wie wir ihn entwickeln im Unterscheiden zwischen Begriff und Wort. Die Griechen unterschieden nicht mit derselben Stärke Begriff, Idee und Wort. Wenn sie sprachen, lebte für sie das, was in der Idee lebt, auf den Flügeln des Wortes. Sie glaubten in das Wort hineinzulegen den Begriff. Wenn sie dachten, dachten sie nicht in einer abstrakten, intellektualistischen Weise wie wir. Es ging durch ihre Seele etwas wie der allerdings unhörbare, aber doch Laut des Wortes. Es klang unhörbar in ihnen. Das Wort lebte, nicht der abstrakte Begriff.“ (Lit.:GA 206, S. 174)

„Jene Trennung, die wir heute psychologisch vollziehen müssen zwischen dem Worte und dem Inhalte der Vorstellung - besonders bei Betrachtung des Mathematisierens tritt das mit aller Klarheit hervor —, ist in älteren Zeiten nicht gemacht worden. Und gerade auf diese Unterscheidung kam zuerst Aristoteles. Er hob innerhalb des Seelenlebens dasjenige, was Vorstellung, Begriff ist, aus dem Gewebe der Sprache heraus, machte es für die Erkenntnis zu etwas abgesondert Vorliegendem. Dadurch aber drängte er wiederum dasjenige, was in der Sprache lebt, weiter in das Unbewußte hinunter, als es vorher war. Es wurde gewissermaßen ein Abgrund für die Erkenntnis geschaffen zwischen dem Begriff oder der Vorstellung und dem Worte.

Je weiter wir nämlich zurückgehen in der Betrachtung der menschlichen Sprache, desto mehr finden wir, daß in der Auffassung des Menschen Wort und Begriff oder Vorstellung als eines erlebt werden, daß der Mensch gewissermaßen das, was er denkt, innerlich hört, daß er ein Wortbild, nicht so sehr ein Gedankenbild hat. Der Gedanke wird draußen an die Sinneswahrnehmungen und drinnen an das Wort geknüpft. Dadurch aber war auch für diese alteren Zeiten eine gewisse Empfindung vorhanden, die sich etwa so charakterisieren läßt: Indem die Menschen sich in ihren Worten aussprachen, fühlten sie, als ob das, was in ihren Worten widerklingt, unmittelbar auf eine im Instinktiven verborgene, unterbewußte Art von den Dingen in ihre Sprache hineingelangt wäre. Sie fühlten gewissermaßen, daß ein realer Vorgang sich abspielt zwischen dem, was in den Dingen und namentlich in den Tatsachen lebt, und dem, was innerlich den Impuls zum Erklingen des Wortes bildet. Sie fühlten einen solchen realen Zusammenhang, wie der Mensch heute noch einen realen Zusammenhang zwischen den Stoffen fühlt, die draußen sind, sagen wir Ei, Kalbfleisch, Salat, und dem, was dann in seinem Inneren mit dem Inhalte dieser Stoffe sich abspielt, wenn er verdaut. Er wird in diesem Vorgang, der sich abspielt vom Draußensein der Stoffe zu dem, was drinnen in der Verdauung geschieht, einen realen Vorgang sehen. Diesen realen Vorgang erlebt er unterbewußt. So unterbewußt - wenn auch viel deutlicher, von einem gewissen dämmerigen Bewußtsein schon durchzogen — war dasjenige, was man an der Sprache erlebte. Man hatte die Empfindung, daß etwas, was in den Dingen lebt, mit den Lauten, mit den Worten verwandt ist. Wie die Substanzen der Stoffe, die man ißt, mit dem, was innerlich im Menschen im Stoffwechsel geschieht, zusammenhängen, so empfand man einen inneren Zusammenhang zwischen dem, was in den Dingen und Tatsachen vorgeht, was wortähnlich ist, und dem, was innerlich als Wort erklingt. Und indem Aristoteles das, was man da als einen realen Vorgang empfand, ins Bewußtsein heraufhob, wo die Begriffe spielen, war für die Sprache dasselbe geleistet, was ein Mensch leistet, der darüber nachdenkt, was die Substanzen der Stoffe in seinem Organismus anfangen. Etwas weiter voneinander entfernt ist allerdings das Denken über die Verdauung von dem realen Verdauungsvorgange selbst als das Denken von der Sprache. Aber eine Vorstellung von dem entsprechenden Verhältnis kann man gewinnen, wenn man sich diese Vorstellung dadurch verdeutlicht, daß man von einem Naheliegenderen zu einem Entfernteren und in der Entfernung Deutlicherwerdenden übergeht.“ (Lit.:GA 76, S. 122ff)

Wahrnehmung, Begriff und Vorstellung

Ein Begriff kann sich auf eine ganz bestimmte Wahrnehmung beziehen bzw. eine Summe von Wahrnehmungen zu einem sinnvollen Gesamtbild verbinden.

„Unter Begriff verstehe ich eine Regel, nach welcher die zusammenhanglosen Elemente der Wahrnehmung zu einer Einheit verbunden werden.“ (Lit.:GA 3, S. 60)

Indem sich der Begriff mit der Wahrnehmung verbindet entsteht die Vorstellung, die sich dann dem Gedächtnis einprägt. Die Vorstellung steht zwischen Wahrnehmung und Begriff. Sie ist nach Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit ein individualisierter, auf eine ganz bestimmte konkrete Wahrnehmung bezogener Begriff. Die Vorstellung wird also zwar nicht aus der Wahrnehmung, wohl aber an der Wahrnehmung durch das Denken gebildet.

„Die Rose zum Beispiel übt einen Eindruck auf uns aus: Rot, Duft, Form, Ausdehnung. Wenden wir uns ab von der Rose, so behalten wir in der Seele etwas zurück wie einen abgeblaßten Rest des Roten, des Duftes, der Ausdehnung, und so weiter. Dieser abgeblaßte Rest ist die Vorstellung. Man sollte nicht verwechseln Wahrnehmung und Vorstellung. Die Vorstellung eines Dinges ist das, wo das Ding nicht mehr dabei ist. Die Vorstellung ist schon ein Erinnerungsbild der Wahrnehmung.

Wir sind aber immer noch nicht zum Begriff gekommen. Die Vorstellung erhalten wir, indem wir uns den Eindrücken der Außenwelt aussetzen. Wir behalten dann als Bild die Vorstellung zurück. Die meisten Menschen kommen Zeit ihres Lebens nicht über die Vorstellung hinaus, sie dringen nicht vor zum eigentlichen Begriff.“ (Lit.:GA 108, S. 199)

„In dem Augenblicke, wo eine Wahrnehmung in meinem Beobachtungshorizonte auftaucht, betätigt sich durch mich auch das Denken. Ein Glied in meinem Gedankensysteme, eine bestimmte Intuition, ein Begriff verbindet sich mit der Wahrnehmung. Wenn dann die Wahrnehmung aus meinem Gesichtskreise verschwindet: was bleibt zurück? Meine Intuition mit der Beziehung auf die bestimmte Wahrnehmung, die sich im Momente des Wahrnehmens gebildet hat. Mit welcher Lebhaftigkeit ich dann später diese Beziehung mir wieder vergegenwärtigen kann, das hängt von der Art ab, in der mein geistiger und körperlicher Organismus funktioniert. Die Vorstellung ist nichts anderes als eine auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogene Intuition, ein Begriff, der einmal mit einer Wahrnehmung verknüpft war, und dem der Bezug auf diese Wahrnehmung geblieben ist. Mein Begriff eines Löwen ist nicht aus meinen Wahrnehmungen von Löwen gebildet. Wohl aber ist meine Vorstellung vom Löwen an der Wahrnehmung gebildet. Ich kann jemandem den Begriff eines Löwen beibringen, der nie einen Löwen gesehen hat. Eine lebendige Vorstellung ihm beizubringen, wird mir ohne sein eigenes Wahrnehmen nicht gelingen.“ (Lit.:GA 4, S. 106f)

Begriffe als Ergebnis des Denkens

Mit der Vorstellung ist noch nicht der reine Begriff gegeben. Dieser wird erst durch die rein innerliche gedankliche Tätigkeit konstruiert bzw. gebildet. Der reine Begriff ist nicht mehr auf eine bestimmte konkrete Wahrnehmung bezogen und in diesem Sinn, d.h. im Hinblick auf die Wahrnehmungswelt, abstrakt. Er ist aber zugleich im geistigen Sinn konkret, da ihm eine konkrete, inhaltvolle gedanklich-geistige Tätigkeit zu Grunde liegt.

„Was ein Begriff ist und wie er sich verhält zur Vorstellung, wird am besten gezeigt an einem Beispiel aus der Mathematik. Nehmen wir den Kreis. Wenn wir mit einem Kahn auf das Meer hinausfahren, bis dort, wo wir schließlich nichts weiter sehen als die Meeresfläche und den Himmel, so können wir, wenn es ganz ruhig ist, den Horizont wahrnehmen als einen Kreis. Schließen wir dann die Augen, so behalten wir von dieser Wahrnehmung als Erinnerungsbild die Vorstellung des Kreises zurück. Um zum Begriff des Kreises zu kommen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir dürfen keinen äußeren Anlaß für die Vorstellung suchen, sondern wir konstruieren im Geiste alle Punkte einer Fläche, welche von einem bestimmten festen Punkte gleich weit entfernt sind; wiederholen wir dies unzählige Male und verbinden im Geiste diese Punkte durch eine Linie, so baut sich vor unserem Geiste das Bild eines Kreises auf. Wir können auch mit Kreide an der Tafel eine Illustration dieses geistigen Bildes geben. Wenn wir uns nun dieses nicht durch äußere Eindrücke, sondern durch inneres Konstruieren entstandene Bild des Kreises vor Augen stellen und es vergleichen mit dem Bild der Meeresfläche und des Horizontes, das sich der äußeren Wahrnehmung darbot, so können wir finden, daß der innerlich konstruierte Kreis dem Bild der äußeren Wahrnehmung durchaus entspricht.

Wenn nun die Menschen wirklich logisch denken, im strengen logischen Sinne denken, so tun sie etwas anderes als äußerlich wahrnehmen und das Wahrgenommene sich wieder vergegenwärtigen; dies ist nur eine Vorstellung. Beim logischen Denken aber muß jeder Gedanke innerlich konstruiert sein, er muß ähnlich geschaffen sein, wie ich es eben am Beispiele des Kreises erklärt habe. Mit diesem inneren Gedankenbilde geht der Mensch dann erst an die äußere Wirklichkeit heran und findet Harmonie zwischen dem inneren Bilde und der äußeren Wirklichkeit. Die Vorstellung steht mit der äußeren Wahrnehmung in Verbindung, der Begriff ist entstanden durch inneres Konstruieren. Immer haben die Menschen so innerlich konstruiert, die wirklich logisch dachten. So hat Kepler, als er seine Gesetze aufstellte, diese innerlich konstruiert, und er fand sie dann in Harmonie mit der äußeren Wirklichkeit.

Der Begriff ist also nichts anderes als ein Gedankenbild, er hat seine Genesis, seinen Ursprung im Gedanken. Eine äußere Illustration ist nur eine Krücke, ein Hilfsmittel, um den Begriff anschaulich zu machen. Nicht durch äußere Wahrnehmung wird der Begriff gewonnen, er lebt zunächst nur in der reinen Innerlichkeit.“ (Lit.:GA 108, S. 199f)

Begriffe werden durch das Denken gebildet und schließen sich zu umfangreicheren Begriffssystemen zusammen. Umfangreichere Begriffe bzw. Begriffssysteme werden auch als Ideen bezeichnet.

„Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung; zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Erfahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Begriffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. Der Begriff «Organismus» schließt sich zum Beispiel an die andern: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum» an. Andere an Einzeldingen gebildete Begriffe fallen völlig in eins zusammen. Alle Begriffe, die ich mir von Löwen bilde, fallen in den Gesamtbegriff «Löwe» zusammen. Auf diese Weise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem geschlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondere Stelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe...

Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, dass der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt.“ (Lit.:GA 4, S. 57)

Das Denken in reinen Begriffen ist nach Steiners Ansicht heute noch nicht sehr verbreitet; im Allgemeinen scheinen ihm die Menschen erst wenig über das bloße Vorstellen hinausgekommen zu sein:

„Unsere heutige Geisteskultur ist in ihrem Denken eigentlich - außer in der Mathematik - noch nicht über das bloße Vorstellen hinausgekommen. Für den Geistesforscher ist es manchmal grotesk zu sehen, wie wenig die Menschen hinausgekommen sind über das bloße Vorstellen. Die Menschen glauben meistens, der Begriff stamme aus der Vorstellung und sei nur blasser, weniger inhaltsvoll als diese. Sie glauben zum Beispiel zum Begriff des Pferdes zu gelangen, indem sie nacheinander große, kleine, braune, weiße und schwarze Pferde in ihrer Wahrnehmung auftauchen sehen; und nun nehme ich mir - so urteilen die Menschen weiter - aus der Wahrnehmung dieser verschiedenen Pferde das allen Pferden Gemeinsame heraus und lasse das Trennende weg, und so gewinne ich den Begriff des Pferdes. - Man bekommt so aber nur eine abstrakte Vorstellung, niemals aber gelangt man so im strengen Sinne des Wortes zu dem Begriff des Pferdes. Ebensowenig kommt man zu einem Begriff des Dreiecks, wenn mann alle Arten von Dreiecken nimmt, das Gemeinsame nimmt und das Trennende wegläßt. Zu einem Begriff des Dreiecks kommt man nur, wenn man sich innerlich konstruiert die Figur dreier sich schneidender Linien. Mit diesem innerlich konstruierten Begriff treten wir an das äußere Dreieck heran und finden es dann mit dem innerlich konstruierten Bilde harmonierend.

Nur in bezug auf mathematische Dinge können die Menschen unserer heutigen Kultur sich aufschwingen zum Begriff. Zum Beispiel beweist man durch innerliche Konstruktion, daß die Winkelsumme im Dreieck gleich hundertachtzig Grad ist. Wenn aber einmal jemand anfängt, Begriffe auch anderer Dinge innerlich zu konstruieren, so erkennt ein großer Teil unserer Philosophen das gar nicht an. Goethe hat die Begriffe «Urpflanze», «Urtier» durch inneres Konstruieren geschaffen; nicht das Verschiedene wurde nur weggelassen, das Gleiche festgehalten, - wie vorhin am Beispiel des Pferdes gesagt. Die Urpflanze und das Urtier sind solche innerliche Geisteskonstruktionen. Aber wie wenige erkennen das heute an. Erst wenn man durch innerliche Konstruktion sich den Begriff des Pferdes, der Pflanze, des Dreiecks und so weiter aufbauen kann, und wenn dies sich mit der äußeren Wahrnehmung deckt, erst dann kommt man zum Begriff einer Sache.“ (Lit.:GA 108, S. 200f)

Indem der Mensch im Erkenntnisakt die Wahrnehmung mit reinen, sinnlichkeitsfreien Begriffen durchdringt und dadurch über die bloße Vorstellung hinausgeht, stößt er erst zur vollen Wirklichkeit vor.

„Begriffe werden also nicht durch Wahrnehmung gewonnen. Das ist ein Vorurteil, das heute sehr verbreitet ist. Begriffe werden gewonnen durch innerliche Konstruktion. Der Begriff ist sozusagen dasjenige, wozu der Mensch kommt, gerade wenn er absieht von aller äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Und nun kann er zusammenwirken lassen, was er innerlich konstruiert hat, mit dem, was sich ihm äußerlich als sinnliche Wirklichkeit darstellt.“ (Lit.:GA 108, S. 239)

Lebendige und tote Begriffe

Rudolf Steiner, Urpflanze, Aquarell 1924
Siehe auch: Lebendiges Denken

Lebendige Begriffe sind das Ergebnis eines lebendigen Denkens. Sie lassen sich nicht in starre abstrakte Definitionen fassen, sondern müssen ob ihrer unerschöpflichen Fülle stets von neuen Seiten charakterisiert werden. Sie müssen wachsen und reifen können. Das ist namentlich für die Pädagogik von entscheidender Bedeutung. In der Waldorfpädagogik wird ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, dass sich die Schüler lebendige Begriffe erwerben, die mit ihnen ein Leben lang bis ins hohe Alter mitwachsen und ausreifen können.

Nur im reinen, lebendigen Denken lässt sich Lebendiges erfassen, wie es etwa Goethe in der Anschauung der Urpflanze gelungen ist.

„Wenn man in dem Sinn, wie ich es charakterisiert habe, versucht, zu einer geistigen Anschauung aufzusteigen, dann kommt man, indem man durchaus von dem geschulten naturwissenschaftlichen Denken der Gegenwart ausgeht, zu dem, was ich charakterisierte als ein lebendiges Denken, als ein bildhaftes Denken. Mit diesem bildhaften Denken fühlt man sich nun auch gerüstet, dasjenige, ich möchte sagen, wie mathematisch, aber jetzt qualitativ, zu begreifen, was mit der gewöhnlichen Mathematik und Geometrie nicht zu begreifen ist: das Lebendige.“ (Lit.:GA 83, S. 94)

Tote Begriffe haben bei allen Menschen die mehr oder weniger gleiche Gestalt. Sie sind starr, unbeweglich und eng begrenzt. Mit ihnen lässt sich nur Totes erfassen. Für die Entwicklung der Technik, die sich auf die sinnreiche Zusammenstellung von toten Elementen zu einem ebenso toten Gesamtgebilde gründet, sind sie daher besonders geeignet, nicht aber für den Umgang mit dem Lebendigen.

Lebendige Begriffe müssen hingegen individuell gestaltet werden. Dennoch drückt sich in ihnen, wenn sie richtig gedacht werden, stets die eine Wahrheit aus, die immer mehr von ihrem unbegrenzten Reichtum enthüllt.

„Gewisse Eigenschaften, die in allen Menschen gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche Urteile. Die Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und Zahl ansehen, ist bei allen gleich. Daher finden alle die gleichen mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, dass in dem einen Menschen die Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, dass alle zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen Ganzen angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit, die da spricht. «Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.» Dies ist Goethes Meinung. Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit, das nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein lebendiges Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der verschiedensten Gestalt an seiner Oberfläche zeigen kann. «Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht», sagt Goethe. Er schätzt keine Theorie, die ein für allemal abgeschlossen sein will, und in dieser Gestalt eine ewige Wahrheit darstellen soll. Er will lebendige Begriffe, durch die der Geist des einzelnen nach seiner individuellen Eigenart die Anschauungen zusammenfasst.“ (Lit.:GA 6, S. 66)

Über die Realität der Allgemeinbegriffe - Realismus und Nominalismus

Datei:Dreieck1.gif

„Zu dem Zweifel führt die Entwickelung des Gedankens, ob es dasjenige überhaupt geben könne in der Welt, was man allgemeine Gedanken, allgemeine Begriffe nennt, zu dem sogenannten Nominalismus, zu der philosophischen Anschauung, daß die allgemeinen Begriffe nur Namen sein können, also überhaupt nur Worte. Es gab also für diesen allgemeinen Gedanken sogar die philosophische Anschauung, und viele haben sie noch heute, daß diese allgemeinen Gedanken überhaupt nur Worte sein können.

Nehmen wir einmal, um uns das zu verdeutlichen, was eben gesagt worden ist, einen leicht überschaubaren und zwar allgemeinen Begriff; nehmen wir den Begriff «Dreieck» als allgemeinen Begriff. Derjenige nun, der da mit seinem Standpunkte des Nominalismus kommt, der nicht hinwegkommen kann von dem, was als Nominalismus sich in dieser Beziehung ausgebildet hat in der Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts, der sagt etwa folgendes: Zeichne mir ein Dreieck hin! - Gut, ich werde ihm ein Dreieck hinzeichnen, zum Beispiel ein solches: (siehe Zeichnung rechts)

Schön, sagt er, das ist ein besonderes, spezielles Dreieck mit drei spitzen Winkeln, das gibt es. Aber ich werde dir ein anderes hinzeichnen. - Und er zeichnet ein Dreieck hin, das einen rechten Winkel hat, und ein solches, das einen sogenannten stumpfen Winkel hat. (siehe Zeichnung links)

Datei:Dreieck2.gif So, jetzt nennen wir das erste ein spitzwinkliges Dreieck, das zweite ein rechtwinkliges und das dritte ein stumpfwinkliges. Da sagt der Betreffende: Das glaube ich dir, es gibt ein spitzwinkliges, ein rechtwinkliges und ein stumpfwinkliges Dreieck. Aber das alles ist ja nicht das Dreieck. Das allgemeine Dreieck muß alles enthalten, was ein Dreieck enthalten kann. Unter den allgemeinen Gedanken des Dreiecks muß das erste, das zweite und das dritte Dreieck fallen. Es kann aber doch nicht ein Dreieck, das spitzwinklig ist, zugleich rechtwinklig und stumpfwinklig sein. Ein Dreieck, das spitzwinklig ist, ist ein spezielles, ist nicht ein allgemeines Dreieck; ebenso ist ein rechtwinkliges und ein stumpfwinkliges Dreieck ein spezielles. Ein allgemeines Dreieck kann es aber nicht geben. Also ist das allgemeine Dreieck ein Wort, das die speziellen Dreiecke zusammenfaßt. Aber den allgemeinen Begriff des Dreiecks gibt es nicht. Das ist ein Wort, das die Einzelheiten zusammenfaßt.

Das geht natürlich weiter. Nehmen wir an, es spricht jemand das Wort Löwe aus. Nun sagt der, welcher auf dem Standpunkt des Nominalismus steht: Im Berliner Tiergarten ist ein Löwe, im Hannoverschen Tiergarten ist auch ein Löwe, im Münchner Tiergarten ist auch einer. Die einzelnen Löwen gibt es; aber einen allgemeinen Löwen, der etwas zu tun haben sollte mit dem Berliner, Hannoverschen und Münchner Löwen, den gibt es nicht. Das ist ein bloßes Wort, das die einzelnen Löwen zusammenfaßt. Es gibt nur einzelne Dinge, und es gibt außer den einzelnen Dingen, so sagt der Nominalist, nichts als Worte, welche die einzelnen Dinge zusammenfassen.

Diese Anschauung, wie gesagt, ist heraufgekommen; sie vertreten heute noch scharfsinnige Logiker. Und wer sich die Sache, die jetzt eben auseinandergesetzt worden ist, ein wenig überlegt, wird sich auch im Grunde genommen gestehen müssen: Es liegt da doch etwas Besonderes vor; ich kann nicht so ohne weiteres darauf kommen, ob es nun wirklich diesen «Löwen im allgemeinen» und das «Dreieck im allgemeinen» gibt, denn ich sehe es ja nicht recht. Wenn nun wirklich jemand käme, der sagen würde: Sieh einmal, lieber Freund, ich kann dir nicht zubilligen, daß du mir den Münchner, den Hannoverschen oder den Berliner Löwen zeigst. Wenn du behauptest, es gäbe den Löwen «im allgemeinen», so mußt du mich irgendwo hinführen, wo es den «Löwen im allgemeinen» gibt. Wenn du mir aber den Münchner, den Hannoverschen und den Berliner Löwen zeigst, so hast du mir nicht bewiesen, daß es den «Löwen im allgemeinen» gibt. - Wenn jemand käme, der diese Anschauung hat, und man sollte ihm den «Löwen im allgemeinen» zeigen, so würde man zunächst etwas in Verlegenheit geraten. Es ist nicht so leicht, die Frage zu beantworten, wo man den Betreffenden hinführen soll, dem man den «Löwen im allgemeinen» zeigen soll.

Nun, wir wollen jetzt nicht zu dem gehen, was uns die Geisteswissenschaft gibt; das wird schon noch kommen. Wir wollen einmal beim Denken bleiben, wollen bei dem bleiben, was durch das Denken erreicht werden kann, und wir werden uns sagen müssen: Wenn wir auf diesem Boden bleiben wollen, so geht es eben nicht recht, daß wir irgendeinen Zweifler zum «Löwen im allgemeinen» hinführen. Das geht wirklich nicht. Hier liegt eine der Schwierigkeiten vor, die man einfach zugeben muß. Denn will man auf dem Gebiete des gewöhnlichen Denkens diese Schwierigkeit nicht zugeben, dann läßt man sich eben nicht auf die Schwierigkeit des menschlichen Denkens überhaupt ein.

Bleiben wir beim Dreieck; denn schließlich ist es für die allgemeine Sache gleichgültig, ob wir uns die Sache am Dreieck, am Löwen oder an etwas anderem klarmachen. Zunächst erscheint es aussichtslos, daß wir ein allgemeines Dreieck hinzeichnen, das alle Eigenschaften, alle Dreiecke enthält. Und weil es aussichstlos nicht nur erscheint, sondern für das gewöhnliche menschliche Denken auch ist, deshalb steht hier alle äußere Philosophie an einer Grenzscheide und ihre Aufgabe wäre es, sich einmal wirklich zu gestehen, daß sie als äußere Philosophie an einer Grenzscheide steht. Aber diese Grenzscheide ist eben nur diejenige der äußeren Philosophie. Über diese Grenzscheide gibt es doch eine Möglichkeit, hinüberzukommen, und mit dieser Möglichkeit wollen wir uns jetzt einmal bekanntmachen.

Datei:Dreieck3.gif Denken wir uns, wir zeichnen das Dreieck nicht einfach so hin, daß wir sagen: Jetzt habe ich dir ein Dreieck hingezeichnet, und da ist es. - Da wird immer der Einwand gemacht werden können: Das ist eben ein spitzwinkliges Dreieck, das ist kein allgemeines Dreieck. Man kann das Dreieck nämlich auch anders hinzeichnen. Eigentlich kann man es nicht; aber wir werden gleich sehen, wie sich dieses Können und Nichtkönnen zueinander verhalten. Nehmen wir an, dieses Dreieck, das wir hier haben, zeichnen wir so hin und erlauben jeder einzelnen Seite, daß sie sich nach jeder Richtung, wie sie will, bewegt. Und zwar erlauben wir ihr, daß sie sich mit verschiedenen Schnelligkeiten bewege. (An der Tafel zeichnend gesprochen).

Diese Seite bewegt sich so, daß sie im nächsten Augenblick diese Lage einnimmt, diese so, daß sie im nächsten Augenblick diese Lage einnimmt. Diese bewegt sich viel langsamer, diese bewegt sich schneller und so weiter. Jetzt kehrt sich die Richtung um.

Kurz, wir begeben uns in die unbequeme Vorstellung hinein, daß wir sagen: Ich will nicht nur ein Dreieck hinzeichnen und es so dann stehen lassen, sondern ich stelle an dein Vorstellen gewisse Anforderungen. Du mußt dir denken, daß die Seiten des Dreiecks fortwährend in Bewegung sind. Wenn sie in Bewegung sind, dann kann ein rechtwinkliges oder ein stumpfwinkliges Dreieck oder jedes andere gleichzeitig aus der Form der Bewegungen hervorgehen. Zweierlei kann man machen und auch verlangen auf diesem Gebiete. Das erste, was man verlangen kann, ist, daß man es hübsch bequem hat. Wenn jemand einem ein Dreieck aufzeichnet, dann ist es fertig, und man weiß, wie es aussieht; jetzt kann man hübsch ruhen in seinen Gedanken, denn man hat, was man will. Man kann aber auch das andere machen: Das Dreieck gleichsam als einen Ausgangspunkt betrachten und jeder Seite erlauben, daß sie sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten und nach verschiedenen Richtungen dreht. In diesem Falle hat man es aber nicht so bequem, sondern man muß in seinen Gedanken Bewegungen ausführen. Aber dafür hat man auch wirklich den allgemeinen Gedanken Dreieck darinnen; er ist ja nur nicht zu erreichen, wenn man bei einem Dreieck abschließen will. Der allgemeine Gedanke Dreieck ist da, wenn man den Gedanken in fortwährender Bewegung hat, wenn er versatil ist.“ (Lit.:GA 151, S. 9ff)

Literatur

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Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/latein-deutsch/conceptus
  2. https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/latein-deutsch/conceptio
  3. Eigenschaften und Merkmale nicht im Sinne von Wahrnehmungen, sondern in Form der ihnen entsprechenden Begriffe, also z.B. nicht das wahrgenommene Rot, sondern die Röte an sich als Begriff, der alle roten Farbtöne von anderen Farben abgrenzt.
  4. Goethe-BA Bd. 18, S. 528
  5. Goethe-BA Bd. 18, S. 642