Emergenz

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Als Emergenz (von lat. emergere „auftauchen, hervorkommen, sich zeigen“) wird heute das Phänomen bezeichnet, dass sich manche spontan und unvorhersehbar auftretenden Eigenschaften eines strukturierten Systems nicht allein aus seinen Teilen erklären lassen. Der österreichische Verhaltensbiologe Konrad Lorenz hatte statt dessen die Bezeichnung Fulguration (von lat. fulgurBlitz“) vorgeschlagen, um deutlich darauf hinzuweisen, dass dabei nicht bereits vorhandene, aber bisher verborgene Eigenschaften "auftauchen", wie die deutsche Übersetzung des Wortes Emergenz suggeriert, sondern tatsächlich spontan völlig neu entstehen. Emergente Eigenschaften zeigen sich nur, wenn das System auf einer höheren Organistationebene betrachtet wird, also ganzheitlich und nicht atomistisch. Sie weisen oft ein erstaunlich hohes Maß an Komplexität auf, obwohl die grundlegenden Prinzipien, die die Komponenten des Systems regeln, meist sehr einfach sind. Zu beachten ist dabei, dass die Eigenschaften der Teile, aus denen das Ganze gebildet wird, nicht allein durch sich selbst geben sind, sondern durch das System, in das sie eingbettet sind, mitbestimmt werden. Der Holismus geht heute davon aus, dass die einzelnen Elemente, in die sich ein System gliedert, das als „Ganzheit“ oder „Gestalt“ aufgefasst wird, durch die inneren Strukturbeziehungen vollständig bestimmt sind. Der Holismus steht damit im diametralen Gegensatz zu dem in den Naturwissenschaften heute noch überwiegend vertretenen Reduktionismus.

Auf die Übersummativität, nach der das Ganze mehr ist als seine Teile, hatte schon Aristoteles erstmals in philosophischer Klarheit hingewiesen:

„Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloss die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.“ (Lit.: Aristoteles, Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: 8-10.)

Rudolf Steiner betonte im Anschluss an Goethe, dass man den Naturphänomenen nicht gerecht wird, wenn man sie bloß quantitativ erfasst. Vielmehr müsse man auch das Qualitative beachten und lernen, in dem inneren Zusammenhang der Phänomene zu lesen.

„Kurz, worum es sich handelt, wenn die Goethesche Denkweise ausgebildet wird, das ist: stehenzubleiben innerhalb der Phänomene selbst. Ich möchte dafür einen trivialen Vergleich gebrauchen. Nehmen wir an, jemand bekommt ein aufgeschriebenes Wort vor sein Auge. Was wird er tun? Nun, wenn er nie lesen gelernt hat, wird er davor stehen wie vor etwas Unerklärbarem. Hat er aber lesen gelernt, so wird er unbewußt die einzelnen Formen zusammenfügen; er wird den Wortsinn in der Seele erleben. Aber er wird ganz gewiß nicht von den Formen aus, zum Beispiel beim W, etwas zu erklären versuchen, indem er den Ausgang nähme von dem nach aufwärts gehenden Strich, dann überginge zu dem nach abwärts gehenden, um dadurch auf etwas diesem Buchstaben Zugrundeliegendes zu kommen. Nein, er wird lesen - und nicht durch Unterlegungen erklären wollen. So möchte auch die Phänomenologie «lesen». Sie möchte innerhalb des Zusammenhanges der Phänomene stehenbleiben und lesen lernen, und nicht, wenn ich einen Komplex von Phänomenen habe, von ihm aus zurückgehen auf Atomstrukturen.

Es handelt sich also darum, das Feld des Phänomenalen hinzunehmen und in seiner eigenen inneren Bedeutung lesen zu lernen. Dadurch wird man dann zu einer Naturwissenschaft kommen, welche in ihren Inhalten nichts Rationalistisches, hinter den Phänomenen Konstruiertes hat, sondern welche einfach in der Art und Weise, wie sie die Phänomene überschaut, gewisse gesetzmäßige Strukturen findet. Überall wird dieser Naturwissenschaft eingegliedert sein die Summe der Phänomene selbst. Man wird auf eine bestimmte Art über die Natur reden. In dieser Art zu reden werden die Naturgesetze enthalten sein, aber überall werden in den Ausdrucksformen schon die Phänomene selber liegen. Man wird also das bekommen, was ich nennen möchte: eine den Erscheinungen immanente Naturwissenschaft. Nach einer solchen strebte Goethe. Die Art und Weise, wie er das betrieb, muß unter den Fortschritten der neueren Zeit verändert werden, aber es ist doch so, daß das Grundprinzip festgehalten werden kann.“ (Lit.:GA 81, S. 25f)

„Es wird keinem einfallen, auch einem Anthroposophen nicht, wenn er nicht laienhaft über diese Dinge spricht, bestreiten zu wollen, daß dies alles seine Berechtigung hat, namentlich dann, wenn man innerhalb der Phänomene stehen bleibt und sich bemüht, die Einzelheiten, zum Beispiel der Astronomie, in diesem Sinne aufzufassen. Keinem wird es einfallen, dagegen einen Kampf zu führen. Aber im Laufe des 19. Jahrhunderts trat das ein, daß- man bei dem, was die Welt darbietet, alles das übersah, was qualitativ ist, und nur das sah, was ja da ist und in allem Qualitativen drinnen ist: das, was durch die Mathematik zu erfassen ist. Da muß man unterscheiden: Man kann durchaus zugeben, daß diese mechanistische Welterklärung voll berechtigt ist; es ist gar nichts dagegen einzuwenden. Aber etwas anderes ist es, ob man sie auf bestimmten Gebieten als vollberechtigt erklärt oder ob man sie nun als das einzige mögliche Begriffssystem Eingestellt will und mit diesem Begriffssystem schon alles in der Welt für erklärt halten will.

Hier liegt der Differenzpunkt. Es wird durch den Anthroposophen nicht im geringsten das bestritten, was seine Berechtigung hat. Die Anthroposophie kämpft nämlich gar nicht gegen die anderen, und es ist interessant, bei Diskussionen zu verfolgen, wie Anthroposophie eigentlich alles innerhalb der berechtigten Grenzen zugibt. Es fällt den Anthroposophen gar nicht ein, das, was durch die Naturwissenschaft geltend gemacht wird, irgendwie zu bestreiten. Sondern es handelt sich darum, ob es berechtigt ist, das ganze Gebiet der Phänomene mit der mathematisch-kausalen Denkweise zu umfassen, oder ob es berechtigt ist, aus der Summe der Erscheinungen dasjenige herauszunehmen, was mathematisch-kausal eine reine Abstraktion ist, und es hinzustellen als einen «erdachten» Welteninhalt, wie es zum Beispiel der frühere Atomismus getan hat. Heute ist der Atomismus bis zu einem gewissen Grade schon phänomenologisch geworden, und bis zu diesem Grade geht Anthroposophie ganz gewiß mit. Aber es handelt sich darum, daß heute eben noch etwas hereinspukt von dem im 19. Jahrhundert so ungoetheschen Atomismus, der sich nicht beschränkte auf die Phänomene, sondern der ein reines Begriffssystem hinter den Phänomenen konstruierte. Und wenn man sich nicht klar darüber ist, daß man es doch nur mit einem Begriffssystem zu tun hat, das die Welt hinter den Erscheinungen sucht, sondern sich der Anschauung hingibt, man habe mit diesem Begriffssystem ein Reales ergriffen, so wird man durch dieses Begriffssystem gewissermaßen festgenagelt. Denn es ist die Eigentümlichkeit solcher Begriffssysteme, daß sie den Menschen festnageln. Er wird durch sie zum Dogmatiker, und dann sagt er: Da gibt es Leute, die wollen das Organische mit ganz anderen Begriffen erklären, die sie von ganz woanders her haben, aber das gibt es nicht; wir haben solche Begriffssysteme ausgebildet, die die Welt hinter den Erscheinungen umfassen, und die ist die einzige Welt und die muß auch das einzig Wirksame in bezug auf das Organische sein. - Aber auf diese Weise wird in die Betrachtung des Organischen das hineingetragen, was man für die Erscheinungen der unorganischen Natur ausgebildet hat; man sieht das Organische als auf dieselbe Art gebildet an wie die unorganische Natur.

Hier muß Klarheit geschaffen werden. Ohne diese Klarheit kann man niemals eine wirkliche Diskussionsgrundlage schaffen. Anthroposophie will durchaus nicht in dilettantischer Weise gegen berechtigte Methoden sündigen; sie will nicht sündigen gegen das Berechtigte des Atomismus, sondern sie will die Bahn frei haben für das Bilden von Gedankensystemen, wie sie früher für das Anorganische gebildet wurden und jetzt für andere Gebiete der Natur gebildet werden müssen. Das wird geschehen, wenn man sich sagt: In den Phänomenen will ich nur «lesen»; das heißt, das, was ich zuletzt über den Inhalt der Naturgesetze bekomme, liegt innerhalb der Phänomene selber - geradeso wie beim Lesen eines Wortes der Sinn in den Buchstaben selber liegt. Wenn ich recht liebevoll innerhalb der Phänomene stehenbleibe und nicht darauf aus bin, die Wirklichkeit irgendwie mit einem hypothetischen Gedankensystem zu durchsetzen, dann werde ich in meinem wissenschaftlichen Sinne frei bleiben für eine Weiterentwicklung der Begriffe. Und dieses Freibleiben ist das, was wir ausbilden müssen.“ (Lit.:GA 81, S. 28ff)

Die Emergenztheorie wurde namentlich von den britischen Philosophen Samuel Alexander (1859-1938) und Conwy Lloyd Morgan (1852-1936) entwickelt, welche die Bewusstseinsbildung als ein evolutionäres Phänomen ansahen, das sich biologisch nicht hinreichend erklären lasse. Ein weiterer wichtiger Vertreter der Emergenzphilosophie, dessen Erkenntnisse in der Philosophie des Geistes heute wieder zunehmend Beachtung finden, ist C. D. Broad (1887-1971).

Das Phänomen der Emergenz ist allerdings noch viel weiter zu fassen und nicht nur auf die Entstehung des Bewusstseins beschränkt.

„Zu den rätselhaftesten und doch grundlegenden Phänomenen des Universums gehört die Emergenz: das Auftreten neuer Eigenschaften auf jeder höheren Komplexitätsstufe, die sich auf der vorangehenden Stufe nicht vorhersehen lassen haben. Ein Beispiel: Von lebloser Materie lassen sich die Kennzeichen des Lebens nicht ableiten. Unabhängig davon, wie weit man die Forschung in Physik und Chemie treibt, wird man auf diesem Weg nie das spezifische Verhalten lebender Organismen vorhersagen können. Es scheint ein allgemeingültiges Prinzip zu sein, dass sich das (komplexere) Ganze nicht auf seine (einfacheren) Teile zurückführen lässt. Davon ausgenommen ist keine Stufe zunehmender Komplexität. Auf der Ebene der Atome: Bei einer isolierten Betrachtung der Wasserstoff- und Sauerstoffatome deutet nichts auf die Eigenschaften eines Wassermoleküls. Oder am Ende der Skala: Die Merkmale des Bewusstseins ergeben sich nicht aus der Extrapolation des Verhaltens.“ (Lit.: Kiefer, S. 33)

Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim charakterisieren Emergenz in ihrem 1948 veröffentlichten Artikel Studies in the Logic of Explanation[1] gemäß ihres deduktiv-nomologischen Modells wie folgt:

„Im Allgemeinen wurde das Konzept der Emergenz verwendet, um bestimmte Phänomene als "neu" zu charakterisieren, und das nicht nur im psychologischen Sinne als Unerwartetes, sondern im theoretischen Sinne als unerklärlich oder unvorhersehbar auf der Grundlage von Informationen über die räumlichen Teile oder anderer Bestandteile der Systeme, in denen die Phänomene auftreten, und die in diesem Zusammenhang oft als Ganzheiten bezeichnet werden. So wurden z.B. solche Eigenschaften wie die Transparenz und Liquidität von Wasser bei Raumtemperatur und Atmosphärendruck, oder seine Fähigkeit, Durst zu stillen, aus dem Grund als emergent angesehen, weil sie aus der Kenntnis der Eigenschaften seiner chemischen Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff nicht vorhergesagt werden konnten. Im Gegensatz dazu wurde das Gewicht der Verbindung nicht als emergent bezeichnet, da es als bloße "Resultante" seiner Bestandteile durch eine einfache Addition hätte vorhergesagt werden können, noch bevor die Verbindung gebildet wurde.“

„Generally speaking, the concept of emergence has been used to characterize certain phenomena as "novel", and this not merely in the psychological sense of being unexpected, but in the theoretical sense of being unexplainable, or unpredictable, on the basis of information concerning the spatial parts or other constituents of the systems in which the phenomena occur, and which in this context are often referred to as wholes. Thus, e.g., such characteristics of water as its transparence and liquidity at room temperature and atmospheric pressure, or its ability to quench thirst have been considered as emergent on the ground that they could not possibly have been predicted from a knowledge of the properties of its chemical constituents, hydrogen and oxygen. The weight of the compound, on the contrary, has been said not to be emergent because it is a mere "resultant" of its components and could have been predicted by simple addition even before the compound had been formed.“

Hempel, Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, S. 147

Robert Betts Laughlin, der 1998 den Nobelpreis für Physik für seinen Beitrag zur theoretischen Erklärung des fraktionellen Quanten-Hall-Effekts erhielt, ist zunehmend davon überzeugt, dass die uns bekannten Naturgesetze durch Emergenz erzeugt werden[2][3].

Emergente Phänomene sind irreduzibel und unvorhersagbar. Der Begriff „Emergenz“ gibt demgemäß nur einen Hinweis darauf, dass neue Phänomene erscheinen, liefert aber keine weitere Erklärung dafür, warum sie auftreten - er kann also nicht mehr als einen Anreiz für weitere Forschungen geben.

„Die Vorstellung, dass das Wort „Emergenz“ etwas erklären würde, ist weit verbreitet. Daher ist es von zentraler Bedeutung zu erkennen, dass „Emergenz“ lediglich als Auftrag verstanden werden darf, das mit ihm gekennzeichnete Problem zu lösen. Danach wird dieser Begriff überflüssig.“ (Lit.: Görnitz, S. 754)

Emergenz ist ein Zauberwort, das gern verwendet wird, um den Erklärungs- oder Reduktionslücken einen Namen zu geben. Wenn die Eigenschaften einer höheren Organisationsstufe von der nächsttieferen her nicht erklärt werden können, so sind sie eben emergent, was besagt: als etwas Neuartiges aufgetaucht, ohne dass wir wissen, wie.“ (Lit.: Falkenburg, S. 342)

Schädlich ist überdies ein inflationärer Gebrauch des Emergenzbegriffs, um voreilig Erklärungslücken zu schließen, die durch einen entsprechenden Forschungseinsatz sehr wohl mittels eines reduktionistischen Ansatzes zu überbrücken wären.

Das Gegenteil der Emergenz, das Verschwinden von Eigenschaften, wird als Submergenz bezeichnet. Tatsächlich ist die Emergenz neuer Phänomene in einem übergeordneten ganzheitlichen System stets mit einer Submergenz der Eigenschaften seiner Teile verbunden, die aber in dem höheren Ganzen gleichsam im Sinne Hegelsaufgehoben“ sind und bei der Zerteilung des Systems wieder in Erscheinung treten können. Darauf hatte schon Rudolf Steiner in seinen Ausführungen über die Ureiweißatmosphäre der Erde hingewiesen. Das Eiweiß sei nicht einfach aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff aufgebaut, sondern eine höher geartete Substanz:

„Heute denkt man sich überhaupt bei allem: es sei zusammengesetzt; aber das ist ein Unsinn. Dasjenige, was man als gewisse höher geartete Substanzen kennt, das ist nicht immer aus dem zusammengesetzt, was dann erscheint, wenn man es analysiert; sondern die Dinge hören auf, in der höheren Substanz darinnen zu sein. Der Kohlenstoff ist da drinnen nicht Kohlenstoff, der Sauerstoff nicht Sauerstoff und so weiter, sondern das ist eine höher geartete Substanz.“ (Lit.:GA 232, S. 74)

Diese Aussage entspricht dem Konzept der modernen Quantentheorie. Der Chemiker Hans Primas betonte daher:

„Wenn wir die Quantenmechanik für eine gute Theorie der Materie halten, dann ist die Aussage «Die Materie ist aufgebaut aus elementaren Bausteinen» naturwissenschaftlich falsch. Entscheidend ist nicht die Tatsache, dass die Atome der Chemiker weiter teilbar sind – das wäre eine triviale Nomenklaturfrage –, sondern dass die materielle Realität ein Ganzes ist, das überhaupt nicht aus Teilen aufgebaut ist.“ (Lit.: Primas, S. 50)

Da sich gegenwärtig viele Forscher dem Reduktionismus verpflichtet fühlen, wollen sie nur ein schwachen Form der Emergenz akzeptieren, d.h. eine nur vorläufigen Unerklärbarkeit emergenter Systeme aus ihren Elementen. Darin läge gerade die Aufgabe und der Fortschritt der Wissenschaft, dass sie immer mehr komplexe Phänomene auf elementare Grundlagen zurückführe - und das sei in der Vergangenheit auch immer wieder höchst erfolgreich gelungen. Das sei geradezu ein Beweis für die Fruchtbarkeit des Reduktionismus, dass aus elementaren Grundlagen auch hochkomplexe Phänomene emergieren könnten. Und nur so könne eine einheitliche (monistische) Wissenschaftsgrundlage geschaffen werden. So betonte etwa der Physiker und Nobelpreisträger (1969) Murray Gell-Mann:

„Wir müssen diese Prinzipien also nicht als eigenständige metaphysische Axiome annehmen. Sie folgen aus der grundlegenden Theorie. Sie sind was wir emergente Eigenschaften nennen. Man braucht nicht -- man braucht nicht noch etwas, um noch etwas zu bekommen. Das bedeutet Emergenz. Das Leben kann aus Physik und Chemie entstehen, plus eine Menge Zufälle. Der menschliche Geist kann aus Neurobiologie und einer Mene Zufälle entspringen, so wie chemische Verbindungen aus Physik und bestimmten Zufällen entstehen. Es schmälert nicht die Bedeutung dieser Fächer zu wissen, dass sie grundlegenderen Gesetzen folgen, und Zufällen. Das ist die allgemeine Regel und es ist von entscheidender Bedeutung, dass zu erkennen. Man braucht nicht etwas mehr, um etwas mehr zu bekommen.“

Murray Gell-Mann: Beauty and truth in physics, Vortrag im März 2007 in Monterey, Kalifornien video transcript

So einseitig das reduktionistische Bestreben auch ist, kann es dennoch, wenn es an seine Grenzen stößt, zugleich die beste Grundlage dafür schaffen, klar und deutlich jene Erscheinungen zu identifizieren die nun tatsächlich eine starken Form der Emergenz zeigen. Damit wird der Blick auf neue Seinsebenen mit eigenständigen Gesetzmäßigkeiten eröffnet, die grundsätzlich nicht auf jene der darunterliegenden Ebenen reduziert werden können und mit diesen zwar nicht in einer im physikalischen Sinn kausalen, sehr wohl aber in einer gesetzmäßigen ideellen Verbindung stehen. Ziel der Wissenschaft muss es dann sein, die eigenständigen Gesetzmäßigkeiten der höheren Seinsebenen mit ihnen gemäßen, noch zu entwickelnden bzw. weiterzuentwickelnden Methoden zu erforschen und ihren ideellen Bezug zu den unteren Daseinsebenen aufzuklären.

Emergente Phänomene müssen deswegen laut Hempel und Oppenheimer nicht als prinzipiell unerklärliche „Wunder“ hingenommen werden:

„Was seinen kognitiven Inhalt betrifft, so kann man die behauptete Emergenz der Phänomene des Lebens nun grob als elliptische Formulierung der folgenden Aussage ansehen: Bestimmte spezifizierbare biologische Phänomene können nicht mit Hilfe zeitgenössischer physikalisch-chemischer Theorien auf Grundlage der Daten über die physikalischen und chemischen Eigenschaften der atomare und molekulare Bestandteile von Organismen erklärt werden. Ebenso reduziert sich das sogenannte emergente Phänomen des Geistes auf die Behauptung, dass die heutige physikalische, chemische und biologische Theorien nicht ausreichen, um alle psychologischen Phänomene durch die Datengrundlage für die physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaften der Zellen oder der Moleküle oder Atome zu erklären, die die betreffenden Organismen bilden. Aber nach dieser Interpretation wir der emergente Charakter der biologischen und psychologischen Phänomene trivial; die Beschreibung verschiedener biologischer Phänomene erfordert Begriffe, die nicht im Vokabular der heutigen Physik und Chemie enthalten sind; daher können wir nicht erwarten, dass alle spezifischen biologischen Phänomene mittels der heutigen physikalisch-chemischen Methoden erklärbar, d.h. deduktiv ableitbar sind durch Theorien auf der Grundlage von Ausgangsbedingungen, die selbst ausschließlich in physikalisch-chemischer Begriffen beschrieben werden. Um eine weniger triviale Interpretation für die Behauptung zu erreichen, dass die Phänomene des Lebens emergent sind, müssen wir daher alle derzeit bekannten Gesetze in die Erklärung aufzunehmen, die die physikalisch-chemische mit der biologischen "Ebene" verbinden, d.h. die einerseits bestimmte physikalische und chemische Begriffe, einschließlich der zur Beschreibung von molekularen Strukturen erforderlichen, und andererseits bestimmte Konzepte der Biologie enthalten. Eine analoge Beobachtung gilt für den Fall der Psychologie. Wenn die Behauptung, dass Leben und Verstand einen emergenten Status haben, in diesem Sinn interpretiert wird, dann kann diese Annahme ungefähr durch die Aussage zusammengefasst werden, dass derzeit keine Erklärung, in Begriffen der Mikrostruktur-Theorien, für große Klassen von Phänomenen, die in Biologie und Psychologie studiert wurden, verfügbar ist.“

„As far as its cognitive content is concerned, the emergentist assertion that the phenomena of life are emergent may now be construed, roughly, as an elliptic formulation of the following statement: Certain specifiable biological phenomena cannot be explained, by means of contemporary physico-chemical theories, on the basis of data concerning the physical and chemical characteristics of the atomic and molecular constituents of organisms. Similarly, the so-called emergent status of mind reduces to the assertion that present-day physical, chemical and biological theories do not suffice to explain all psychological phenomena on the basis of data concerning the physical, chemical, and biological characteristics of the cells or of the molecules or atoms constituting the organisms in question. But in this interpretation, the emergent character of biological and psychological phenomena becomes trivial; for the description of various biological phenomena requires terms which are not contained in the vocabulary of present day physics and chemistry; hence we cannot expect that all specifically biological phenomena are explainable, i.e. deductively inferable, by means of present day physicochemical theories on the basis of initial conditions which themselves are described in exclusively physico-chemical terms. In order to obtain a less trivial interpretation of the assertion that the phenomena of life are emergent, we have therefore to include in the explanatory theory all those laws known at present which connect the physico-chemical with the biological "level", i.e., which contain, on the one hand, certain physical and chemical terms, including those required for the description of molecular structures, and on the other hand, certain concepts of biology. An analogous observation applies to the case of psychology. If the assertion that life and mind have an emergent status is interpreted in this sense, then its import can be summarized approximately by the statement that no explanation, in terms of micro-structure theories, is available at present for large classes of phenomena studied in biology and psychology.“

Hempel, Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, S. 151

Wäre alles Geschehen innerhalb der physischen Welt streng deterministisch, so wäre diese allerdings vollkommen in sich abgeschlossen und ausschließlich durch sich selbst bestimmt. Die starke Form der Emergenz wäre dann unmöglich. Nach den Ergebnissen der Quantentheorie ist aber ein durchgängiger Determinismus innerhalb der physikalisch fassbaren Welt nicht haltbar. Im Rahmen der Quantenmechanik sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über künftige Beobachtungen möglich, was nach der Kopenhagener Deutung bedeutet, dass das raum-zeitliche Verhalten eines mikrophysikalischen Systems grundsätzlich indeterminiert ist, dafür aber ein streng gesetzmäßig geordnetes Feld von Möglichkeiten eröffnet. Auch für die moderne Evolutionstheorie ist der - quantentheoretisch zu rechtfertigende - Zufall ein wesentlicher Faktor. Gerade dadurch eröffnet sich aber aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Ausblick auf höhere „emergente“ Weltebenen, die gesetzmäßig mit den untergeordneten Ebenen verbunden sind.

In der Anthroposophie werden folgende vier grundlegenden Weltebenen unterschieden:

Peter Heusser bemerkt dazu:

„Sucht man Wirklichkeit nicht nur im Wahrgenommenen, Erscheinenden, sondern anerkennt man im Sinne des ontologischen Universalienrealismus auch dessen Gesetzmäßigkeit als zu seiner Wirklichkeit dazugehörig, dann erscheint Monismus unter Beibehaltung der seinsmäßigen Verschiedenheit der Erscheinungswelt erreichbar. Denn das Gemeinsame (monistische) der verschiedenen (dualistischen) Erscheinungen muss dann nicht mehr auf der Erscheinungsseite erzwungen werden - was unmöglich ist-, sondern liegt auf der Gesetzesseite des Erkannten erfahrbar vor: Die Gesetze der psychischen und physischen Erscheinungen haben zwar ihren je verschiedenen, spezifischen Inhalt. Aber ihrer Form nach sind alle in derselben Weise Gesetze, bestehen also gewissermaßen aus derselben «Substanz». Diese ist reiner Geist, um mit Hegel zu sprechen.

Deswegen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Physischem und Geistigem nicht erst beim Gehirn-Geist-Problem, sondern bereits beim Physischen selbst (vgl. Kap. 3.2). Und da kann aufgrund des erkenntniswissenschaftlich Beobachtbaren zunächst nicht mehr und nicht weniger gesagt werden als: Die räumlichen Erscheinungen des Physischen erweisen sich als konstituiert von ihren Gesetzen, die zeitlichen Prozesse des Lebendigen erweisen sich als geprägt von den ihrigen, die psychischen Phänomene folgen psychologischen Gesetzen, und die im Denken erreichbaren rein geistigen Phänomene, der Inhalt der Gesetze selbst, folgt rein logischen Gesetzen bzw. ist logischer Natur. Das Konstitutive (Gesetzliche) jeder Schicht, der physischen, organischen, seelischen und geistigen, ist auf gleiche Weise im Denken erreichbar, aber die jeweiligen Erscheinungen können nur auf ganz verschiedenartigen Beobachtungswegen und auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen des Seins erreicht werden. Das gesamte Sein ist also seiner Erscheinung nach - nicht dualistisch, sondern multiperspektivisch, seiner gesetzmäßigen Essenz nach monistisch.“ (Lit.: Heusser, S. 191)

und weiter:

„Resultate dieses Vorgehens sind , dass jedem Phänomenbereich seine eigenen Eigenschaften und Gesetze zugesprochen werde können, die nicht aus denenigen anderer Phanomenbereiche ableitbar sind, dass nicht nur die Phänomene, sondern auch die sie bestimmenden Gesetze zur Wirklichkeit gehören, dass gegenseitige Abhängigkeit der Phänomenbereiche nicht nur Verursachung zu sein braucht, sondern auch Bedingung sein kann, dass Kausalität nicht nur Fremdverursachung, sondern auch Selbstverursachung bedeuten kann, kurz, dass verschiedene Formen von Wirksamkeit anerkannt und alle Phänomenbereiche der Wirklichkeit als epistemologisch und ontologisch gleichberechtigt angesehen werden müssen. Durch Integration der Erkenntnisse aus diesen Bereichen ergibt sich eine umfassende wissenschaftliche Sicht auf den Menschen in seiner komplexen physischen, lebendigen, seelischen und geistigen Realität, eine Sicht, die mit Recht eine «integrative» oder «Ganzheitsauffassung» genannt werden kann.“ (Lit.: ebd. S. 251)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Carl Gustav Hempel, Paul Oppenheim: Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), 135–175; reproduziert in Hempel, Aspects of Scientific Explanation; pdf
  2. Laughlin: Abschied von der Weltformel, S. 16.
  3. R. B. Laughlin: Emergent Relativity (PDF), In: Frontiers in Science. In Celebration of the 80th Birthday of C. N. Yang. World Scientific, Singapore 2003
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