Nervenzelle

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Aufbau einer Nervenzelle

Nervenzellen sind die strukturellen und funktionellen Grundeinheiten des Nervensystems. Ihre Bezeichnung als Neuron (von altgriech. νεῦρον neũron, deutsch ‚Flechse‘, ‚Sehne‘; ‚Nerv‘) geht auf Heinrich Wilhelm Waldeyer (1881) zurück. Die Nervenzelle ist eine auf Erregungsleitung und Erregungsübertragung spezialisierte Zelle, die als Zelltyp in Gewebetieren und damit in nahezu allen vielzelligen Tieren und beim Menschen vorkommt. Die Gesamtheit aller oft vielfältig miteinander vernetzter Nervenzellen bildet zusammen mit den Gliazellen das Nervengewebe bzw. Hirngewebe, aus dem sich das Nervensystem aufbaut.

Bildung und Aufbau

Schematischer Aufbau einer Wirbeltiernervenzelle im Detail
Morphologische Klassifizierung von Nervenzellen:
1. unipolare Nervenzelle
2. bipolare Nervenzelle
3. multipolare Nervenzelle
4. pseudounipolare Nervenzelle
Mikroskopische Aufnahme der Großhirnrinde einer Maus. Einige Neuronen wie die Pyramidenzelle mit großem Dendritenbaum in der Bildmitte exprimieren grün fluoreszierendes Protein.
Rot gefärbt sind GABA-produzierende Interneuronen zu sehen.
(Länge des Maßstabs unten rechts: 100 µm)
Zwei Purkinjezellen und fünf Körnerzellen aus dem Kleinhirn einer Taube
(gezeichnet von Santiago Ramón y Cajal, 1899)

Nervenzellen werden durch Neurogenese aus Stammzellen bzw. Vorläuferzellen gebildet. Bis in die 1990er Jahre ging man davon aus, dass die Neubildung von Nervenzellen beim Menschen spätestens mit der Pubertät aufhört. Später erkannte man, dass sich u.a. Riechzellen in gewissem Umfang neu bilden können. Vor allem aber entstehen im Hippocampus im Bereich des Gyrus dentatus auch im späteren Alter immer wieder neue Nervenzellen, was für das Langzeitgedächtnis bedeutsam sein dürfte.

Eine typische Säugetier-Nervenzelle hat einen Zellkörper, auch Perikaryon (von griech. περί peri ‚herum‘ und κάρυον ‚Kern‘) genannt, und Zellfortsätze zweierlei Art: die Dendriten und den Neuriten bzw. das Axon. Die verästelten Dendriten nehmen vornehmlich Erregung von anderen Zellen auf, sind also afferent (von lat. affere „hintragen, zuführen“) bzw. zentripetal. Der von Gliazellen umhüllte Neurit eines Neurons kann über einen Meter lang sein[1] und dient zunächst der Fortleitung einer Erregung dieser Zelle in die Nähe anderer Zellen, ist also efferent (von lat. effere „hinaustragen, hinausführen“) bzw. zentrifugal. Dabei wird eine Spannungsänderung über den Fortsatz weitergeleitet, indem kurzzeitige Ionenströme durch besondere Ionenkanäle in der Zellmembran zugelassen werden.

Neurone, die zwischen zwei oder mehr Nervenzellen geschaltet sind, um die Erregung zwischen diesen zu vermitteln, werden als Interneurone oder auch als Schaltneurone bzw. Zwischenneurone bezeichnet. Sie haben nur relativ kurze Axone. Insbesondere handelt es sich dabei um Neurone, die in polysynaptischen Reflexbögen zwischen den afferenten und efferenten Faschern vermitteln. Bei solchen Reflexbögen ist oft eine ganze Reihe von Neuronen auf wesentlich komplexere Weise miteinander verschaltet, wobei die afferenten und efferenten Fasern räumlich weit auseinander liegen können, weshalb man hier von Fremdreflexen spricht.

Die Axonenden der Neurone stehen über Synapsen, an denen die Erregung selten unmittelbar elektrisch weitergegeben, sondern meist mittels Botenstoffen (Neurotransmittern) chemisch übertragen wird, in Kontakt zu anderen Nervenzellen, Muskelzellen (neuromuskuläre Endplatte) oder zu Drüsenzellen. Einige Nervenzellen können auch Signalstoffe in die Blutbahn abgeben, z. B. modifizierte Neuronen im Nebennierenmark oder im Hypothalamus als Sekretion von Neurohormonen. Solche Neurone werden als neurosekretorische Zellen bezeichnet.

Schätzungen nach besteht das menschliche Gehirn aus knapp 100 Milliarden (1011) Nervenzellen und etwa ähnlich vielen Gliazellen.[2]

Es ist ein normaler Prozess, dass einige Nervenzellen im Laufe des Lebens absterben. Es wird geschätzt, dass ein gesunder Erwachsener täglich etwa 50.000 bis 70.000 Neuronen verliert. Dies ist ein natürlicher Teil des Alterungsprozesses und betrifft normalerweise nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtzahl der Neuronen im Gehirn.

Es gibt jedoch bestimmte Erkrankungen oder Verletzungen, die zu einem erhöhten Zellverlust im Gehirn führen können. Ein Beispiel dafür ist die Alzheimer-Krankheit, bei der der Verlust von Neuronen im Gehirn zu Gedächtnisproblemen und anderen kognitiven Beeinträchtigungen führen kann.

Es ist schwierig, die genaue Anzahl der synaptischer Verbindungen im menschlichen Gehirn zu bestimmen, da diese Zahl von vielen Faktoren abhängt, wie z.B. Alter, Geschlecht und individuellen Unterschieden. Es wird jedoch geschätzt, dass das menschliche Gehirn etwa 100 Billionen (1014) synaptische Verbindungen enthält. Diese synaptischen Verbindungen ermöglichen die Übertragung von Informationen zwischen Neuronen und sind entscheidend für die Verarbeitung von Informationen und die Steuerung von Körperfunktionen. Es ist wichtig zu beachten, dass die Anzahl der synaptischen Verbindungen im Gehirn im Laufe des Lebens durch Erfahrungen und Lernen beeinflusst wird und dass diese Verbindungen sich ständig ändern und neu formen können, was als synaptische Plastizität bezeichnet wird.

Morphologische Klassifizierung

Morphologisch lassen sich verschiedene Typen von Nervenzellen unterscheiden.

  1. Unipolare Nervenzellen, wie beispielsweise die primären Sinneszellen der Netzhaut (Stäbchen und Zapfen), verfügen nur über einen einzigen, relativ kurzen Fortsatz, bei dem es sich zumeist um das Axon handelt, und über keine Dendriten.
  2. Bipolare Nervenzellen haben zwei Fortsätze, einen Neuriten und einen Dendriten, und vermitteln die Reize von verschiedenen Sinneszellen des Sehsinns, des Gehörsinns und Gleichgewichtssinns, des Geruchs- und Geschmackssinns und des Tastsinns.
  3. Multipolare Nervenzellen besitzen ein Axon und eine Vielzahl von Dendriten und sind die am häufigsten vorkommenden Nervenzellen.
  4. Pseudounipolare Nervenzellen, wie man sie im Rückenmark findet, verfügen wie die bipolaren Nervenzellen über zwei Fortsätze, wobei aber das Axon und der Dendrit in unmittelbarer Nähe des Zellkörpers ineinander übergehen und die Erregung somit direkt ohne Umweg über den Zellkörper weitergeleitet wird.

Der grundsätzlich sensorische Charakter der Nervenzellen

Rudolf Steiner hat wiederholt nachdrücklich darauf hingewiesen, dass kein prinzipieller Unterschied zwischen den sog. motorischen und sensorischen Nerven bestehe. Durch vergleichende Untersuchungen zeigte auch wenig später der Physiologe Edgar Douglas Adrian (1889-1977), der 1932 gemeinsam mit mit Charles Scott Sherrington den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt, dass sich die grundlegende Nervenfunktion von sensorischen und motorischen Nerven nicht unterscheidet. Rudolf Steiner betonte entschieden, dass alle Nerven in Wahrheit sensorisch seien. Die Willenstätigkeit entstehe durch den unmittelbaren Eingriff des Astralleibs in das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System; die sogenannten motorischen Nerven nehmen nur die daraus resultierende Bewegung wahr.

„Eine andere greuliche Vorstellung lebt in unserer offiziellen, das heißt überall autoritativ geglaubten Wissenschaft. Diese Wissenschaft nimmt teil an der götzendienerischen Anbetung alles dessen, was als so hohe Kultur in der neueren Zeit heraufgezogen ist. Wie sollte nicht, wenn sie etwas besonders geheimnisvoll ausdrücken will, diese moderne Wissenschaft ihre Zuflucht zu dem nehmen, was sie jeweilig am meisten anbetet. Nun also, so ist ihr das Nervensystem geworden zu einer Summe von Telegraphenlinien, so ist ihr geworden die ganze Nerventätigkeit des Menschen zu einem merkwürdig komplizierten Telegraphenfunktionieren. Das Auge nimmt wahr, die Haut nimmt mit wahr. Da wird zu der Telegraphenstation Gehirn durch sensitive Nerven das hingeleitet, was von außen her wahrgenommen wird. Dann sitzt dort im Gehirn ein, ich weiß nicht was für ein Wesen - ein geistiges Wesen leugnet die neuere Wissenschaft ja ab -, durch ein Wesen also, das zur Phrase geworden ist, weil man nichts Wirkliches darin erblickt, wird das von den «sensitiven» Nerven Wahrgenommene umgesetzt durch die «motorischen» Nerven in Willensbewegungen. Und eingebleut wird dem jungen Menschen der Unterschied zwischen sensitiven Nerven und motorischen Nerven, und aufgebaut wird auf diesen Unterschied die ganze Anschauung über den Menschen.

Seit Jahren kämpfe ich gegen dieses Unding der Trennung zwischen sensitiven und motorischen Nerven, erstens, weil dieser Unterschied ein Unding ist, weil die sogenannten motorischen Nerven zu nichts anderem da sind als zu dem, wozu die sensitiven Nerven auch da sind. Ein sensitiver Nerv, ein Sinnesnerv, ist dazu da, daß er uns Werkzeug ist, um das wahrzunehmen, was in unserer Sinnesorganisation vorgeht. Und ein sogenannter motorischer Nerv ist kein motorischer Nerv, sondern auch ein sensitiver Nerv; er ist nur dazu da, daß ich meine eigene Handbewegung, daß ich meine Eigenbewegungen, die aus anderen Gründen heraus kommen als aus den motorischen Nerven, wahrnehmen kann. Motorische Nerven sind innere Sinnesnerven zur Wahrnehmung meiner eigenen Willensentschlüsse. Damit ich das Äußere, was sich in meinem Sinnesapparat abspielt, wahrnehme, dazu sind die sensitiven Nerven da, und damit ich mir nicht ein unbekanntes Wesen bleibe, indem ich selber gehe, schlage oder greife, ohne daß ich etwas davon weiß, dazu sind die sogenannten motorischen Nerven da, also nicht zur Anspannung des Willens, sondern zur Wahrnehmung dessen, was der Wille in uns tut. Das Ganze, was aus der neueren Wissenschaft geprägt worden ist aus dem vertrackten Verstandeswissen unserer Zeit heraus, ist ein wirklich wissenschaftliches Unding. Das ist der eine Grund, warum ich seit Jahren dieses Unding bekämpfe.“ (Lit.:GA 192, S. 154f)

„Ich habe gestern gesagt, daß unsere physiologische Wissenschaft in einem furchtbaren Irrtum befangen ist, in dem Irrtum nämlich, daß es zweierlei Nerven gebe, motorische und sensitive, während in Wahrheit alles sensitive sind und kein Unterschied besteht zwischen motorischen und sensitiven Nerven. Die sogenannten motorischen Nerven sind nur dazu da, daß wir innerlich unsere Bewegungen wahrnehmen, das heißt, daß wir sensitiv sind mit Bezug auf das, was wir selbst als Men­schen tun. Geradeso wie der Mensch mit dem sensitiven Augennerv die Farbe sich vermittelt, so vermittelt er sich die eigene Beinbewegung durch die «motorischen» Nerven, die nicht da sind, um das Bein in Bewegung zu setzen, sondern um wahrzunehmen, daß die Bewegung des Beines ausgeführt werde.“ (S. 172)

Dass die Nerven durchaus unterschiedliche Leitungsrichtungen (Efferenzen und Afferenzen) haben müssen, wird von Rudolf Steiner ausdrücklich betont - doch das hat nichts mit dem vorgeblichen Unterschied sensorischer und motorischer Nerven zu tun. Die Willenstätigkeit hat eben unmittelbar gar nichts mit dem Nervensystem zu tun, sondern nur mittelbar, indem es dazu dient, die durch den Willen bewirkte Bewegung wahrzunehmen.

„Ich will ganz absehen davon, daß ja schließlich die sensitiven von den motorischen Nerven anatomisch fast gar nicht zu unterscheiden sind; die einen sind höchstens etwas dicker als die anderen; aber in bezug auf die Struktur ist wirklich ein wesentlicher Unterschied nicht vorhanden. Was anthroposophische Forschung in dieser Beziehung lehrt - ich kann das nur andeuten, nur Ergebnisse mitteilen, ich müßte sonst anthroposophische Physiologie vortragen - , das ist dieses, daß die Nerven durchaus einheitliche Organe sind, daß es ein Unding ist, von zweierlei Nerven, von sensitiven und motorischen Nerven zu sprechen. Da im Seelischen das Willensmäßige und Empfindungsmäßige überall durchgebildet ist, stelle ich es jedem frei, motorisch oder sensitiv zu sagen, aber er muß einheitlich werten, denn sie sind absolut einheitlich, es gibt keinen Unterschied. Der Unterschied liegt nämlich nur in der Richtung der Funktion. Wenn der sensitive Nerv nach dem Auge hingeht, so öffnet er sich den Eindrücken des Lichtes, und es wirkt wiederum dasjenige, was an der Peripherie des Menschen liegt, auf einen anderen Nerv, den die heutige Physiologie als einen motorischen Nerv anspricht. Wenn er nun vom Gehirn ausgeht nach dem übrigen Organismus, so ist dieser Nerv dazu da, daß er dasjenige wahrnimmt, was bei einer Bewegung vorgeht. Eine richtige Behandlung der Tabes gibt schon auch durchaus Bestätigung dieses Resultates. Der Nerv also, der motorischer Nerv genannt ist, der ist dazu da, um die Bewegungsimpulse, das, was da während der Bewegung vorgeht, wahrzunehmen, nicht um der Bewegung den Impuls zu geben. Nerven sind überall die Vermittlungsorgane für die Wahrnehmungen, die sensitiven Nerven für die Wahrnehmungen nach außen, die sogenannten motorischen Nerven, die auch sensitive Nerven sind, für die Wahrnehmungen nach innen. Es gibt nur einen Nerv.“ (Lit.:GA 303, S. 208f)

„Es ist nach und nach üblich geworden, dem Nervensystem sozusagen alles Seelische aufzuhalsen und alles Seelisch-Geistige, das sich im Menschen vollzieht, in Parallelvorgänge aufzulösen, die dann im Nervensystem zu finden sein sollen. Nun wissen Sie, daß ich Einspruch erheben mußte gegen diese Art von Naturbetrachtung in meinem Buche «Von Seelenrätseln», in dem ich zunächst zu zeigen versuchte — und vieles, was beizubringen ist aus der Erfahrung zur Erhärtung dieser Wahrheiten, wird sich uns gerade bei diesen Betrachtungen ergeben —, daß nur die eigentlichen Vorstellungsprozesse mit dem Nervensystem zusammenhängen, während nicht in indirekter, sondern in direkter Weise alle Gefühlsprozesse zusammenhängen mit den rhythmischen Vorgängen im Organismus. Der heutige Naturwissenschafter denkt eigentlich normalerweise so, daß Gefühlsprozesse unmittelbar nichts mit dem rhythmischen System zu tun haben, sondern nur dadurch, daß sich diese rhythmischen Prozesse auf das Nervensystem übertragen, denkt er, daß sich das Gefühlsleben auch durch das Nervensystem auslebe. Und ebenso versuchte ich zu zeigen, daß das gesamte Willensleben direkt, nicht indirekt durch das Nervensystem, zusammenhängt mit dem Stoffwechselsystem. So daß für das Nervensystem auch in bezug auf die Willensprozesse nichts übrigbleibt als die Wahrnehmung dieser Willensprozesse. Durch das Nervensystem wird nicht irgendein Wille in Szene gesetzt, sondern dasjenige, was durch den Willen geschieht in uns, wird wahrgenommen. Alles dasjenige, was da von mir geltend gemacht worden ist, kann durchaus belegt werden mit den entsprechenden Tatsachen der Biologie, währenddem die entgegengesetzte Anschauung von der alleinigen Zuordnung des Nervensystems zum Seelenleben eben gar nicht belegt werden kann. Ich möchte nur einmal sehen, wie bei völlig gesunder Vernunft die Tatsache, daß man einen sogenannten motorischen Nerv durchschneidet, einen sensitiven Nerv durchschneidet, sie dann zusammenwachsen lassen kann und daß dann daraus wiederum ein einheitlicher Nerv entsteht, in Zusammenhang gebracht werden sollte mit der anderen Annahme, daß es sensitive und motorische Nerven gebe. Die gibt es eben nicht, sondern dasjenige, was man motorische Nerven nennt, sind nichts anderes als sensitive Nerven, die die Bewegungen unserer Glieder wahrnehmen, also dasjenige, was im Stoffwechsel unserer Glieder vor sich geht, wenn wir wollen. Wir haben also auch in den motorischen Nerven in Wahrheit sensitive Nerven, die nur in uns selber wahrnehmen, während die eigentlich sensitiv genannten Nerven die Außenwelt wahrnehmen.

In dieser Richtung liegt etwas, was für die Medizin von ungeheurer Bedeutung ist, was aber erst gewürdigt werden kann, wenn man den Tatbestand selbst ordentlich ins Auge fassen wird. Denn gerade den Krankheitserscheinungen gegenüber, von denen ich gestern zur Gewinnung des Beispiels der Tuberkulose ausgegangen bin, ist es ja schwer, mit der Teilung in sensitive und motorische Nerven auszukommen. Vernünftige Naturforscher haben daher schon angenommen, daß jeder Nerv eine Leitung habe nicht nur von der Peripherie nach innen oder umgekehrt, sondern immer auch eine Leitung von der Peripherie nach dem Zentrum, beziehungsweise von dem Zentrum nach der Peripherie. Ebenso würde dann jeder motorische Nerv zwei Leitungen haben, das heißt: wenn man vom Nervensystem aus irgend etwas erklären will, wie zum Beispiel die Hysterie, so hat man schon nötig, zwei Leitungen, die zueinander im entgegengesetzten Sinne laufen, anzunehmen. Also man hat, sobald man auf Tatsachen eingeht, durchaus schon nötig, solche Eigenschaften der Nerven anzunehmen, die eigentlich den Hypothesen über das Nervensystem vollständig widersprechen. Dadurch, daß man so über das Nervensystem denken lernte, hat man eigentlich alles das zugeschüttet, was man wissen sollte über dasjenige, was im Organismus sonst unter dem Nervensystem liegt, was zum Beispiel bei der Hysterie vorgeht. Wir haben es gestern charakterisiert durch Vorgänge im Stoffwechsel, was zum Beispiel bei der Hysterie vorgeht und was durch die Nerven bloß wahrgenommen wird. Man hätte auf das sehen müssen. Statt dessen hat man die Hysterie nur gesucht in einer Art Erschütterbarkeit und Erschütterung des Nervensystems allein und hat alles in das Nervensystem verlegt.

Dadurch ist noch etwas anderes gekommen. Man kann ja nicht leugnen, daß unter den etwas ferneren Ursachen der Hysterie auch seelische Ursachen liegen, Kummer, auch erlittene Enttäuschungen, irgendwelche erfüllbaren oder unerfüllbaren inneren Erregungen, die dann auslaufen in hysterische Erscheinungen. Damit, daß man gewissermaßen den ganzen übrigen Organismus vom Seelenleben abgetrennt hat und nur das Nervensystem mit dem Seelenleben in einen eigentlichen direkten Zusammenhang bringt, ist man genötigt, alles auf das Nervensystem abzuladen. Dadurch kam eine Anschauung heraus, die sich erstens dann nicht im allergeringsten eigentlich mehr mit den Tatsachen deckt und die zweitens gar keine Handhabe bietet, das Seelische noch heranzubringen an den menschlichen Organismus. Man bringt es eigentlich nur heran an das Nervensystem. Man bringt es nicht heran an den ganzen menschlichen Organismus. Höchstens dadurch, daß man eben motorische Nerven erfindet, die es gar nicht gibt, und daß man von den Funktionen der motorischen Nerven dann eine Beeinflussung der Zirkulation und so weiter erwartet, die nun immer im äußersten Maße zum Hypothetischen gehört.“ (Lit.:GA 312, S. 56ff)

Der ganze Leib bildet die Grundlage des Seelenlebens, nicht nur das Nervensystem. Dieses dient nur der Vorstellungsbildung. Das Gefühl hingegen hängt unmittelbar mit dem rhythmischen System zusammen und der Wille mit dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem. Die Sinneswahrnehmung und die Bewegungsfähigkeit hingegen hängen nicht in gleicher Weise mit dem Organismus zusammen, sondern ergreifen diesen von außen. In den Sinnen ragt die Außenwelt wie in Golfen in den Leib herein und in den Bewegungsvorgängen wirkt der Organismus in den Gleichgewichts- und Kräfteverhältnissen, in die er gegenüber der Außenwelt hineingestellt ist. Das Geistig-Seelische des Menschen, d.h. sein wirkliches Ich und der Astralleib, ergreift den belebten physischen Leib von außen. Und in jeder Tätigkeit, in jeder Bewegung wirkt das Karma, ganz entsprechend der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes (Sanskrit, n., कर्म, karman, Pali, kamma, „Wirken, Tat, Werk“), das nachwirkende Karma der Vergangenheit und das werdende Karma der Zukunft.

„Der Leib als Ganzes, nicht bloß die in ihm eingeschlossene Nerventätigkeit ist physische Grundlage des Seelenlebens. Und wie das letztere für das gewöhnliche Bewußtsein sich umschreiben läßt durch Vorstellen, Fühlen und Wollen, so das leibliche Leben durch Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechsel Vorgänge. - Sogleich entsteht da die Frage: wie ordnen sich in den Organismus ein auf der einen Seite die eigentliche Sinneswahrnehmung, in welche die Nerventätigkeit nur ausläuft, und wie die Bewegungsfähigkeit auf der andern Seite, in welche das Wollen mündet? Unbefangene Beobachtung zeigt, daß beides nicht in demselben Sinne zum Organismus gehört wie Nerventätigkeit, rhythmisches Geschehen und Stoffwechselvorgänge. Was im Sinn geschieht ist etwas, das gar nicht unmittelbar dem Organismus angehört. In die Sinne erstreckt sich die Außenwelt wie in Golfen hinein in das Wesen des Organismus. Indem die Seele das im Sinne vor sich gehende Geschehen umspannt, nimmt sie nicht an einem inneren organischen Geschehen teil, sondern an der Fortsetzung des äußeren Geschehens in den Organismus hinein. (Ich habe diese Verhältnisse erkenntniskritisch in einem Vortrag für den Bologner Philosophen-Kongreß des Jahres 1911 erörtert.) - Und in einem Bewegungsvorgang hat man es physisch auch nicht mit etwas zu tun, dessen Wesenhaftes innerhalb des Organismus liegt, sondern mit einer Wirksamkeit des Organismus in den Gleichgewichts- und Kräfteverhältnissen, in die der Organismus gegenüber der Außenwelt hineingestellt ist. Innerhalb des Organismus ist dem Wollen nur ein Stoffwechselvorgang zuzueignen; aber das durch diesen Vorgang ausgelöste Geschehen ist zugleich ein Wesenhaftes innerhalb der Gleichgewichts- und Kräfteverhältnisse der Außenwelt; und die Seele übergreift, indem sie sich wollend betätigt, den Bereich des Organismus und lebt mit ihrem Tun das Geschehen der Außenwelt mit. Eine große Verwirrung hat für die Betrachtung aller dieser Dinge die Gliederung der Nerven in Empfindungs- und motorische Nerven angerichtet. So fest verankert diese Gliederung in den gegenwärtigen physiologischen Vorstellungen erscheint: sie ist nicht in der unbefangenen Beobachtung begründet. Was die Physiologie vorbringt auf Grund der Zerschneidung der Nerven, oder der krankhaften Ausschaltung gewisser Nerven beweist nicht, was auf Grundlage des Versuches oder der Erfahrung sich ergibt, sondern etwas ganz anderes. Es beweist, daß der Unterschied gar nicht besteht, den man zwischen Empfindungs- und motorischen Nerven annimmt. Beide Nervenarten sind vielmehr wesensgleich. Der sogenannte motorische Nerv dient nicht in dem Sinne der Bewegung wie die Lehre von dieser Gliederung es annimmt, sondern als Träger der Nerventätigkeit dient er der inneren Wahrnehmung desjenigen Stoffwechselvorganges, der dem Wollen zugrunde liegt, geradeso wie der Empfindungsnerv der Wahrnehmung desjenigen dient, was im Sinnesorgan sich abspielt. Bevor nicht die Nervenlehre in dieser Beziehung mit klaren Begriffen arbeitet, wird eine richtige Zuordnung des Seelenlebens zum Leibesleben nicht zustande kommen.“ (Lit.:GA 21, S. 158f)

Das bestätigt auch der international bekannte Anatom Johannes W. Rohen, indem er zugleich auf die mit Denken (bzw. Vorstellen), Fühlen und Wollen zusammenhängende Dreigliederung des menschlichen Organismus hinweist. Allerdings geht Rohen - im entscheidenden Gegensatz zu Rudolf Steiner - von einer Steuerung der Muskelbewegungen durch das Nervensystem aus.

„Die efferenten Nerven (Motoneurone), die über die motorischen Endplatten direkt mit der Muskelmembran verbunden sind, können durch Überträgerstoffe (Acetylcholin usw.) den Natrium-Einstrom und damit die intrazelluläre «Überschwemmung» mit Ca-Ionen und nachfolgend die Kontraktion auslösen, sind damit aber nicht die Ursache der Bewegung. Diese ist vielmehr eine von den Stoffwechselvorgängen innerhalb der Muskelzellen abhängige, eigenständige Leistung, die vom Nervensystem geregelt und mit den Aktivitäten des gesamten Bewegungssystems harmonisierend in Einklang gebracht werden muss. Wenn z.B. eine Muskelgruppe sich kontrahiert, muss eine andere dilatiert werden, wenn es nicht zu Verkrampfungen oder Bewegungsstörungen kommen soll. Das Nervensystem hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, den Fluss der Bewegungsenergien zu steuern und zu harmonisieren, gewissermaßen Ordnung in das System zu bringen, ähnlich wie beim Straßenverkehr die Signallampen die Bewegungen der Verkehrsteilnehmer auslösen, aber natürlich nicht verursachen. Die Ursache der Bewegungen ist der Wille der Verkehrsteilnehmer, ein bestimmtes Ziel zu erreichen; die Verkehrsregeln und Signale dienen lediglich der Ordnung und Strukturierung des Gesamtgeschehens.

Entsprechend ... muss man daher den der Bewegung zugrunde liegenden Stoffwechselprozess als den eigentlichen Willensprozess, den von den «motorischen» (efferenten) Motoneuronen ausgelösten Vorgang jedoch als einen originär nervösen, d.h. informativen Prozess, ansehen. Mithilfe der efferenten, direkt mit der Muskulatur verbundenen Nerven können wir unsere Bewegungsvorstellungen in relativ großem Umfang willkürlich verwirklichen, nicht jedoch die Bewegung selbst ausführen. Natürlich ist der Muskel gelähmt, wenn der Nerv durchtrennt oder geschädigt wird, aber Bewegungsstörungen oder Lähmungen können auch auftreten, wenn die Stoffwechselprozesse innerhalb der Muskelzellen Funktionsstörungen aufweisen.

Zwischen der «Willensseite» und der nervalen oder «Vorstellungsseite» des Bewegungsgeschehens ist als drittes, harmonisierendes und ausgleichendes Element das Gefäßsystem, d.h. das rhythmische System (Atmung und Kreislauf) eingeschaltet, wodurch seelisch das Fühlen mit ins Spiel kommt. Jede Bewegung enthält daher nicht nur eine informative oder Vorstellungskomponente (Bewegungsbild) und ein Willenselement (Kraft- und Energieeinsatz), sondern auch eine Gefühlskomponente, durch die die Bewegung erst im eigentlichen Sinne menschlich wird.“ (Lit.: Rohen 2016, S. 245f.)

Rohens Darstellung ist zwar mit dem gegenwärtig in den akademischen Wissenschaften vertretenen Menschenbild kompatibel, steht aber im wesentlichsten und für die Anthroposophie entscheidensten Punkt in direkter Opposition zu Rudolf Steiner. Gerhard Kienle, der zunächst ähnliche Ansichten wie Rohen vertreten hatte, sagte dazu gegen Ende seines Lebens selbstktitisch:

„Inwieweit betreiben wir denn selbst Opposition gegen Rudolf Steiner? Diese Äußerungen Rudolf Steiners liegen jedem, der sich damit befaßt, schwer auf der Seele. Es gibt noch viele Rätsel, die gelöst werden müssen. Es heißt doch, daß man sich prüfen muß, ob nicht alles, was man selbst gemacht hat, vom Grundsatz her falsch ist. Diese Seelenprüfung rüttelt an den Grundfesten unseres Selbstbewußtseins. Wie kann man das Infragestellen aller eigenen Leistungen ohne Resignation ertragen? Rudolf Steiner verlangt, daß man die Erkenntnislage der naturwissenschaftlichen Medizin durchschaut, die Irrtümer aufdeckt und neue Konzepte entwickelt. Es müssen die anthropologischen und anthroposophischen Bilder des Menschen entsprechend dem Buch Von Seelenrätseln einander nähergebracht werden. Diese Leistungen zu erbringen, übersteigt den Rahmen unserer Persönlichkeit, man müßte ja Galilei, Paracelsus, Helmholtz und Virchow in einer Person sein! Aber genau dies - und noch mehr - erwartet Rudolf Steiner. Wer die Verhältnisse nüchtern anblickt, sieht sich in einer Zerreißprobe. Lebt man das aus, was man als die gewordene Persönlichkeit eben kann, dann gerät man in Opposition zu Rudolf Steiner, folgt man ihm, muß man über sich hinauswachsen - aber wie? Anthroposophisch-medizinische Forschung und das richtige Vertreten in der Öffentlichkeit gelingt uns doch wohl nur, soweit wir unter Aufbietung aller Anstrengungen die Grenzen unserer Persönlichkeit durchbrechen und den Verhältnissen etwas abringen, was eigentlich nicht geht.“

Gerhard Kienle: Anthroposophisch-medizinische Forschung und Öffentlichkeit (1982)[3]

Auch Peter Wyssling kritisiert in seinem Buch Rudolf Steiners Kampf gegen die motorischen Nerven Rohens Darstellung scharf:

„Der ganze Informations-Zauber der unvollständig „reduzierten“ Physiologie mit ihren neurokognitiven Neuronen muss herhalten - damit Rohen seine Weisheit der Unterscheidung von „Energieumsatz“ und „Steuerung“ als Anthroposophie verkaufen kann. Das zentrale Merkmal der Polemik Steiners, die Abrogation der auslösenden Nervenfunktion, wird von niemand Geringerem als dem Verfasser des Buches „Goetheanistische Gestaltlehre des Menschen“ ad absurdum geführt. Rohen operiert mit der Argumentation, dass Wille und Vorstellen deshalb zu unterscheiden sind, weil die Muskel-Energie ja nicht aus den motorischen Nerven stammen könne. Das hat zwar bis jetzt niemand behauptet, leuchtet aber einer unkritischen Leserschaft sofort ein - man denkt automatisch, dass die Wissenschaft diese Meinung vertrete. Das Problem wird aber damit auf ein Niveau verlagert, worüber die Berufskollegen Rohens wohl nur den Kopf schütteln könnten. Zwischen Leonardo da Vinci und Gerhard Kienle kam bis jetzt niemand auf den Gedanken, dass die motorischen Nerven die „Tankstelle“ der Muskeln sein könnten. Rohen arbeitet gegen Windmühlenflügel, um das Abc der zweierlei Nervensorten nicht preisgeben zu müssen.“ (Lit.: Wyssling, S. 258)

Rudolf Steiner selbst hat jedenfalls einen Kompromiss mit der allgemein populären Meinung und mit der materialistischen Wissenschaft, die ihre Grundlage bildet, dezidiert ausgeschlossen:

„Und immer wieder und wieder ist mir die Sehnsucht entgegengetreten, das, was heute aus der Wirklichkeit des Geistes heraus scharf geprägt werden muß, weil die Zeit es fordert, zur trivialen Phrase populär zuzurichten, damit die Menschen es doch verstehen können. Doch in dem Augenblick, wo man anthroposophische Wahrheiten zu trivialen Phrasen zuschneiden würde, da würden sie zu dem, was in der heutigen Zeit so billig ist: sie würden zur Phrase werden, würden zur Phrase werden, indem man sie zur Trivialität der Gasse oder zur Philistrosität der heutigen Wissenschaft herunterwürdigte. Immer wieder bin ich ermahnt worden, beides zu tun. Immer wieder hatte ich die Mühe, beides nicht zu tun, weder zur trivialen Phrase der Gasse das Anthroposophische herunterzudrücken - was man im heutigen Sinne popularisieren nennt -, noch auch konnte ich den andern Mahnungen folgen, für die wissenschaftlichen Leute so zu reden, daß sie es verstehen. Diese Ermahnungen kamen ja vielfach an mich heran. Nun, dann hätte ich so reden müssen, daß es ein Echo gefunden hätte bei dem wissenschaftlichen Unsinn der Gegenwart.“ (Lit.:GA 192, S. 158f)

In einer Fragenbeantwortung nach einem Vortrag in Stuttgart vom 15. Janur 1921 sagte Rudolf Steiner:

Frage: Wie kommt die Bewegung des Muskels zustande, da doch der motorische Nerv den Willensimpuls nicht auf den Muskel überträgt? Hat man da einen Zusammenhang mit dem Stoffwechselsystem zu sehen?

Rudolf Steiner: Über diese Frage hätte ich gerne, wenn es gegangen wäre, den fünften Vortrag gehalten, denn es ist eine Frage, die in unmittelbarem Anschluß an das steht, was ich in diesen vier Vorträgen auseinandergesetzt habe, nur muß diese Frage in der folgenden Weise behandelt werden:

Da ist angeführt worden, mehr oder weniger bloß richtunggebend, der Unterschied zwischen den sensitiven und den motorischen Nerven. Es ist betont worden, daß die sogenannten motorischen Nerven auch sensitive Nerven sind, nur ist ihre Aufgabe - das kann man sogar schon aus ihrem anatomischen Bau sehen -, nach innen zu empfinden, also dasjenige zu empfinden, was zum Beispiel einem Bewegungsvorgang zugrundeliegt, nicht diesen BewegungsVorgang selber zu impulsieren, sondern dasjenige zu empfinden, was ihm zugrundeliegt, was da geschieht im Stoffwechsel - der gehört ja immer zu einem Bewegungsvorgang dazu. Wenn man diese ganze Forschung über das Nervensystem verfolgt und dafür das Bild der drahtlosen Telegraphie heranziehen will, dann ist das nicht im Sinne der Geisteswissenschaft, das überläßt man anderen. Nicht wahr, in der Zeit, in der die Telegraphie heraufgekommen ist, hat man allerlei Vergleiche auch vom Telegraphenwesen hergenommen, um die zentripetalen und zentrifugalen Nerven zu vergleichen mit Telegraphen-Zuleitungen und -Wegleitungen und so weiter. Solche Vergleiche wendet Geisteswissenschaft nicht an. Sie will durchaus auf die Sache selbst eingehen und nicht mit Analogien spielen.

Es handelt sich um folgendes: Immer wenn vorliegt ein Nervenweg, der sich empirisch ausnimmt als Zuleitung, sagen wir zum Rückenmark oder Gehirn und seine Fortsetzung rindet im sogenannten motorischen Nerv, handelt es sich dabei immer darum - nehmen wir an zum Beispiel eine Reflexbewegung -, nach außen und nach innen zu empfinden; was der Nerv vermittelt, ist lediglich Empfindung, nur entweder von außen oder aus dem eigenen Leibesinneren. Und der Übergang, der gewöhnlich angesehen wird als Endpunkt der Zuleitung und [Anfangspunkt] der Impulsation, das ist lediglich dasjenige, was ich - und zwar nicht, indem ich ein Beispiel vom Telegraphenwesen her nehme - eine Umschaltung nennen möchte, wobei der ganze Vorgang innerlich seelisch erlebt wird. Da spricht man dann von etwas sehr Realem, wenn man sagt: Da springt etwas über, so wie etwa der elektrische Funke überspringt, wenn ich einen Telegraphendraht durchschneide. - Das ist dann der Vorgang, der sich abspielt in den sogenannten zentralen Nervenorganen.

Faßt man das zusammen, was sich da über die Natur des Nervensystems ermitteln läßt, dann wird das die Grundlage, um eben weiter nachzuforschen, wie es nun mit den Willensimpulsen steht. Das ist ja eine bloß hypothetische Theorie, daß das, was wir «Wille» nennen, in irgendeiner Weise repräsentiert wird durch den motorischen Nerv, der auch noch ein Sinnesnerv ist. Vielmehr wird man nun dazu geführt, gerade dadurch, daß man real die Phänomene versteht, das Verhältnis des Willen zu suchen zu ganz anderen Organen, als die Nerven sind. Dadurch aber kommt man dazu, gerade dasjenige zu studieren, was so vielfach angefeindet wird - die höheren Glieder der Menschennatur; man kommt dazu, zu sehen, wie der Wille durchaus nicht verstanden werden kann, wenn man ihn in demselben Verhältnis zur Materialität nimmt, wie man zum Beispiel die Vorstellungen im Verhältnis zur Materialität nimmt. Man lernt in der Betrachtung des Willens dann etwas kennen, was im wesentlichen geistig angeschaut werden muß, während das Vorstellungsleben wirklich im materiellen Zusammenhang darinnensteht. Während für die Vorstellungsstrukturen durchaus parallelgehend die Gehirnstrukturen aufgewiesen werden können, kann man das für das Willensleben nicht in derselben Weise. Man muß allerdings, wenn man die materiellen Korrelate finden will, Stoffwechselvorgänge suchen, aber man wird zu ganz anderen Erkenntnissen geführt, die dann hinaufleiten zu geistiger Anschauung. So ungefähr kann hier die Antwort auf die Frage gefaßt werden.

Es schockiert ja etwas, wenn man gerade das Vorstellungsleben, das seit der scholastischen Philosophie als das Geistige im Menschen angesehen wird, so ansehen muß, daß es in seiner Struktur am nächsten steht dem materiellen Leibesleben - obwohl es sich nur darauf stützt, wie ich es in diesen Vorträgen angeführt habe. Aber es ist eben so. Dagegen wird man in eine wesentlich geistigere Region geführt, wenn man das Gefühlsleben mit seinen Strukturen betrachtet. Da hängt alles so innig zusammen mit dem rhythmischen Leben der Leiblichkeit. Und dann wird man in die Region des Stoffwechsels geführt, wenn es sich um den Willen handelt; aber in Wahrheit handelt es sich um eine Beherrschung des Stoffes durch geistige Kräfte, die man in unmittelbarer Anschauung vor sich hat, wenn man sich so hinauferhebt zu dem, was der Wille ist - ungetäuscht durch die motorischen Nerven. Man sieht, wie der Wille nicht in so differenzierter Weise eingreift in die materielle Welt wie das Vorstellungsleben.

Ich erinnere mich an eine Diskussion, die sich anschloß an den Vortrag eines richtigen, handfesten Materialisten. Er hatte das ganze Vorstellungsleben aus dem Gehirn heraus erklärt, so daß zuletzt nichts übrigblieb vom Vorstellungsleben, denn er hatte eigentlich nur Gehirnvorgänge geschildert, diese aber sehr gut geschildert, und dann auch auf die Tafel Figuren gezeichnet, die sich nun wiederum der Vorsitzende, der ein handfester Herbartianer war, angeschaut hat. Dieser sagte nun, er sei kein solcher Materialist wie der Vortragende, aber wenn er nun aus seiner Herbartschen Lehre heraus die Vorstellungsverküpfungen und Vorstellungsverdrängungen aufzeichnen würde, so würden die Figuren geradeso werden wie bei dem materialistischen Vortragenden. Also wenn ein ganz entschiedener Gegner des Materialismus die Vorstellungsstrukturen zeichnet, dann kommen dieselben Figuren heraus wie bei dem Materialisten, der eben nur dasjenige aufzeichnet, was er aus Meynert gelernt hat über Nervenphasen, Nervenzentren und so weiter.

Daraus aber kann man anschaulich ersehen, wie ähnlich wird dasjenige, was man im Herbartschen Sinne als Phänomene und Verbindung der Phänomene verfolgen kann im reinen Vorstellungsleben, und dasjenige, was dann jemand auf die Tafel zeichnet, der davon absieht und das Gehirn beschreibt mit Meynertschen oder ähnlichen Hypothesen. Das können Sie mit dem Gefühlsleben nicht so machen, am wenigsten aber mit dem Willensleben. Da müssen Sie zu Dingen gehen, die anschaulich gemacht werden, aber geistig anschaulich gemacht werden, aber nicht so, wie das, was man eben in unmittelbarer Verknüpfung mit dem materiellen Leben aufzeichnen kann.“ (Lit.:GA 73a, S. 349ff)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks

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Einzelnachweise

  1. Im menschlichen Körper findet man die längsten Neuriten bei Motoneuronen im Vorderhorn des Rückenmarks, die von dort Impulse zur Muskulatur der distalen unteren Extremität leiten, beispielsweise vom Rückenmarkssegment S1 zu Muskelfasern des kurzen Beugers der Großzehe. Diesen Muskel innervierende Nervenfasern verlaufen in Nerven des peripheren Nervensystems (über sakrale Spinalnerven| zum Plexus lumbosacralis, anschließend im Ischiasnerv (N. ischiadicus), nach dessen Aufgabelung im N. tibialis und nach dessen Aufzweigung dann im Nervus plantaris medialis, wenn sie Muskelfasern des medialen Kopfs des kurzen Großzehenbeugers versorgen). Annähernd ebenso lange Fortsätze einer Nervenzelle finden sich in Bahnen des zentralen Nervensystem, als Neuriten von Pyramidenzellen in der Rinde des Großhirns, die von dort über Pyramidenbahnen zu Rückenmarksabschnitten ziehen, und beispielsweise im Sakralsegment S2 enden.
  2. Nach Ergebnissen von Azevedo und Team 2009 wird die Zahl an Nervenzellen im Gehirn eines männlichen erwachsenen Menschen auf etwa 86 ± 8 Milliarden geschätzt, die an Gliazellen auf etwa 85 ± 10 Milliarden; der Präzisionsgrad des verwendeten Verfahrens – Zählung immunohistochemisch markierter NeuN(+)- bzw. NeuN(-)-Zellen aus fraktionierten Gewebeproben (als isotroper Fraktionator) – kann nach Lyck und Team 2009 noch nicht sicher angegeben werden, es scheint laut Bahney und v. Barthfeld 2014 jedoch zumindest für Gliazellen valide.
  3. Gerhard Kienle: Anthroposophisch-medizinische Forschung und Öffentlichkeit, in: Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Nr. 143, Ostern 1983 pdf


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