Vorsokratiker

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Antike griechische Städte an der Westküste der heutigen Türkei
Antike griechische Städte in Süditalien

Als Vorsokratiker werden diejenigen griechischen Philosophen der Antike bezeichnet, die vor Sokrates (470–399 v. Chr.) gewirkt haben oder von dessen Philosophie noch nicht beeinflusst waren. Mit ihnen begann die abendländische Philosophie. Sie lebten im Zeitraum von etwa 600 bis 350 v. Chr. Die Zentren der vorsokratischen Philosophie waren die griechischen Städte im Westen Kleinasiens und in Süditalien.

Von den zahlreichen Schriften der Vorsokratiker ist keine einzige zur Gänze erhalten. Fast alles, was heute über ihr Leben und ihre Lehren bekannt ist, geht aus Schriften späterer antiker Autoren hervor, die entweder Äußerungen von Vorsokratikern zitieren oder deren Lehren zusammenfassend beschreiben oder kritisieren. Die wichtigsten dieser Autoren sind Aristoteles, der die Vorsokratiker als „Naturgelehrte“ (griechisch φυσικοί) bezeichnete, Theophrastos von Eresos, der in seinen Lehren der Naturphilosophen (Φυσικῶν δόξαι) erstmals umfassend die Konzepte der Vorsokratiker darstellte, und der Philosophiehistoriker Diogenes Laertios.

Ein Hauptthema der Vorsokratiker war die Frage nach dem Ursprung aller Dinge, nach der archē, die sie unterschiedlich beantworteten. Weitere Themengebiete waren Ethik, Theologie und Politische Philosophie. Zahlreiche Vorsokratiker betrieben auch Mathematik und Naturwissenschaften.

Begriffsgeschichte

In der Antike wurden die heute als Vorsokratiker bezeichneten Philosophen „erste Philosophen“[1] oder „Naturphilosophen“[2] genannt. Der Ausdruck „Vorsokratiker“ hat sich aus dem im Mittelalter gebräuchlichen lateinischen Ausdruck ante Socratem entwickelt und wurde das erste Mal 1788 verwendet.[3] Der Grund für diese Begriffsbildung war, dass das Auftreten des Sokrates einen radikalen Einschnitt in der antiken Philosophiegeschichte bedeutete (Sokratische Wende). Dies wurde schon in der Antike so gesehen; bekannt ist die Äußerung Ciceros, Sokrates habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt.[4] Im 19. Jahrhundert, seit Schleiermacher, wurde der Ausdruck Vorsokratiker in der philosophiegeschichtlichen Forschung allgemein gebräuchlich. Endgültig etabliert wurde er, als Hermann Diels 1903 Die Fragmente der Vorsokratiker herausgab.[5]

Geschichte

Die Einteilung der vorsokratischen Philosophen in Gruppen oder Schulen wird von verschiedenen Philosophiehistorikern nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen und variiert daher. Eine umfassende Liste der Vorsokratiker und der Personen ihres Umfelds findet sich bei Hermann Diels.[6]

Sieben Weise

Die legendären Sieben Weisen von Griechenland können als Vorgänger der Vorsokratiker angesehen werden. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von als weise geltenden Männern, die großenteils Politiker und teils auch Gelehrte und Philosophen waren. Wer dieser Gruppe angehörte, ist nicht eindeutig überliefert; in den Quellen werden über zwanzig Namen genannt. Sicher ist zumindest, dass der traditionell als erster Philosoph betrachtete Thales dazugehörte. Von den Sieben Weisen sind zahlreiche Weisheitssprüche überliefert, wie etwa „Erkenne Dich selbst“, „Ehre den Älteren“, „Halte Maß“, „Den rechten Augenblick erkennen“ und „Die meisten sind schlecht“.[7]

Milesier

Hauptartikel: Thales, Anaximander und Anaximenes

Die damals von Griechen besiedelte Westküste der heutigen Türkei war der Entstehungsort der westlichen Philosophie. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. begannen milesische Philosophen, rationale und wissenschaftliche Erklärungen neben das zeitgenössische, von Mythen und Göttern geprägte Weltbild zu stellen. So soll der erste Philosoph, Thales, nicht nur Mathematik betrieben, sondern auch eine Sonnenfinsternis vorhergesagt und versucht haben, die Überschwemmungen des Nils naturwissenschaftlich zu erklären. Aristoteles rückt in seinem Bericht über die Vorsokratiker in den Vordergrund, dass nach einem letzten Grund oder ersten Anfang aller Dinge (archē) gesucht wurde. Für Thales war das „Wasser“ der Urstoff, für seinen Schüler Anaximander war es hingegen das immaterielle „Unbegrenzte“ oder „Unendliche“ (apeiron). Anaximenes, der dritte prominente Milesier, setzte die „Luft“ an den Beginn. Innerhalb der Philosophiegeschichte werden die Milesier auch als „ältere ionische Naturphilosophen“ bezeichnet.

Pythagoreer

Pythagoras (Herme, um 120)
Hauptartikel: Pythagoras und Pythagoreer

Pythagoras von Samos gründete im 6. Jahrhundert v. Chr. in der griechischen Kolonie Kroton, dem heutigen Crotone in Süditalien, die philosophische Gemeinschaft der Pythagoreer, die sich auf andere süditalienische Griechenstädte ausbreitete und auch politisch betätigte. Die Pythagoreer suchten nicht wie andere Vorsokratiker nach einem Urstoff, sondern befassten sich mit Zahlen und mathematischen Verhältnissen, in denen sie den Schlüssel zu einer umfassenden Welterklärung sahen. Dabei gingen sie davon aus, dass die Grundprinzipien des Universums an Maß, Zahl und Proportion abzulesen seien und so durchschaubar würden. Ein oft genanntes Beispiel ist der Ton einer schwingenden Saite eines Musikinstruments. Durch Veränderung der Saitenlänge in mathematischen Proportionen ergeben sich harmonische Tonveränderungen. Die Pythagoreer nahmen an, dass die Gegensätze im Kosmos durch Harmonie zusammengehalten werden. Das Verhältnis der Zahlen zu physischen Objekten wurde in der pythagoreischen Tradition ontologisch unterschiedlich aufgefasst; das Spektrum der Deutungen reichte von einer Prinzipbestimmung durch das Zahlenverhältnis bis zu der Ansicht, dass die Welt tatsächlich aus materiellen Zahlen bestehe.[8]

Pythagoras gilt als der abendländische Begründer der Zahlentheorie und der Entdecker der musikalischen Harmonielehre. Die Erzählung von Damon und Phintias, aus der Schiller den Stoff zur Bürgschaft entnahm, und der Bericht, dass Platon, der am Hof des Tyrannen Dionysios II. von Syrakus in Schwierigkeiten geraten war, die Erlaubnis zur Abreise einer Intervention des Pythagoreers Archytas von Tarent verdankte,[9] verdeutlichen die Bedeutung der Freundestreue bei den Pythagoreern. Der Pythagoreismus entwickelte sich zu einer der einflussreichsten Größen im griechischen Denken.[10] Das pythagoreische Denken beeinflusste insbesondere Platon und Euklid. Die heutige naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt durch Zahlen und mathematische Formeln hat hier einen Vorläufer. Es waren Pythagoreer wie Philolaos und Hiketas, die als erste die Erdrotation annahmen und das damals herrschende geozentrische Modell des Universums ablehnten (allerdings ohne es durch ein heliozentrisches Weltbild zu ersetzen). Auf ihre Auffassungen griff Kopernikus zurück, als er in antiken Quellen nach Belegen für eine frühe Ablehnung des geozentrischen Weltbildes suchte.[11]

Xenophanes

Hauptartikel: Xenophanes

Xenophanes von Kolophon (lang * Parameter unbekannt: 'prefix' in Template:lang; * um 580/570 v. Chr. in Kolophon, Ionien; † im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. in Süditalien) war ein antiker griechischer Philosoph und Dichter. Er wird zu den Vorsokratikern gezählt.

Heraklit

Heraklit, Detailansicht aus Raffaels Schule von Athen (1510–1511)
Hauptartikel: Heraklit

Mit Heraklit erreichte die vorsokratische Philosophie ihren ersten Höhepunkt.[12] Gebürtig aus Ephesos, ist er formal zu den ionischen Philosophen zu zählen. Seine Denkform wurde als polar[12], dialektisch und paradox bezeichnet. Die von ihm gewählten Worte haben eine „doppelwendige Gravitation“.[13] Die von Heraklit überlieferten literarischen Bruchstücke sind sentenzenähnliche Sätze, die sich als Gnome zeigen. Unter Berücksichtigung seines bereits in der Antike gebräuchlichen Beinamens „der Dunkle“ legt dies nahe, dass Heraklit eine Art Rätselsprache verwendete.

Kennzeichnend für seine Philosophie ist die verborgene Einheit von Gegensätzen, die Identität im Gegensatz. Heraklit führt an, dass dasselbe sich übergangslos als ein anderes zeigt, seine Aspekte völlig wechselt, beziehungsweise ganz verschieden, ja entgegengesetzt aussieht. Zur Verdeutlichung knüpft er in seinen Texten an zeitliche Sukzessionen, insbesondere an plötzliche, jähe Umschläge der Phänomene an. In Heraklits Augen zeigt sich hieran, dass das andere schon immer mit da, auch ohne die Veränderung mitgegenwärtig ist. So betont er den konstitutiven Charakter der jeweils gegenläufigen Kräfte. Durch diese Betrachtungen richtet sich der Blick Heraklits sowohl auf den Kosmos und seine Objekte, als auch auf den Menschen, sein Bewusstsein, sein Denken und seine Sprache. Dem ständigen Wechsel des Werdens liegt nach Heraklit die eine und ewige Gesetzmäßigkeit zugrunde, die er logos nennt. Er ist das eigentlich Beständige. Das „Feuer“ ist das eigentliche Symbol dieses Prinzips. Es ist nicht wie in der älteren ionischen Philosophie als Grundstoff, sondern als das feinste, das geistähnlichste zu sehen. Es stellt die universale Struktur alles Seins dar, letztendlich das eigentliche Rätsel des Denkens selbst. Weitere Symbole sind der „Blitz“ für den plötzlichen Umschlag, der „Streit“ oder „Krieg“ für das Weltprinzip des Spannungsverhältnisses der gegensätzlichen Kräfte und der „Traum“ für den allgemeinen Unverstand. Insgesamt folgen aus seinen Grundgedanken Ansätze zu verschiedenen philosophischen Disziplinen. Heraklit begründete keine eigene Schule. Seine Philosophie wurde aber bereits in der Antike, beispielsweise von Kratylos, den Platon hörte, aufgegriffen und hat spätere Philosophen bis in unsere Zeit beeinflusst. Die Hochschätzung seiner Lehre erneuerten besonders Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger.

Eleaten

Parmenides (Herme, 1. Jahrhundert)
Hauptartikel: Eleaten

Die Eleaten, deren Schule in der antiken Hafenstadt Elea an der westitalienischen Küste beheimatet war, waren Philosophen, die die Lehre von der Einheit und Unveränderlichkeit des Seienden vertraten und die Existenz der Vielheit, der Bewegung und des Werdens ableugneten. Einer der prägenden Gegensätze der antiken Philosophie war der zwischen den Lehren der Zeitgenossen Heraklit und Parmenides. Parmenides hielt alles Werden für Schein, die wirkliche Welt selbst (aletheia) war für ihn und für die von ihm begründete eleatische Schule ein unvergängliches und unveränderliches Sein.

Ob Parmenides und Heraklit voneinander wussten, ist unbekannt. Zur eleatischen Schule zählen auch Zenon von Elea, der vor allem für seine Paradoxa bekannt ist, und Melissos. Fälschlicherweise wird die Gründung der Schule oft Xenophanes von Kolophon zugeschrieben. Dieser hat sich zwar in Elea aufgehalten, wird aber heute nicht mehr zu den Eleaten gezählt. Xenophanes ist vor allem bekannt für seine Kritik an den Göttervorstellungen seiner Zeitgenossen – er vertrat das Konzept eines obersten, nicht anthropomorphen Gottes, ohne die Existenz untergeordneter Götter zu bestreiten (Henotheismus, nicht Monotheismus). Mit dem vielzitierten Satz: „Wenn die Pferde Götter hätten, sähen diese wie Pferde aus“ und ähnlichen Äußerungen wandte er sich gegen anthropomorphe und kulturspezifische Göttervorstellungen.

Anaxagoras

Hauptartikel: Anaxagoras

Anaxagoras (lang * Parameter unbekannt: 'prefix' in Template:lang; * um 499 v. Chr., wahrscheinlich in Klazomenai; † 428 v. Chr., wahrscheinlich in Lampsakos) war ein Vorsokratiker aus Klazomenai in Kleinasien. Sein nur in Fragmenten und hauptsächlich von Aristoteles überliefertes philosophisches Denken wird als Zusammenführung der Ansätze Heraklits und der Eleaten gedeutet.[14] Mit Anaxagoras gelangte die ionische Aufklärung nach Athen, denn dort verbrachte er die wichtigsten Jahrzehnte seines Lebens und stand dem leitenden Staatsmann Perikles als philosophischer Lehrer und Berater nahe.[15] Auch der Tragödiendichter Euripides ließ sich von ihm in das philosophische Denken und Forschen einführen. Als Mathematiker beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Quadratur des Kreises.

Empedokles

Hauptartikel: Empedokles

Empedokles (altgriech. Ἐμπεδοκλῆς Empedoklḗs; * um 495 v. Chr. in Akragas, dem heutigen Agrigent auf Sizilien; † um 435 v. Chr. wohl auf der Peloponnes) war ein antiker griechischer Philosoph, Naturforscher, Politiker, Redner und Dichter. Unklar ist, ob die Behauptungen zutreffen, wonach er sich auch als Arzt, Magier und Wahrsager betätigte. Zahlreiche Geschichten über sein Leben und seinen Tod tragen legendenhafte Züge. Als Politiker war er in seiner Heimatstadt Akragas umstritten und musste ins Exil gehen, aus dem er nicht mehr zurückkehrte.

Als Vorsokratiker war Empedokles vom Gedankengut bedeutender Strömungen seiner Zeit, der Pythagoreer und der Eleaten, beeinflusst, konzipierte aber ein eigenständiges Weltmodell. Seine Philosophie ist in seinen beiden nur fragmentarisch erhaltenen Gedichten – dem Lehrgedicht „Über die Natur“ und den „Reinigungen“ – dargelegt. Wie bei den vorsokratischen Naturphilosophen üblich, befasste er sich mit der Frage der Weltentstehung (Kosmogonie) und versuchte, die Ordnung und Beschaffenheit des Weltalls zu klären (Kosmologie). In diesem Zusammenhang entwickelte er eine von mythischem Denken geprägte physikalische und biologische Theorie, zu der auch eine Vorstellung von der Entstehung des Lebens auf der Erde und der Evolution der Lebewesen gehörte. Er führte die Lehre von den vier Urstoffen Luft, Feuer, Erde und Wasser ein. Diese Vier-Elemente-Lehre wurde für das naturwissenschaftliche Weltbild der Antike maßgeblich und beeinflusste bis ins 19. Jahrhundert auch die Medizin.

Philolaos

Hauptartikel: Philolaos

Philolaos (griechisch Φιλόλαος; * wohl um 470 v. Chr.; † nach 399 v. Chr.) war ein antiker griechischer Philosoph (Pythagoreer). Er war ein Zeitgenosse des Sokrates, wird aber wegen seiner Denkweise zu den Vorsokratikern gezählt. Platon war maßgeblich von Philolaos beeinflusst, was seinen Niederschlag im Timaios fand.

Atomisten (jüngere ionische Naturphilosophen)

Unbekannter Philosoph, möglicherweise Demokrit
Hauptartikel: Atomismus

Bei der Deutung des Ursprungs und der Zusammensetzung der Dinge denken die Atomisten als notwendiges Letztes kleine Teilchen. Damit wurde in erneuter Ausarbeitung des archē-Gedankens der Urstoff abstrakt, nämlich als feine unsichtbare Materie bestimmt, die denkerisch zu erfassen ist. Dieser allen mechanischen oder materialistischen Weltanschauungen (siehe beispielsweise die Korpuskeltheorie) zugrundeliegende Gedanke, ist klar zuerst von den Atomisten ausgesprochen worden. Begründer der Schule sind Leukipp aus Milet und sein Schüler Demokrit von Abdera. Wesentlich ist einerseits die Behauptung, dass der materielle Teilungsprozess an Körpern von endlicher Größe seine untere Grenze findet und andererseits daraus folgend, dass das Leere ein inneres Aufbaumoment der Körperwelt ist. In Vermittlung der Gegensätze der eleatischen und heraklitischen Philosophie setzen die Atomisten anstelle des unveränderlichen Seins die ursachlosen und ewigen Atome, anstelle des Nichtseins die Leere, anstelle der Unbeweglichkeit die Bewegung und anstelle der Einheit die Vielheit. Diese Theorie macht das Weltgeschehen verständlich, ohne auf metaphysische Annahmen zurückgreifen zu müssen. Bei den Atomisten sind bereits Ansätze zu Theorien des Stoßes, der Massenanziehung, des Kausalgesetzes, des Prinzips der Erhaltung der Materie und der Erhaltung der Kraft, Wirkung und Gegenwirkung und dem Entropiegesetz zu erkennen. Hier wurde insbesondere die wissenschaftliche Methode des Modells begründet. Weitere Vertreter der Atomistik waren Nessas, Metrodoros von Chios, Diogenes von Smyrna, Anaxarch, Hekataios von Abdera, Apollodoros von Kyzikos, Nausiphanes von Teos, Diotimos, Bion von Abdera, Bolos von Mendes. Die Grundgedanken der Atomisten sind von Platon und Epikur[16] aufgenommen worden.

Sophisten

Hauptartikel: Sophisten

Die Sophisten sind die letzten Vorsokratiker. Sie sahen als die archē nicht die Umgebung des Menschen, sondern seine Kultur und letztendlich ihn selbst. Sie boten konkrete Konzepte für ein erfolgreiches und gelingendes Leben an, indem sie zeitgemäß praktisches und theoretisches Wissen vermittelten. In ihren eigenen Worten lehrten sie arete. Inhaltlich unterscheiden sich die Lehren der einzelnen Sophisten so stark, dass man von einer einheitlichen Sophistik nicht sprechen kann. Folgendes kann aber über sie als Gemeinsames benannt werden: es waren Fachleute, wandernde Lehrer, also umherziehende Fremde ohne Bürgerrecht, die Wissensvermittlung als Geschäft betrieben. Bei ihnen wird der Mensch als einzelnes Individuum selbst zum Erklärungsprinzip, was sich im Homo-Mensura-Satz des Protagoras ausdrückt. Sie betonen in der Naturrechtslehre den Gegensatz zwischen Natur und Konvention[17] und die Sinne des Einzelnen als Grundlage der Erkenntnis. Obwohl ihre überlieferten Leitsätze oft unbestimmt und vage sind, wirkten sie in Ausübung ihrer Tätigkeit aufklärerisch[18] und entlarvend.[19] Allerdings ging es ihnen im Ergebnis um den Sieg im Wort- und Rechtsstreit, nicht vorrangig um Erkenntnis der Wahrheit. Ein berühmtes Beispiel gibt die Geschichte „Protagoras contra Euathlus“.[20] Ein weiterer Hauptvertreter der Sophisten ist Gorgias, der in einer Schrift zu beweisen sucht, dass nichts existiert, bzw. dass, selbst wenn etwas existierte, es nicht erkennbar wäre, bzw. dass, selbst wenn etwas erkennbar wäre, es einem andern nicht mitgeteilt oder erklärt werden könnte. Bei vielen Sophisten spielte die Bezahlung eine wichtige Rolle.[21] Aufgrund ihrer Wandertätigkeit waren sie Kosmopoliten. Die Sophisten wurden und werden kontrovers bewertet. Die negative Einschätzung geht bis auf Platon,[22] wenn nicht schon auf Sokrates selbst zurück, der ihnen - Platon zufolge - verderbliche Scheinhaftigkeit, Relativismus und Skeptizismus vorwarf. Eine Aufwertung erfuhren sie im 19. Jahrhundert, beispielsweise durch Hegel.[23] Heute hat sich wiederum das Urteil Platons in den Vordergrund geschoben.[24] Als gesichert gilt, dass die Sophisten durch ihre Tätigkeit an der Auflösung der traditionellen Werte der Gesellschaft mitwirkten. Ob es sich um Aufklärer oder käufliche Relativisten handelte, kann nicht entschieden werden. Zu den Sophisten zählen auch Alkidamas und Lykophron.

Rezeption

Die Wirkungsgeschichte der Vorsokratiker ist vielschichtig, wandlungsreich und wenig kontinuierlich.

In der Antike, angefangen bei Platon, respektive Sokrates, über die hellenistischen Schulen bis zum Neuplatonismus und der römischen Zeit, fanden die Vorsokratiker in großem Umfang Beachtung. Nach dem Mittelalter wurden die antiken Texte, die noch bekannt beziehungsweise in Klosterbibliotheken, im arabischen und byzantinischen Kulturkreis bewahrt worden waren, durch Werke von Poggio Bracciolini, Henricus Stephanus, Erasmus von Rotterdam und Johann Albert Fabricius gesammelt. Die erste Vorsokratiker-Ausgabe erscheint 1573.[25] Die Texte der frühen Philosophen wurden in Handbüchern, wie zum Beispiel das von Johann Jakob Brucker[26], schlicht wiederholt, bis mit Friedrich Schleiermacher[27] und Hegel das Studium der Vorsokratiker in der Neuzeit beginnt. Deren Bekanntheit wächst ab dem 18. Jahrhundert stetig und erreicht erstmals mit Friedrich Nietzsche[28] eine Zentralposition. Im 20. Jahrhundert erhält die Rezeption durch die klassische Altertumswissenschaft, insbesondere die Klassische Philologie, durch die religionsgeschichtliche Schule, die Heidegger-Schule und die philosophische Hermeneutik wichtige Impulse.

Die Wahrnehmung der Vorsokratiker ist bis in die Philosophie des 20. Jahrhunderts selektiv und voraussetzungsreich. Sie bieten späteren Philosophen eine Projektionsfläche. Dies gründet darin, dass unter den Vorsokratikern eine Vielzahl von Philosophen zu finden sind, die sehr unterschiedliche und teils gegensätzliche Standpunkte vertreten. Zudem wirkt sich aus, dass ihre originalen Werke nicht oder nur fragmentarisch erhalten sind. Die vorhandenen Textstellen wurden genutzt, um Gedanken zu aktualisieren, Vermittlungen herzustellen oder Alternativen zu entwickeln. Hierbei sind den Vorsokratikern nicht selten Ansichten beigelegt und untergeschoben worden, die von ihnen nicht oder nicht so vertreten wurden. Einige wurden zu zentralen Gestalten gemacht, andere rückten dagegen überhaupt nicht ins Blickfeld. Insgesamt werden die Vorsokratiker heute nicht mehr mit der Intention studiert, bei ihnen den Ursprung der abendländischen Rationalität und Kultur zu entdecken. Denn auch die Vorsokratiker schöpften bereits aus dem Wissen früherer Zeiten, Kulturen und Völker. Dem vereinfachten Schema, das griechische Denken habe sich entfaltet, indem es vom Mythos zum Logos fortschreite,[29] wird heute entgegengehalten, dass bereits der Mythos sich selbst schon als Logos, und der Logos noch als Mythos zeigt. Die Vorsokratiker haben eine komplexe Zwischenstellung. Sie kanalisierten Überkommenes und entwickelten es weiter. Hierbei transportierten sie auch vorhandene metaphysische Ideen und mythisch-religiöse Ansichten. Auf der Grundlage ihrer archē-Forschung entwickelten sie beispielsweise die Begriffe der Welt, des Seins, des Werdens, der Zahl und des Logos.

In der Gegenwart ist die frühe Philosophie der Griechen so aktuell wie kaum je zuvor. Neben den bereits ausgeführten Grundlegungen der Vorsokratiker für späteres Denken sind zum Beispiel Xenophanes' Kritik der anthropomorphen Gottesvorstellung in der Religionskritik, die Lehre von Liebe und Hass des Empedokles in der Psychoanalyse und die zenonschen Paradoxien in Physik, Mathematik und Philosophie präsent. Die Gedanken der Vorsokratiker wirken über Dichter und Schriftsteller wie Friedrich Hölderlin[30] und Samuel Beckett, Gesellschaftskritiker wie Karl Marx[31] und Philosophen wie Karl Popper[32] in alle Lebensbereiche des Menschen. So unterschiedliche Denker wie Martin Heidegger, Friedrich Nietzsche oder der Astronom Carl Sagan bezogen sich positiv auf die Vorsokratiker in bewusster kritischer Abgrenzung von den nachsokratischen Philosophen Platon und Aristoteles.

Nietzsche und Heidegger sahen im vorsokratischen Denken eine nicht allein durch die Vernunft geleitete Welterfahrung, die von der abendländischen Metaphysik seit Platon verdrängt worden war.[33] Diese Auffassung war für die weitere Rezeption der Vorsokratiker von großer Bedeutung. Nietzsche bedient sich besonders bei Heraklits Lehre vom Werden, die er, in einer von ihm radikalisierten Form, für seine Kritik an einer Unterteilung zwischen physischer und metaphysischer Welt heranzieht (Die Philosophie im tragischen Zeitalter, Abschnitt 5). Martin Heidegger baut auf Nietzsches Betrachtungen auf und deutet das vorsokratische Denken als Vorläufer seiner eigenen Philosophie hinsichtlich folgender Merkmale, die nach Heidegger von der traditionellen Metaphysik vernachlässigt wurden, bei den Vorsokratikern jedoch wesentlich waren: die Betrachtung des Seins im Unterschied zum Seienden, welche Voraussetzung von Heideggers Ontologischer Differenz ist, die Zeitlichkeit des Seins, die Existenzanalyse unter dem Aspekt des Todes und besonders die frühgriechische Auffassung von Wahrheit als Unverborgenheit. Nietzsches und Heideggers Rückgriff auf die Vorsokratiker hat deren Anerkennung im Allgemeinen und als vor-metaphysische Philosophen entscheidend gefördert, auch wenn diese Aufwertung seitens jener meist in der Nutzbarmachung oder sogar Vereinnahmung für ihr eigenes Denken bestand.[34]

Siehe auch

Quellensammlungen

Zitiert werden die Vorsokratiker üblicherweise nach der 1935 erschienenen 5. Auflage der Ausgabe von Diels und Kranz.

  • Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903 (teilweise mit deutscher Übersetzung; zahlreiche Neuauflagen), Digitalisate:
  • Franz Josef Weber (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker, Schöningh, Paderborn 1962 (einige Neuauflagen)
Mit deutscher Übersetzung
  • Wilhelm Nestle (Hrsg.): Die Vorsokratiker in Auswahl übersetzt und herausgegeben, Diederichs, Jena 1908 (einige Neuauflagen), (Digitalisat) der 2. Auflage, 1922
  • Wilhelm Capelle (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Fragmente und Quellenberichte, Kröner, Stuttgart 1935 (zahlreiche Neuauflagen)
  • Jaap Mansfeld (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Reclam, Stuttgart 1983 (zahlreiche Neuauflagen)
    • Band 1: Milesier. Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides
    • Band 2: Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit
  • Geoffrey Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield (Hrsg.): Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, Metzler, Stuttgart 1994 (deutsche Übersetzung von Karlheinz Hülser; Neuauflage 2001)
  • Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Vorsokratiker, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007–2010
    • Band 1: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und der Pythagoreer, Xenophanes und Heraklit, 2007
    • Band 2: Parmenides, Zenon und Empedokles, 2009
    • Band 3: Anaxagoras, Melissos, Diogenes und die Atomisten, 2010
Arabische Quellen
  • Hans Daiber (Hrsg.): Aetius Arabus. Die Vorsokratiker in arabischer Überlieferung, Harrassowitz, Wiesbaden 1980

Literatur

  • Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. Beck, München 1994.
  • Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 1). Teilbände 1 und 2, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8.
  • Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Beck, München 1955.
  • Hans-Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie. Reclam, Stuttgart 1996.
  • Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides. Schwabe, Basel und Stuttgart 1968.
  • Wolf-Dieter Gudopp-von Behm: Thales und die Folgen. Vom Werden des philosophischen Gedankens. Anaximander und Anaximenes, Xenophanes, Parmenides und Heraklit.. Königshausen & Neumann, Würzburg 2015
  • Uvo Hölscher: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1968.
  • Anthony A. Long (Hrsg.): Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten. Metzler, Stuttgart 2001.
  • Ralf Ludwig: Die Vorsokratiker für Anfänger. Eine Lese-Einführung. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2002.
  • Hans Georg von Manz: Vorsokratiker. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1459–1461.
  • Christof Rapp: Vorsokratiker. Beck, München 2007.
  • Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Suhrkamp, Frankfurt 1978.
  • Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik. Königshausen & Neumann, Würzburg 1992.
  • Gerhard Stapelfeldt: Mythos und Logos: Antike Philosophie von Homer bis Sokrates. Kovac, Hamburg 2007.
  • Christopher Charles Whiston Taylor (Hrsg.): From the Beginning to Plato. Routledge History of Philosophy Bd. 1, London: Routledge, 1997.
Bibliographien
  • Léonce Paquet, M. Roussel, Y. Lafrance: Les Présocratiques: Bibliographie analytique (1879–1980), 2 Bände, Bellarmin, Montreal 1988–1989.
  • Luis E. Navia: The presocratic philosophers. An annotated bibliography, Garland, New York 1993.

Weblinks

Einzelanchweise

  1. Aristoteles, Über die Seele 426a20.
  2. Aristoteles, Metaphysik 1000a9; 986b14; 1006a2f.; 1071b27; 1075b26f.
  3. Erstmals verwendet bei Johann August Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Halle 1788, S. 47 (Scan, abgerufen am 25. Juni 2017).
  4. Cicero, Tusculanae disputationes V 10.
  5. Eine Übersichtsdarstellung der Begriffsgeschichte bietet Helmut Hühn: Vorsokratisch; Vorsokratiker. In: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2, Basel 2001, Sp. 1222–1226. Vgl. dazu Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Band 1, Düsseldorf 2007, S. 373–383.
  6. Hermann Diels, Walther Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 3, Berlin 1960, S. 491 ff.
  7. Fragmente der Vorsokratiker, Snell 107, Diogenes Laertios 1,87 und 88. Jochen Althoff, Dieter Zeller: Die Worte der sieben Weisen, Darmstadt 2006.
  8. Aristoteles, Metaphysik XIII 6 1080b 17.
  9. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen VIII 79.
  10. Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 26.
  11. Nikolaus Kopernikus: De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543, hier: Widmungsbrief (Vorrede) an Papst Paul III.
  12. 12,0 12,1 Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 29.
  13. Hans-Georg Gadamer: Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 61.
  14. Geyer, S. 124.
  15. Donald Kagan: The Peloponnesian War. Athens and Sparta in Savage Conflict 431-404 BC, HarperCollinsPublishers, 2003, S. 12.
  16. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin 1972, S. 231
  17. Wiebrecht Ries: Die Philosophie der Antike, Darmstadt 2005, S. 47.
  18. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1975, S. 261.
  19. Volker Steenblock: Kleine Philosophiegeschichte, Stuttgart 2002, S. 36.
  20. Wolfgang Lenzen: Protagoras contra Euathlus (PDF-Datei; 32 kB).
  21. Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen IX 52; Platon, Menon 91d.
  22. Platon, Menon 91c; Sophistes 232c.
  23. G.W.F. Hegel: Die Sophisten. In: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Hamburg 1989, S. 110–127.
  24. Ernst R. Sandvoss: Geschichte der Philosophie, München 2001, S. 289.
  25. Henri Estienne, Joseph Justus Scaliger: Poesis philosophica, Genf 1573.
  26. Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae, Leipzig 1742–1744.
  27. Kurt Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, S. 188.
  28. Friedrich Nietzsche: Die vorplatonische Philosophie. In: Nietzsche: Werke, Berlin 1995, S. 207–362.
  29. Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1975.
  30. Helmut Hühn: Mnemosyne: Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart 1997, S. 122.
  31. Karl Marx: Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie. In: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband I, S. 257–373.
  32. Karl Popper: Back to the Pre-Socratics (1958). In: Popper: Conjectures and Refutations, 1972, S. 136–165.
  33. Christof Rapp: Vorsokratiker, München 2007, S. 227.
  34. Christof Rapp: Vorsokratiker, München 2007, S. 230.
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